Fußball ist auf deutschen Sportplätzen und Bildschirmen nach wie vor
die Königsdisziplin. Gleichwohl wird das Lamento über die Unzulänglichkeiten
des Kickspiels immer lauter: Deutscher Meister werden voraussichtlich wieder die Bayern,
der einzige rechnerisch noch mögliche Konkurrent um die Schale ist der BVB – das hat man in den
letzten Jahren oft genug gesehen. Und wer bei der begeisternden Handball-Europameisterschaft oder dem Damenfinale der Australien Open mitgefiebert
hat, mag sich wundern, warum die „schönste Nebensache der Welt“ (Uwe Seeler)
von vielen Zeitgenossen als solche empfunden wird.
Zettel hat sich diese Frage in einem seiner frühesten Beiträge
gestellt und dabei einige wesentliche Punkte herausgearbeitet. Ein bedeutsamer
Aspekt scheint mir darin jedoch zu fehlen, nämlich dass der Reiz des Fußballs
auch darin liegt, dass der Gute nicht immer belohnt und der Schlechte nicht
immer bestraft wird, sondern dass es manchmal genau umgekehrt ist.
Ein bezeichnendes Beispiel für diese These ist etwa die Begegnung
Schalke gegen Mönchengladbach am 27. Spieltag der Fußballbundesliga. Nach wohl
kaum bestrittener Meinung gewann bei dieser Partie die schlechtere Mannschaft
(die Gelsenkirchener). Die beiden Eigentore der Borussen fielen schon beinahe
ins komödiantische Fach. Nach landläufigem Maßstab mag ein solcher dreckiger
Sieg ungerecht sein, im Fußball ist dergleichen aber keine Seltenheit.
In anderen Sportarten ist ein Triumph des leistungsmäßig Unterlegenen
hingegen ausgeschlossen: Angelique Kerber war an jenem denkwürdigen Tag in
Sydney ungeachtet ihrer Weltranglistenposition einfach besser als Serena
Williams, weil sie mehr Punkte respektive weniger Fehler machte als die
Amerikanerin. Anders als ihre aussichtsreichsten Mitbewerberinnen schoss Laura Dahlmeier bei der Biathlon-Weltmeisterschaft in der Verfolgung makellos und legte eine starke Nettolaufzeit hin, sodass ihre Goldmedaille mehr als verdient
war. Als Wilfried Dietrich – um ein schon etwas älteres Exempel heranzuziehen –
den deutlich größeren und schwereren Chris Taylor in einer den Gesetzen der Physik trotzenden Akrobatik über Kopf auf die Matte beförderte, hatte der „Kran
von Schifferstadt“ eine Brillanz in seinem Metier unter Beweis gestellt, die
den Sieg rechtfertigte.
Erfolge der schwächeren Mannschaft lassen sich im Fußball nicht
abschalten, es sei denn, man wollte diese Sportart einer großen Transformation
unterziehen. Einen anderen Umstand, der für die Ungerechtigkeit auf dem Platz
verantwortlich ist, könnte man hingegen ohne viel Federlesens ändern: Die Rede
ist von der faktischen Allmacht des Schiedsrichters, der in Sekundenschnelle
Entscheidungen treffen muss und dabei nur auf menschliche Assistenten mit
ebenfalls täuschbaren Sinnen, nicht jedoch auf technische Hilfsmittel
zurückgreifen darf. Die Versuchung, sich außerhalb des Blickfeldes der Männer
mit der Pfeife bzw. den Fahnen einen Vorteil zu erschleichen, ist also groß. Im
Fußball gewinnt somit bisweilen nicht nur der Schlechtere, sondern auch der
Bösere. Und manchmal profitiert ein Team ganz ohne doloses Zutun von einer
Fehlentscheidung.
Man erinnert sich nur zu gut an die berüchtigte „Schutzschwalbe“, die
einen Elfmeter nach sich zog, die „Hand Gottes“, die den Ball im gegnerischen
Kasten versenkte oder das legendäre Wembley-Tor und die nicht weniger
sensationelle Wiedergutmachung bei der Weltmeisterschaft 2010. Mit dem
Videobeweis und der Torlinientechnik könnte man diese Regelverstöße und
Unklarheiten auf einen Schlag beseitigen. Der Fußball würde dadurch gerechter.
Aber würde er auch interessanter? Sind es nicht gerade Szenen wie Möllers kontaktfreier
Fall, Maradonas Ausflug in den Handballsport oder die Frage „Tor oder kein
Tor?“, die uns noch Jahrzehnte später im Gedächtnis haften und zur Belebung
einer mundfaulen Stammtischrunde problemlos hinreichen? Was wären die Annalen
des Fußballs ohne diese Aufreger und – in jedem Sinne des Wortes – Reizthemen?
Welche andere Sportart kann mit einer solchen langen Liste an spielimmanenten
Skandalen und Skandälchen aufwarten?
Mehr Gerechtigkeit führt zu weniger Reiz. Das gilt natürlich nur im Fußball. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt und diese Hypothese auf andere Bereiche des menschlichen Zusammenlebens ausdehnen möchte.
Noricus
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