30. Oktober 2016

Justitia. Schland im Herbst 2016

In dem diesem Blog beigeordneten Diskussionsforum, Zettels kleinem Zimmer, findet sich unter der Hausordnung der Forumsregeln an erster Stelle der Satz  "Beiträge, die persönliche Angriffe gegen andere Poster, Unhöflichkeiten oder vulgäre Ausdrücke enthalten, sind nicht erlaubt; ebensowenig Beiträge mit rassistischem, fremdenfeindlichem oder obszönem Inhalt und Äußerungen gegen den demokratischen Rechtsstaat." Der Endunterzeichner möchte hiermit ausdrücklich klarstellen, daß es sich beim Folgendem nicht um eine intendierte Verletzung der letzten Regel handeln soll, sondern nur um den Hinweis auf zwei konträr gelagerte Fälle, über deren unterschiedliche Gewichtung von Seiten der Jurisprudenz nachzudenken sich lohnen könnte. Auch aus diesem Grund wurde, bis auf einen einzigen Absatz, auf eigene Kommentierung verzichtet. Bei den folgenden Passagen handelt es sich ausschließlich um Zitate aus der Berichterstattung der Onlineportale diverser Zeitungen, die hier - ausnahmsweise - in längerer Form zum Zweck der Dokumentation des Facetten beider Fälle wiedergegeben sein sollen..

Daß der Rechtsstaat in diesem Land, bei allen Friktionen und scheinbarer Schieflage, durchaus funktioniert, ergibt sich aus der Tatsache, daß im ersten Fall das erstinstanzlich ergangene Urteil  durch die übergeordnete Instanz aufgehoben wurde; im zweiten die Anfechtung des Urteils angekündigt worden ist. Es scheint dem Verfasser allerdings wünschenswert, wenn es einer solchen nachgeordneten Klärung der Rechtsfindung nicht erst bedürfte.

Fall A.

Im Streit um ausstehende Rundfunkbeiträge hat das Amt Beetzsee einer alleinerziehenden Mutter aus Brandenburg das Konto gepfändet. „Wir haben diese Maßnahme eingeleitet, weil Steuer- und Abgabengerechtigkeit ein hohes Gut ist“, sagte der zuständige Amtsdirektor. Nach Angaben der 43 Jahre alten Frau geht es um eine Summe von 309,26 Euro.
Von dem nunmehr gepfändeten Konto habe das Amt bislang das Geld für den Hort und das Mittagessen ihrer Tochter abgebucht. Das Amtsgericht Brandenburg/Havel hatte im August schon auf Betreiben des Amtes Beetzsee einen Haftbefehl über sechs Monate Erzwingungshaft gegen die Beitragsschuldnerin erlassen. So sollte sie gezwungen werden, eine Erklärung über ihr Vermögen abzugeben.
Dagegen hatte die Frau mehrfach Beschwerde erhoben, die beim Landgericht Potsdam zur Entscheidung liegt. Sie habe nur ein geringes Einkommen und nutze weder Radio noch Fernsehen, sagte die Dreiundvierzigjährige.Der Rundfunk Berlin-Brandenburg hatte den Vollstreckungstitel gegen sie erwirkt und das Amt Beetzsee mit der Vollstreckung beauftragt. „Wie dieser Beitrag eingetrieben wird, darauf haben wir keinen Einfluss“, sagte ein RBB-Sprecher. Man gehe zurzeit davon aus, dass der Haftbefehl in diesem Fall nicht zur Anwendung komme. „Selbstverständlich liegt es nicht im Interesse des RBB, dass jemand im Zusammenhang mit Beitragsrückständen inhaftiert wird,“ sagte der Sendersprecher. Eine Frau aus dem thüringischen Ort Geisa hatte in einem ähnlichen Fall von Februar bis April dieses Jahres im Gefängnis gesessen. Der Mitteldeutsche Rundfunk hatte schließlich den Antrag auf Erlass des Haftbefehls zurückgezogen, mit dem sie zur Vermögensauskunft gezwungen werden sollte.
(FAZ, 21.10.2016)

(Kommentar: Daß bei Zahlungsrückständen das Mittel der Pfändung zur Anwendung kommt, ist für die Betreffenden unangenehm, aber unangefochtene, unstrittige Rechtspraxis. Daß aber gegen eine alleinerziehende Mutter aufgrund von Schulden von 300 Euro eine halbjährige Inhaftnahme gerichtlich angeordnet wird, dürfte doch ungewöhnlich sein. Die Aussichten für den weiteren Lebensgang der Frau, die eine solche Inhaftierung auf jeder Bewerbung, mit der sie sich in Zukunft auf eine freie Stelle bewirbt, zwingend anführen muß, bei Strafe der fristlosen Kündigung, hat das Gericht sich zu interessieren. Bei einer Justiz, welche die Vokabeln "Rehabilitition" und "positive Sozialprognose" allerdings in scheinbar inflationärer Weise zur Absehung vom Ausschöpfen des Rechtsrahmens zur Anwendung bringt, bleibt, wie man sagt, "ein Geschmäckle".)

Fall B.

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Was die Anklage schildert, zeugt von einer kaum vorstellbaren Verrohung der jungen Angeklagten. Demnach lag die 14-Jährige, „an Alkohol nicht gewöhnt“, schwer betrunken auf einem Sofa in einer Harburger Wohnung. Die Angeklagten sollen sich spontan entschlossen haben, das wehrlose Mädchen zu missbrauchen. Bosko P. und Alexander K. (16) sollen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt haben, die beiden anderen Flaschen und eine Taschenlampe in das Opfer eingeführt haben. Das Mädchen soll zeitweise geschrien und sich übergeben haben.
Anschließend sollen sie das geschändete Mädchen zur Wohnungstür getragen haben. Bosko P. soll den Körper auf ein Laken gelegt und in den Hof geschleift haben. Hier ließen sie das Opfer liegen, nahezu unbekleidet bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Dann, so die Anklage, „verabschiedeten sie sich mit ‚Hau rein‘ und verließen den Tatort.“ Das Ablegen des Körpers im Hof wertet die Staatsanwaltschaft als gefährliche Körperverletzung. Die Anklage geht davon aus, dass den Jugendlichen die Gefährlichkeit zwar bewusst war, sie aber ernsthaft darauf vertrauten, dass schon jemand  aus den umliegenden Wohnungen dem Mädchen helfen werde. Sonst wäre die Tat ein versuchter Totschlag.
(Hamburger Morgenpost, 25.08.2016)
Nach der brutalen Vergewaltigung einer 14-Jährigen hat das Landgericht Hamburg die fünf Täter am Donnerstag zu Haftstrafen verurteilt - fast alle auf Bewährung. Ein 21 Jahre alter Haupttäter erhielt vier Jahre Freiheitsstrafe, drei Mittäter im Alter von 14, 16 und 17 Jahren Jugendstrafen auf Bewährung. Eine 15-Jährige bekam ein Jahr auf Bewährung, weil sie das Verbrechen mit ihrem Handy gefilmt hatte. (NDR, 20.10.2016)

Über das Betragen der Angeklagten erfährt man mehr aus dem oben verlinkten Bericht der Hamburger Morgenpost:

Die Arme in Siegerpose hochgereckt, das Grinsen breit, der Gang betont machomäßig. Egal ob aus pubertärer Unsicherheit oder aus Überzeugung – der Auftritt der vier jungen Männer, die aus der U-Haft in den Gerichtssaal treten, ist schwer erträglich. Der älteste, Bosko P. ist 21 Jahre alt. Als er den Saal betritt, winken die Mitglieder seiner Großfamilie im Zuhörerraum, werfen Küsschen. Seine drei Mitangeklagten sind zwischen 14 und 16 Jahre alt.

Zur Urteilsbegründung zitiert das Hamburger Abendblatt der vorsitzenden Richter:

Die Jugendlichen hätten während der Verhandlung, zu der die Öffentlichkeit nicht zugelassen war, von „echter Reue und Scham getragene Geständnisse“ abgelegt. „Wir haben den Eindruck gewonnen, dass sie schamvoll und irritiert vor ihrem Handeln stehen“, sagt Halbach.

Wie es scheint, finden echte Reue und Scham in unterschiedlichen Kulturkreisen einen mitunter etwas verschiedenen Ausdruck.

Der Feierstimmung im Anschluss an die Urteilsbegründung tut das am Donnerstag keinen Abbruch: Bosko P. macht im Gerichtssaal erst feixend eine Art Stoßbewegung mit den Hüften, um sich dann für die geschmacklose Geste mit erhobenem Zeigefinger zu tadeln. Die Zuschauer, Angehörige einer serbischen Großfamilie, quittieren das Strafmaß mit zustimmendem Gegröle. Die Mütter der jugendlichen Täter brechen vor Freude in Tränen aus, Freunde und Angehörige der Angeklagten strahlen. (Hamburger Abendblatt, 20.10.2016)
Unter der Überschrift "Vergewaltiger sollen erneut vor Gericht – doch Behörden wissen nicht, wo sie sind" meldet FOCUS.online heute:

Nach dem milden Urteil im Prozess um eine Gruppenvergewaltigung hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Doch nun stellt sich heraus: Die Behörden wissen offenbar nicht einmal, wo sich die jugendlichen Täter, die mit Bewähungsstrafen davongekommen waren, aufhalten. Die Familie eines Täters könnte das Land bereits verlassen haben. (...)
Wie die „Bild am Sonntag“ berichtet, sollen die Behörden nicht wissen, wo sich die Täter derzeit aufhalten. Das Blatt zitiert Gerichtssprecher Kai Wantzen: „Da bei den jugendlichen Tätern das Gericht nicht zu der Auffassung kam, dass akute Fluchtgefahr besteht, wurde die Untersuchungshaft aufgehoben.“
Das Blatt fragte beim Verwalter des Hauses nach, in dem die Familie von einem der Täter wohnt: der 16-jährige Alexander K. Der Mann sagte der „Bild“, die Familie sei längst ausgezogen. „Wir haben auch keine Nachsendeadresse.“ Über drei Ecken habe er gehört, dass die Familie nach Serbien gegangen sein soll.
 (FOCUS, 30.10.2016)
Schland, im Herbst 2016.

Ulrich Elkmann

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