1. Juli 2016

Das zweite Elfmeterschießen um die Hofburg

Die vorübergehende Atempause, von der andernorts in diesem Blog in Bezug auf die bewegten politischen Gewässer Österreichs die Rede war, hat sich als sehr kurz erwiesen: Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat heute sein Erkenntnis verkündet, dem zufolge die Stichwahl zum österreichischen Bundespräsidenten im gesamten Bundesgebiet wiederholt werden muss.

Im Rechtsinformationssystem des Bundes ist das Erkenntnis WI 6/2016 noch nicht veröffentlicht worden. Eine ausführliche Pressemitteilung des VfGH liegt jedoch bereits vor.

Wenig überraschend stellt der Gerichtshof das Institut der Briefwahl als solches nicht in Frage. Das mag insoweit logisch erscheinen, als Art 26 Abs 6 und Art 60 Abs 1 Satz 2 Bundes-Verfassungsgesetz - also die betreffenden konstitutionellen Normen selbst - die Briefwahl für zulässig erklären. Wenn allerdings ein Grundprinzip der Bundesverfassung verletzt wird (je nach Ansicht gibt es davon vier bis sechs, nämlich das republikanische, das demokratische, das bundesstaatliche und das rechtsstaatliche "Baugesetz"; Letzteres umfasst nach einer Lehrmeinung auch das liberale und das gewaltenteilende Grundprinzip), so kann auch Verfassungsrecht verfassungswidrig sein.

Bei der Bundespräsidentenstichwahl kam es laut dem festgestellten Sachverhalt offenbar zu Unregelmäßigkeiten, die so viele Wahlzettel betroffen haben könnten, dass Auswirkungen auf das knappe Ergebnis des zweiten Durchganges der Kür des Staatsoberhaupts möglich sind. Ob tatsächlich ein Kausalzusammenhang zwischen den Rechtswidrigkeiten und dem Resultat nachweisbar wäre, ist unbeachtlich. Der Hautgout dieser Evenutalität reicht aus, um die Wahl der Ungültigkeit anheimfallen zu lassen.

Der Urnengang muss im gesamten Bundesgebiet und nicht nur in den von den Verfahrensfehlern betroffenen Sprengeln wiederholt werden, weil es bei Wahlkartenwählern ansonsten zu einer doppelten Stimmenzählung kommen könnte. Das Problem ist in der Pressemitteilung des VfGH anschaulich exemplifiziert.

Auch das unter Auferlegung einer Sperrfrist erfolgende Durchstechen vorläufiger Ergebnisse durch das Innenministerium macht eine flächendeckende Neudurchführung des Entscheids erforderlich. Denn in welchen Bezirken Österreichs die Berichterstattung vor der Schließung der Wahllokale Einfluss auf das Stimmverhalten der Bürger hatte, lässt sich selbstverständlich nicht eruieren. Hier hat es die Juristen von der Freyung offensichtlich in den Fingern gejuckt: Aus der bereits erwähnten Pressemitteilung geht hervor, dass nur die Antragsgebundenheit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens es dem VfGH bislang verwehrt hat, sich zu dieser lange geübten, wenngleich evident und eminent rechtswidrigen Praxis zu äußern.

Ist der Spruch der Verfassungsrichter, die übrigens keine Berufsrichter, sondern Richter mit (juristischem) Beruf sind, zu begrüßen? Ja. Denn bei einer Wahl können die Ergebnisse nicht durch eine Rechtsnorm determiniert werden (sonst wäre es ja keine Wahl mehr). Vielmehr spielt bei einem Urnengang die Legitimation durch Verfahren die zentrale Rolle. Richtig gewählt wurde nicht dann, wenn der gewünschte Bewerber obsiegt, sondern wenn das vorgeschriebene Prozedere peinlich genau befolgt wurde.

Für alle Verschwörungstheoretiker, die davon überzeugt sind, dass "die da oben" ohnehin gemeinsame Sache machen, ist heute wohl ein schwarzer Tag. Denn der VfGH hat in seiner Entscheidung ganz offensichtlich und nach dem Brexit-Schock entgegen dem Argwohn nicht nur der üblichen Verdächtigen keinerlei Rücksicht auf die politische Opportunität genommen. Österreich mag nicht die akribischsten Wahlhelfer und das verschwiegenste Innenministerium haben. Aber zu ihrer funktionierenden Gewaltenteilung kann man die Alpenrepublik jedenfalls heute nur beglückwünschen.

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.