Europa steht am Scheideweg. Es hat die Wahl zwischen einem goldenen Zeitalter der Demokratie, Mitbestimmung und Repräsentation von hunderten Millionen von Unionsbürgern auf der einen Seite und der "mutwilligen Zerstörung" und politischen Pflichtverletzung der verfassungsrechtlichen Demokratiegebote.
Aber was ist passiert? Die mit viel Getöse zu "Spitzenkandidaten" bei der Europawahl gehypten Politiker Juncker und Schulz scheinen - entgegen der gebetsmühlenartigen Behauptungen der EU-Befürworter, die damit die Bedeutung der Parlamentswahl unterstreichen wollten - alles andere als eine sichere Mehrheit zu haben.
Zunächst - noch am Wahlabend - ging das Gerangel unter den Parlamentariern los. Juncker als Kandidat der stärksten Fraktion machte den Eindruck, als plane er schon die Einrichtung seines Büros im Berlaymont, während Schulz in alter Parteitradition erstmal auf die Suche nach einer eigenen Mehrheit gehen wollte.
Doch keiner zweifelte daran, dass die 28 gewählten Regierungschefs von Helsinki bis Nikosia im Europäischen Rat brav einen der ohne Vorschlagsrecht des parlamentes auf zwei internationalen Parteiversammlungen in Rom (Sozialisten) und Dublin (Volkspartei) entstandenen Vorschläge vorschlagen würden. Die Süddeutsche hat zwar vor der Wahl eine ziemlich gute Analyse veröffentlicht:
Nun passierte etwas Merkwürdiges, von dem ich glaube, dass es tiefe Einsichten in den Zustand der EU-Institutionen liefert. Es brach Panik aus. Nicht nur im ohnehin nervösen Blätterwald, sondern auch bei den Politikern selber.
Die Frage "Juncker oder nicht Juncker" war nicht mehr die Frage nach dem geeignetsten Kandidaten für ein Amt mit unglaublicher Machtfülle, sondern eine Frage nach der Zukunft der EU, nach der demokratischen Legitimation, ja fast schon nach Krieg oder Frieden.
Dabei ist Juncker ein Kandidat, gegen den es durchaus gewichtige Argumente gibt. Ein Kandidat, der in Großbritannien und einigen anderen Ländern nicht einmal zur Wahl stand, da keine britische Partei in der EVP ist. Dieser Kandidat, dessen eigenes Demokratieverständnis bisweilen fragwürdige Züge annimmt, wird zur Inkarnation der Demokratie erhoben.
Da bilden sich die merkwürdigsten Allianzen. Die deutschen Sozialdemokraten trommeln für Juncker, als hätte es nie einen Schulz gegeben oder zumindest wie wenn er gerade bei der Bürgermeisterwahl in Würselen eine krachende Niederlage erlitten hätte und nicht als Garant deutscher Interessensvertretung in Brüssel angepriesen worden wäre.
Wie kommt's?
Zum einen spielen antibritische Ressentiments eine Rolle. Dass das Land, dessen schönste Eigenschaft bei manchen EU-Freunden die ist, dass man nicht erst eine Mauer um dieses Land bauen muss, um es abzuschotten, immer noch nicht völlig von der Heilswirkung des Brüsseler Einheitsbreis überzeugt ist und gar den großen Satan auf der anderen Seite des Atlantiks zum bevorzugten Partner hat, macht es im Kreise der Eurofanatiker zum Paria. Von denen will man sich nichts sagen lassen. Dass Cameron eben nicht nur innenpolitisch getrieben ist und vor der UKIP einknickt, sondern gute Gründe für sein Handeln vorweisen kann, hat Matthias Thibaut in der Wirtschaftswoche überzeugend dargelegt.
Zum anderen merken viele, wie sehr ihnen ihre Vorstellung und Propaganda des europäischen Parlamentarismus jetzt auf die Füße fällt, weil das System diesen nicht hergibt. Deshalb muss der Rat jetzt so tun, als würde er gar nicht entscheiden, um den Anschein zu wahren. Die Zukunft Europas ist ein hoher Preis dafür, und dass sich diejenigen Ratsmitglieder, die eine andere Ansicht vertreten, dem widersetzen, ist nur folgerichtig. Und dass die ganze Debatte so emotional und pathetisch geführt wird, lässt durchaus den Schluss zu, dass die argumentative Basis eher dünn ist.
Man kann den geringen Einfluss des Parlamentes und die starke Stellung des Rates für nützlich oder schädlich halten. Tatsache ist, wir haben es mit Institutionen zu tun, die so oder so eine ungeheure Macht haben. Es stehen Entscheidungen an, die die Zukunft der Bürger Europas prägen werden. Und jeder von den Bürgern seines Staates gewählte Regierungschef, sei der Name Cameron, Orban, Faymann oder Merkel, ist zunächst seinen Wählern verantwortlich, die ihm anvertraute Macht in deren Sinne zu nutzen.
Die eingangs zitierten Worte sind übrigens die Gedanken des Philosophen Jürgen Habermas, und das mag beispielhaft für das "europäische Projekt" sein. Eine Kopfgeburt von Intellektuellen.
© Meister Petz. Für Kommentare bitte hier klicken.
Aber was ist passiert? Die mit viel Getöse zu "Spitzenkandidaten" bei der Europawahl gehypten Politiker Juncker und Schulz scheinen - entgegen der gebetsmühlenartigen Behauptungen der EU-Befürworter, die damit die Bedeutung der Parlamentswahl unterstreichen wollten - alles andere als eine sichere Mehrheit zu haben.
Zunächst - noch am Wahlabend - ging das Gerangel unter den Parlamentariern los. Juncker als Kandidat der stärksten Fraktion machte den Eindruck, als plane er schon die Einrichtung seines Büros im Berlaymont, während Schulz in alter Parteitradition erstmal auf die Suche nach einer eigenen Mehrheit gehen wollte.
Doch keiner zweifelte daran, dass die 28 gewählten Regierungschefs von Helsinki bis Nikosia im Europäischen Rat brav einen der ohne Vorschlagsrecht des parlamentes auf zwei internationalen Parteiversammlungen in Rom (Sozialisten) und Dublin (Volkspartei) entstandenen Vorschläge vorschlagen würden. Die Süddeutsche hat zwar vor der Wahl eine ziemlich gute Analyse veröffentlicht:
Die eigentliche Katerstimmung aber wird erst nach dem Wahltag aufkommen. Beide Politiker verbinden ihre Kandidatur mit dem Versprechen, dass sie bei einem Sieg an die Spitze der Europäischen Kommission treten werden. Die Wahl wird quasi zum Referendum über die Präsidentschaft stilisiert.
Sicher: Das Europäische Parlament hat bei dieser Wahl erstmals eine Schlüsselstellung bei der Vergabe der Chefposten der wichtigsten Institution. Aber einige der Präsidenten, Premierminister und Kanzler der EU-Mitgliedsstaaten halten die Versuchsanordnung für untauglich. Sie argumentieren, dass einige ausgezeichnete Kandidaten für Spitzenämter zurzeit in wichtigen Funktionen gebunden seien und deshalb nicht kandidieren könnten. Deshalb sollten Juncker und Schulz zwar in den Wahlkampf ziehen, ein Präjudiz über den Kommissionspräsidenten werde damit aber nicht getroffen.Aber im Laufe des Wahlkampfs hat das Europäische Demokratiefieber auch das Qualitätsblatt von der Isar erfasst. Und nachdem der sozialdemokratische Fraktionschef aus einem Land, dass sich eine schwarz-rote Koalition auch gleich in die Verfassung schreiben könnte, die Einigung auf den parlamentarischen Vortritt für Juncker zustande gebracht hat, gab es in der SZ-Redaktion kein Halten mehr:
Zeit für ein bisschen Pathos: An diesem Dienstag haben sich die Europäischen Institutionen aufgemacht, in einem ganz neuen Verfahren das Spitzenpersonal und die Strategie der EU für die nächsten fünf Jahre zu bestimmen. Ein historischer Moment - der ganz schnell erledigt sein oder Monate dauern kann. Es wird ganz sicher Streit geben. Aber gerade dieser Streit zeigt: Niemals zuvor in der Geschichte der Institutionen waren Entscheidungsprozesse so demokratisch und nachvollziehbar wie dieses Mal.Dann aber kam der EU-Gipfel, bei dem einige Regierungschefs zeigten, dass sie die Souveränität ihrer Länder durchaus ernst nehmen. Cameron aus Großbritannien und Orban aus Ungarn hatten von ihrer Ablehnung Junckers von Haus aus nie einen Hehl gemacht, Reinfeldt aus Schweden (ebenfalls ein Nichteurozonenland) stieß hinzu. Hollande hätte auch gerne lieber einen Franzosen, Renzi aus Italien und Rutte aus den Niederlanden wollten sich noch nicht festlegen und Merkel tat, was sie immer tut. Sie ließ sich nach allen Seiten Hintertürchen offen. Also EU-business as usual, bei dem jeder Mitgliedsstaat versucht, das Beste für sich herauszuholen.
Nun passierte etwas Merkwürdiges, von dem ich glaube, dass es tiefe Einsichten in den Zustand der EU-Institutionen liefert. Es brach Panik aus. Nicht nur im ohnehin nervösen Blätterwald, sondern auch bei den Politikern selber.
Die Frage "Juncker oder nicht Juncker" war nicht mehr die Frage nach dem geeignetsten Kandidaten für ein Amt mit unglaublicher Machtfülle, sondern eine Frage nach der Zukunft der EU, nach der demokratischen Legitimation, ja fast schon nach Krieg oder Frieden.
Dabei ist Juncker ein Kandidat, gegen den es durchaus gewichtige Argumente gibt. Ein Kandidat, der in Großbritannien und einigen anderen Ländern nicht einmal zur Wahl stand, da keine britische Partei in der EVP ist. Dieser Kandidat, dessen eigenes Demokratieverständnis bisweilen fragwürdige Züge annimmt, wird zur Inkarnation der Demokratie erhoben.
Da bilden sich die merkwürdigsten Allianzen. Die deutschen Sozialdemokraten trommeln für Juncker, als hätte es nie einen Schulz gegeben oder zumindest wie wenn er gerade bei der Bürgermeisterwahl in Würselen eine krachende Niederlage erlitten hätte und nicht als Garant deutscher Interessensvertretung in Brüssel angepriesen worden wäre.
Wie kommt's?
Zum einen spielen antibritische Ressentiments eine Rolle. Dass das Land, dessen schönste Eigenschaft bei manchen EU-Freunden die ist, dass man nicht erst eine Mauer um dieses Land bauen muss, um es abzuschotten, immer noch nicht völlig von der Heilswirkung des Brüsseler Einheitsbreis überzeugt ist und gar den großen Satan auf der anderen Seite des Atlantiks zum bevorzugten Partner hat, macht es im Kreise der Eurofanatiker zum Paria. Von denen will man sich nichts sagen lassen. Dass Cameron eben nicht nur innenpolitisch getrieben ist und vor der UKIP einknickt, sondern gute Gründe für sein Handeln vorweisen kann, hat Matthias Thibaut in der Wirtschaftswoche überzeugend dargelegt.
Zum anderen merken viele, wie sehr ihnen ihre Vorstellung und Propaganda des europäischen Parlamentarismus jetzt auf die Füße fällt, weil das System diesen nicht hergibt. Deshalb muss der Rat jetzt so tun, als würde er gar nicht entscheiden, um den Anschein zu wahren. Die Zukunft Europas ist ein hoher Preis dafür, und dass sich diejenigen Ratsmitglieder, die eine andere Ansicht vertreten, dem widersetzen, ist nur folgerichtig. Und dass die ganze Debatte so emotional und pathetisch geführt wird, lässt durchaus den Schluss zu, dass die argumentative Basis eher dünn ist.
Man kann den geringen Einfluss des Parlamentes und die starke Stellung des Rates für nützlich oder schädlich halten. Tatsache ist, wir haben es mit Institutionen zu tun, die so oder so eine ungeheure Macht haben. Es stehen Entscheidungen an, die die Zukunft der Bürger Europas prägen werden. Und jeder von den Bürgern seines Staates gewählte Regierungschef, sei der Name Cameron, Orban, Faymann oder Merkel, ist zunächst seinen Wählern verantwortlich, die ihm anvertraute Macht in deren Sinne zu nutzen.
Die eingangs zitierten Worte sind übrigens die Gedanken des Philosophen Jürgen Habermas, und das mag beispielhaft für das "europäische Projekt" sein. Eine Kopfgeburt von Intellektuellen.
Meister Petz
© Meister Petz. Für Kommentare bitte hier klicken.