Es fragt sich, ob es ratsam ist, im Deutschen einen kleinen Nachruf, eine bescheidenes Gedächtnisblatt für einen Autor zu bringen, von dem nur eines mit Sicherheit zu sagen ist: nämlich daß jeder einzelne leser, der sich hierhin verirrt, mit diesem Namen absolut nichts verbindet. Anders als bei Musikstars, die an dieser Stelle gewürdigt wurden (in der letzten Zeit etwa Anne Vanderlove oder Yao Li) läßt sich eine solche terra incognita, ein solcher unausgefüllter Fleck auf der eigenen inneren Landkarte, auch nicht durch ein paar Einspielungen von Liedern wettmachen. Der bloße Hinweis auf das Werk reicht nicht, da es hiesigen Lesern unzugänglich bleiben wird und die Resonanzen, die es bei der Leserschaft eines solchen Autors hervorrufen würde, schlicht nicht gegeben sind.
Auf der anderen Seite liegt auf der anderen Waagschale eine gewisse Chronistenpflicht, die verneint: gerade eine solche Obskurität könne ja einen wenn auch bescheidenen Hinweis rechtfertigen - und die Tatsache, daß Genreliteratur - und hier die Science-Fiction-Literatur, zu deren großen japanischen Vertretern Mayumura, der vor einer Woche, am 3. November 2019, im Alter von 85 Jahren in Osaka gestorben ist ("um 4:05 Uhr," wie die japanischen Medien präzisierten, in einer jener Volten, deren Details dem westlichen Betrachter exotisch anmuten), zählte - zumal im deutschen Sprachbereich nicht aus Eigenem lebt, sondern zum weit überwiegenden Teil aus Importen, aus Übersetzungen besteht. Wohl nirgendwo sonst in anderen Idiomen ist dieser Literaturzweig hier als Teil "anderer" Literaturen anzusehen: zum überwiegenden Teil natürlich der englisch(sprachigen), aber auch der übrigen Welt. Zumindest zur Zeit ihrer größten Blüte - will sagen: in den rund 30 Jahren vor der Kippmarke des Jahres 2000 (die, das wäre ein andermal herauszuarbeiten, zum einen seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts die "nahe Zukunft" stets symbolisch markierte, zum anderen aber mit dem Überschreiten recht gut ein Ende des Genres einleitete, jedenfalls, was die literarische Innovation, die Generierung neuer, sofort als "Klassiker" registrierter Texte, dem Wegfall ihrer Autoren als von den Medien angelegentlich befragte Auguren, dem Wegfall des über viele Jahrzehnte als Ideenmarkt und Spielwiese dem Genre als Rückgrat dienenden Magazinmarkts - und nicht zuletzt dem Ausbleiben neuer zu Ikonen werdender Fernsehserien, die sich ins kulturelle Gedächtnis einprägen und als solche zu allgemeinen Referenzen werden) - zwischen 1970 und dem Ende der neunziger Jahre also konnte man, wenn man die Entwicklung des Genres nicht nur angelegentlich aus dem Augenwinkel verfolgte, auch als monoglotter Leser einen recht guten Eindruck über die wichtigeren Vertreter in anderen Ländern und ihre Werke erlangen - mehr als in anderen Ländern, nebenbei. Auch aus anderen Sprachen als dem Englischen gab es Autoren, die allgemein geläufig waren: aus Rußland die Strugatzki-Brüder oder Dmitri Bilenkin, aus Frankreich Robert Merle, aus dem Polnischen natürlich Stanislaw Lem. Japan, als einziges asiatisches Land auf dieser "mentalen Landkarte" verzeichnet (als bis zu Anfang der neunziger Jahre einzig als solche wahrgenommene High-Tech-Nation, eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausbildung dieses Literaturzweigs, der ohne die Extrapolation zukünftiger Übertechnik und die damit imaginierte Erschließung von Operationsgebieten jenseits des Irdischen, kaum denkbar ist) war kaum präsent. Dennoch waren Titel wie Kobo Abes Die vierte Zwischeneiszeit (im japanischen Original 1959 erschienen) oder Sakyu Komatsus Wenn Japan versinkt (zuerst 1973 erschienen) "ein Begriff" - wenn auch zumeist, wie bei einem Genre, das Abertausende nur kurz aufscheinender Titel umfaßt und dessen Kanonbildung auf die Lesergewohnheiten keinen Einfluß hat (wie Historiker des Genres - übrigens auch im Bereich des Krimis - immer wieder frustiert feststellen müssen) kaum wirklich lesend rezipiert. Ein Überblick über den "Stand der Literatur" ist, bzw. war damit natürlich nicht gegeben, nicht einmal, was den Stellenwert solcher Texte im Werk der jeweiligen Autoren anbelangt (Abes Roman, sein Erstling, bildet in seinem Werk eine Ausnahme, einen Solitär; während Komatsus 24 Romane - davon ein halbes Dutzend Jugendromane - zum Kernbestand des Textkorpus der japanischen SF zählen).
Mayumuras Werke hingegen sind nie über den japanischen Sprachbereich hinausgelangt. Ins Englische sind lediglich zwei seiner kurzen Erzählungen übersetzt worden (in den beiden einzigen Anthologien, die bislang als Musterkoffer in Sachen "science fiction from Japan" erschienen sind, 1989 und 2007), zwei Erzählungen haben es ins Russische geschafft, eine ins Rumänische und zwei ins Ungarische. Von seinem Hauptwerk, der zehnteiligen Buchserie 司政官 (Shiseikan, "Die Verwalter") ist nur der gleichbetitelte erste Band, 1975 bei Hayakawa in Tokio (dem wichtigsten Verlag japanischer SF) erschienen, ins Englische übersetzt worden: allerdings ebenfalls durch einen japanischen Verlag (Kurodahan, 2004) in einem offensichtlichen Versuch, für diesen Autor mangels von außen kommendem Interesse, einen neuen Markt zu erschließen. Eine Ausnahme bildet (soweit man das bei solch "ephemerer Eintagspublizistik" so nennen möchte), nach dem Obigen nicht überraschend, der deutsche Sprachbereich. 1983 brachte der Heyne-Verlag in München im Rahmen seiner damals noch führenden (und durchaus auf "exotische Titel" abhebenden) SF-Reihe einen kleinen Taschenbuchband unter der Nummer 3984 mit 16 kurzen Erzählungen in der Übersetzung von Michael Morgental heraus: Der lange Weg zurück zur Erde.
Mayumura hat als Autor eigentlich drei Karrieren gehabt. Wie so viele Autoren im Genre war als als Außenseiter zum literarischen Betrieb gekommen - oder, treffender gesat: die meiste Zeit seines Lebens nicht Teil davon. Ab 1957, nach dem Abschluß des Ingenieursstudiums an der Universität von Osaka, arbeitete er als Verfahrenstechniker für eine große Keramikfirma und begann ab 1960 Erzählungen bei Zeitschriften einzureichen, bis ihm der Erfolg seiner ersten Romane (der erste war 1963 燃える傾斜/Moeru keisha/Der brennende Abhang im Verlag Totoshobo) erlaubte, den zutiefst ungeliebten Job als Salaryman (*) an den Nagel zu hängen und sich ganz dem Schreiben zu widmen.
(* サラリーマン, sarariman, ist ein japanischer Scheinanglizismus, aus den englischen Sprachkorpuskeln zusammen gesetzt, Diese Wasei-eigo bilden, wie bei uns, den größten Teil dieses Vokabulars, den Garaigo; aber manche kommen auch aus dem Deutschen, etwa アルバイト, arubeito/Arbeit oder エネルギー/Enerugii/Energie - Liebhaber ethnischer Klischees dürfen sich bestätigt fühlen - oder auch, kurioserweise オナニー/onani, dessen Übersetzung ich mir erspare).
Sein "Durchbruch" als Autor gelang ihm 1968 mit dem Roman Expo '87 (Hayakawa); in dem die Themen und der Stil, der diese Hauptschiene seines Oeuvres charakterisiert, voll zur Geltung bringt: der Fokus auf die Kabalen und Intrigen von Verwaltungen, Institutionen, Bürokratien, die Zukunft nicht als Parade von technischen Wunderwerken, sondern als Gelegenheit zum maximalen Ausbau von Filz, Korruption, und den Bemühungen der unteren Riegen, die zum bedeutungslosen Rädchen degradiert sind, doch das gesteckte Ziel erreichen zu können. Im englischen Beritt gab es ab den 40er und 50er Jahren durchaus Vergleichbares, etwa in den Büchern von Eric Frank Russell oder Keith Laumer (wenngleich hier der Fokus mehr auf den vergleichbaren Erscheinungen beim Militär oder in der "interstellaren Diplomatie" lag); für Japan, jener sprichwörtlich "verwalteten Nation," war das neu. Zwei Jahre vor der de facto in Osaka stattfindenden Weltausstellung von 1970 mit ihrem dezidiert futuristischen Gepräge (manche älteren Beobachter werden sich noch an dort vorgestellte "Menschenwaschmaschine" erinnern) extrapolierte Mayumura den um eine Generation in die Zukunft verlegten Konkurrenzkampf um die Ausrichtung, die Auftragsvergabe eines solchen Riesenprojekts als Mafiathriller zwischen Yakuza, korrupter Politik, und den Zaibatsu. Mayumuras amerikanischer Kollege Robert Silverberg, der das gleiche Thema im selben Jahr, 1968, in seinem Roman World's Fair 1992 anhandelte, blieb da in wesentlich zivilisierterem Rahmen.
(Kleine pedantische Fußnote: Silverbergs Projekt, das im Interesse der Internationalität, ein: Interplanetarität, auf einer Raumstation stattfindet und zudem jüngst endeckte Marsbewohner akkomodieren muß, knüpft eng an Robert A. Heinleins frühe Erzählung "We Also Walk Dogs -" von 1940 an.)
Die zweite Schiene, auf der Mayumura als Autor reüssierte, begann 1967, als er an das Beispiel von Yasutaka Tsutsui anknüpfte (in dessen Magazin NULL er 1960 seine ersten Erzählungen publiziert hatte). Dessen Jugendroman 時をかける少女, Toki o Kakeru Shōjo/"Das Mädchen, das aus der Zeit fiel" begann eine kleine Mode von "Teenagerbüchern," mit denen diverse Verleger die jugendliche Begeisterung für solche eskapistischen Lesestoffe mit didaktischem Impetus zu koppeln gedachten (**). Im Mileu der japanischen Highschools widerfahren den jugendlichen Protagonisten Abenteuer, entweder durch die Begegnung mit Neulingen, die sich als Außerirdische, Flüchtlinge aus parallelen Welten oder Roboter entpuppen; oder aber die Protagonisten finden sich einzeln oder als Gruppe durch einen Zeitriß in einem historischen Milieu wieder, dessen akribisch geschilderte Details, ganz zufällig, sich für die anstehenden Abschlußprüfungen als nicht ganz unwichtig herausstellen. In まぼろしのペンフレンド/Maboroshi no pen furendu, "Die seltsame Brieffreundin" (wasei-engu again!) von 1970 stellt sich die Brieffreundin, die dem jugendlichen Protagonisten als Kontakt vermittelt wird (noch eine ausgestorbene Kulturtradition, die Älteren auch bei uns nicht ganz ungeläufig sein dürfte), und die zu klug und zu einnehmend ist, um wahr zu sein, als Vorhut einer Armee außerirdischer Roboter heraus, deren Endziel es ist, die umgarnten und ausspionierten Schüler durch Cyber-Duplikate zu ersetzen (Kennern des Genres wird hier solche verräterische Korrespondenz auch als Motif von A. E. van Vogts Story "Dear Pen Friend" von 1946 in den Sinn kommen; die Ersetzung durch Duplikate, die SF-Variante des Wechselbalgs, ist natürlich aus The Stepford Wives oder Invasion of the Body Snatchers geläufig); in 地獄の才能, Jigoku no saino/"Die höllischen Begabten", entpuppen sich die neuen Mitschüler, deren Clique nach und nach ein drakonisches Regiment ins Werk setzt, als Abgesandte aus der Zukunft, die dem Totalitarismus ihrer Zeit den Weg bereiten sollen. In 思いあがりの夏 (1977; Omoi garu no natsu, "Ein erinnernswerter Sommer") katapultiert mittels eines Erdrutsches eine ganze Busladung von Schülern in die Zeit des ausgehenden Tokugawa-Shogunats. Diese Bücher sind zum Teil mehrfach fürs Fernsehen inszeniert worden.
(** Auch dieser pädagogische Impetus ist dem Genre alles andere als neu. Vielmehr steht er am Anfang. Die 80 Bände von Jules Vernes Voyages Extraordinaires, angefangen mit Cinq semaines en ballon von 1863 über die Mondfahrt von De la terra à la lune von 1865 samt "eigentlicher Mondfahrt" von 1870, über die Meereserkundung Kaiptän Nemos in Vingt mille lieus sous les mers bis zu den spätesten Bänden von 1905, verdanken sich genau diesem Impuls. Nachdem die französische Regierung Anfang der 1860er feststellen mußte, daß trotz der unter Bonaparte eingeführten Schulpflicht bis zum vierzehnten Lebensjahr gut die Hälfte der französischen Schüler nach ihrem Abgang kaum Wissen in Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften vorweisen konnten - ein Unding für eine Grande Nation, die auf Ingenieure und Wissenschaftler und Soldaten, die zu mehr taugten als reinem Kanonenfutter, angewiesen war - erbot sich Vernes Pariser Verleger Julius Hetzel, diesen Wissenslücken mit entsprechender Abenteuerlektüre aufzuhelfen, in Bänden, deren aufwendige wie ansprechende Gestaltung sie zu idealen Weihnachtspräsenten machen würde. Wer sich also bei den ungekürzten Ausgaben von Vernes Werken gewundert hat, warum sich darin enzyklopädisch das Wissen der Zeit von Geographie, Paläontologie, Astronomie gebündelt findet und warum die Erläuterung der technischen Ausstattungen von der Nautilus bis zur Propellerinsel so breiten Raum einnehmen, braucht nicht länger zu rätseln.)
Die neunziger Jahre dürfen als Kulmination of Mayumuras Schriftstellerkarriere gelten: Neben dem fünfbändigen Romanzyklus, der die Shiseikan-Serie zum Abschluß brachte, veröffentlichte er über sieben Jahre hindurch in der historischen Populärzeitschrift 歴史読本 (Rekishi dokuhon, etwa "Historische Lektüre") von 1990 bis 1997 den ellenlangen Roman カルタゴの運命/Kartago no unmei (1998 als Buch bei Shin Jinbutsu Oraisha veröffentlicht). Das Schicksal Karthagos schildert die Abenteuer einer Gruppe japanischer Protagonisten, die es - "let's do the time warp again!" - im zweiten vorchristlichen Jahrhundert in Nordafrika wiederfinden und schließlich zur Ursache und zu Teilnehmern an Hannibals Krieg gegen Rom werden. Mayumura entwirft Karthago hier ganz bewußt als Parallele zum Japan des 20. Jahrhunderts, während die römische Republik für das "Rom der Neuzeit", nämlich die USA einsteht.
Die dritte Phase des Autors Mayumura begann, als er sich schon anschickte, seine Schriftstellerlaufbahn zu beenden. Nach dem Abschluß der beiden Großprojekte fühlte er sich "ausgeschrieben" und gab sogar seine Mitgliedschaft im japanischen Schriftstellerverband auf. 1997 wurde bei seiner Frau dann unheilbarer Unterleibskrebs diagnostiziert und ihr noch ein Jahr Lebenserwartung vorausgesagt. Mayumura entschloß sich, so gut es ging, mit den Mitteln, die einem Autor zur Verfügung stehen, dagegen anzuschreiben. Als Begründung, als Inspiration führte er den Hinweis an, daß Lachen "das Immunsystem anregen" und, per Implikation, die Körperabwehr gegen die Krankheit stärken sollte. Er fing an, jeden Tag, jeden einzelnen Tag, eine Erzählung zu verfassen, mit einem Umfang von höchstens drei Seiten - ein Format, das in der japanischen Literatur seit Yasunari Kawabata als "Handtellergeschichten" (掌の小説/tenohira no shōsetsu) geläufig ist: Erzählungen, die auf einer Handfläche Platz finden, um seine Frau (und nicht zuletzt sich) von dem unausweichlichen Schicksal abzulenken. Als sie fünf Jahre später, 2002, starb, hatte er 1778 Erzählungen mit einem Umfang von mehr als zehntausend Seiten geschrieben. 2004 erschien eine kleine Auswahl davon in Buchform unter dem Titel 妻に捧げた1778話/Tsuma no sasageta 1778-wa ("1778 Erzählungen für meine Frau"). Das Buch wurde 2010 von Hamoru Hoshi verfilmt - ein angesichts des Sujets nicht überraschend tränenlastiges Drama mit hohem Taschentuchverbrauch, aber gleichzeitig über weite Strecken fast surrealistisch anmutend, wenn die Erzählungen über Roboter und ferne Zukunftswelten in Szene gesetzt werden, mit denen der grimme Schnitter auf Abstand - oder jedenfalls aus dem Blick verbannt werden soll. Auch ein solches poetisches Verfahren ist durchaus geläufig - Wolfgang Herrndorfs Netztagebuch "Arbeit und Struktur" darf durchaus als analoges Projekt gewertet werden. Mit diesem Werk wurde ein Publikum auf Mayumura aufmerksam, das mit den technizistischen Imagination der SF nichts zu schaffen hatte - vor allem Leserinnen zwischen 40 und 60, wie die Auswertungen der Besucherzahlen in den Kinos ergaben; dem Publikum, aus dem sich Lesekreise und nicht zuletzt, in Japan wie in der LAten Welt, das Gros der Buchkäufer(innen) zusammensetzt.
Der Trailer des Films findet sich hier:
Und den Film selbst kann man hier in voller Länge sehen (freilich nur auf Japanisch; er ist nie im Auslang gelaufen und synchronisiert worden - dafür hat die her eingebettete Version chinesisiche Untertitel...):
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.