19. Oktober 2016

Moral und der Mob

Mit großer Werbeankündigung inszenierte die ARD das Theaterstück "Terror" und ließ die Zuschauer darüber abstimmen, ob der im Stück angeklagte Pilot dafür bestraft werden soll, daß er durch den Abschuß eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs die Menschen eines Fußballstadions rettete. Verkürzt gesagt und einige unrealistische Nebenannahmen ignorierend ging es um die Frage, ob man den Tod einer kleinen Anzahl von Menschen in Kauf nehmen darf, um eine viel größere Anzahl von Menschen zu retten. Ein schwieriges moralisches Dilemma.

Den besonderen Spin erhielt die Inszenierung durch die Verknüpfung mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ein Gesetz zu einem solchen Abschußbefehl als verfassungswidrig verworfen hatte. Der Staat dürfe nach Gerichtsmeinung nicht zwischen den Menschenrechten der kleineren und der größeren Anzahl abwägen. Was im Stück verkürzt wurde zur Behauptung, die Handlung des Piloten wäre grundgesetzwidrig.

Wie zu erwarten stimmte aber der überwiegende Teil des Publikums dafür, den Piloten nicht zu bestrafen. Womit dann für viele Journalisten die Frontstellung klar war: Die breite Mehrheit des Volkes stellt sich gegen das Grundgesetz. Die FR geht in typisch linker Verachtung für die Normalbürger so weit, die Abstimmenden als "Mob" zu beschimpfen. Der allgemeine Tenor: Es wäre falsch, daß die ARD überhaupt so eine Abstimmung zugelassen hätte. Man könne die Rechtsprechung nicht den Bürgern überlassen. Und einige Kommentatoren zogen dann gleich die Linie weiter und nahmen die Sendung als Beleg, daß damit auch Volksabstimmungen in der Politik nicht vernünftig wären.

So weit, so falsch.
­
Denn nicht nur, daß alle diese Auslassungen eine bedenklich anti-demokratische Grundhaltung verraten: Sie widersprechen auch unserem Grundgesetz und unserem Rechtssystem - zu deren Verteidigern sich die Kritiker ja aufschwingen wollen.

Mal ganz allgemein gesagt: Eine Verfassung oder Gesellschaftsordnung kann überhaupt nur funktionieren, wenn es im wesentlichen eine Übereinstimmung zu den Wertvorstellungen der Bevölkerung gibt. Es wird immer Abweichungen geben, weil Verfassungen und Gesetze von gebildeten Experten geschrieben werden die nicht völlig repräsentativ sind.
Aber gegen das Volk kann man keine Rechtsordnung durchdrücken. Unser Grundgesetz hätte in einer mittelalterlichen Gesellschaft nicht funktioniert, und die Athener Demokratie würde bei uns heute scheitern.

Und das haben auch die Schöpfer unseres Rechtssystems berücksichtigt. Urteile werden nicht nur im Namen des Volkes verkündet, sondern die Vertreter der "normalen Bürger" wirken auch als Schöffen entscheidend mit. Die der Kontrolle dienende Öffentlichkeit aller Verfahren und die Beteiligung des "Mobs" in Form von Laienrichtern waren wichtige Erfolge gegenüber der feudalen Rechtsordnung. Wollen die Kritiker etwas wieder zurück zur Kabinettsjustiz der absoluten Monarchie?

Natürlich funktioniert die Volksbeteiligung nur, weil die Urteilsfindung von Profis vorbereitet wird. Der gesetzliche Rahmen wird von den Justiz-Experten geklärt, nur in diesem Rahmen kann entschieden werden.

Und genau das ist bei der "Terror"-Inszenierung komplett falsch dargestellt. Und wahrscheinlich sogar bewußt falsch dargestellt. Die vorgeführte Anklage wegen Mord ist absurd. Das Urteil des BVerfG bindet nur die Regierung, aber nicht die Bürger und ist daher für diesen Kontext irrelevant. Und die Schöffen müssen im deutschen Rechtssystem genau die Rahmenbedingungen (Rettung der Menschen im Stadion) berücksichtigen, die ihnen der Fernsehrichter verbieten will.
Bundesrichter Fischer hat gewohnt wortgewaltig und präzise dargestellt, wie krass falsch die echte Rechtslage im Stück dargestellt wird.

Und dann wird auch klar, daß es den Gegensatz zwischen Volksmeinung und Rechtslage gar nicht so gibt, wie es der Autor in seinem Stück suggerieren will. Natürlich ist es nicht erlaubt, daß der Pilot ein Flugzeug abschießt und damit den Tod aller Insassen verursacht. Aber das Strafgesetz bietet selbstverständlich die Möglichkeit, sein Dilemma und die Rettung der Menschen im Stadion zu berücksichtigen und ihn straflos zu lassen. Völlig im Einklang mit dem Grundgesetz und dem Abstimmungsergebnis der Zuschauer.

Letztlich ist die Fragestellung ja auch nicht neu. Etwas zu tun oder etwas nicht zu tun hat immer Konsequenzen. Auf eine Maßnahme zu verzichten ist eben nicht automatisch die moralisch bessere Option, unterlassene Hilfeleistung ist sogar strafbar. Es gibt Situationen, da kann sich ein Mensch so oder so entscheiden - und macht sich in beiden Fällen schuldig. Schuldig am Tod der Flugzeuginsassen oder schuldig am Tod der Menschen im Stadion, diese Entscheidung ist ein Dilemma ohne moralisch sauberen Ausweg.
Wie schon bei den alten Griechen. Tat der Held das Eine, zürnte der eine Gott, unterließ er es, verstieß er gegen andere Gebote. Schuldig machte er sich immer, und bei den Griechen wurde das als "dumm gelaufen" gewertet und führte in jedem Fall zur Bestrafung. Das hieß dann Tragödie.

Eigentlich behandeln die meisten Romane oder Schauspiele seit der Antike Konflikte dieser Art: Der Held wird vor ein Problem gestellt. Und muß sich entscheiden zwischen verschiedenen schlechten Lösungen. Soll er dem Vaterland treu bleiben oder der Geliebten, seine Ehre wahren oder die Dienstvorschrift einhalten, den Zorn der Götter riskieren oder den des Königs. Klar ist nur: Es gibt keine eindeutige Lösung, das Leben ist schwer und Entscheidungen haben Konsequenzen.

Und genau das erklärt wohl die Vehemenz, mit der die linken Kritiker den Freispruch durch den "Mobs" angehen. Es darf für sie immer nur eine richtige Lösung geben. Sie sind auf Seiten der Guten, und andere Seiten kann es daher nicht geben.
Das ist das Denken der Putin-Pazifisten: Nicht-Handeln ist automatisch die moralisch überlegene Position. Ob dann Terroristen morden oder Eroberungskriege geführt werden, ob Minderheiten massakriert werden oder Menschen in Folterkellern verschwinden - das ist für sie zwar zu beklagen, aber hinzunehmen. Weil Gegenwehr oder der Einsatz von Gewalt zur Verhinderung dieser Taten dazu führen würde, daß man selber schuldig wird. Und sie begehren nicht schuldig zu sein.

Das Grundgesetz und die Volksmeinung sehen das anders. Und haben dabei moralisch recht.

R.A.

© R.A.. Für Kommentare bitte hier klicken.