25. Januar 2014

Seit 200 Jahren ziemlich tot. Johann Gottlieb Fichte (†29. Januar 1814). Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Weil ich nicht zur Philosophenzunft gehöre und der Jubiläums-Beitrag sich beschränken muss, blicke ich als Theologe nur auf eine einzige Vorlesung, nämlich die 16. der Reihe „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“, gehalten in Berlin 1805. Diese Vorlesung finde ich hochbrisant. Dort wird die Frage, wo steht die Zeit jetzt?, nicht mit einer Klage über den Verfall der Religion verbunden, sondern mit den Thesen illustriert:

1. Die Kritik an der Religion und der Verfall der Religion sind gar nicht zu beklagen.
2. Denn es ist nur „Religion“ da: Aberglaube, aber kein Christentum.
3. Das wahre Christentum ist noch gar nicht dagewesen.
4. Und das echte Christentum wäre?

Sie glauben nicht, dass ein Mann wie Fichte so formuliert hat? Dann müssen Sie weiterlesen und die Zitate prüfen. Sie werden sehen, dass nicht wir Heutigen die Klugen sind, sondern dass schon ganz andere Riesen da waren.

Die geistig interessierte Welt wartete ungeduldig auf das abschließende Werk Kants, nämlich auf die noch fehlende religionsphilosophische Kritik der Möglichkeit eines weltjenseitigen Gottes, sich zu offenbaren, - denn das hieß inzwischen beim Stand der europäischen Aufklärung: die Untersuchung der Fähigkeit des Menschen, so etwas überhaupt wahrnehmen zu können.

Da erschien 1792 ein Buch mit dem Titel „Versuch einer Critik aller Offenbarung“, anonym verlegt. Hatte Kant die Polizei gescheut? Kant stellte den Irrtum klar - und lobte das Werk. Fichte, 38 Jahre jünger als Kant, war damit weltberühmt und bekam sogleich einen Lehrstuhl in Jena.

Im Lauf seines Lebens hat Fichte Unterschiedliches zum Atheismusstreit, zu Gesellschaftsmodellen, zu den Epochen der Geschichte, zur Ethik, zum Verhältnis zwischen Staat und Religion und zu einem künftigen Weltfrieden durchdacht. Er tat es mit Leidenschaft: „Unser Denksystem ist oft nur die Geschichte unseres Herzens.“ Er war 8 Jahre älter als Hegel und 13 Jahre Schelling voraus. Er suchte eine persönliche Basis für das Denken einer Weltsynthese. Er fragte: Wer anders als das Ich kann die objektive Welt der Dinge erfahren? Und er hoffte, der Mensch trage das Licht zur Erkenntnis in sich. Er hatte nur ein Leben von kaum über fünfzig Jahren, weil er sich bei der Erhebung gegen Napoleon über seine Frau, die bei den letzten Schlachten Befreiungskrieger pflegte, mit dem Lazarettfieber ansteckte. Aber diese Jahrzehnte genügten für einen politischen Denkweg von der Utopie „geschlossener Handelsstaat“ bis zur Utopie eines aufgeklärt-christlichen Staatenbundes ohne Krieg und für eine Entwicklung des Gottesbegriffs der Freimaurerloge (‚lebendig wirkende moralische Weltordnung‘) zu einem absoluten Sein Gottes, so in der Spätphilosophie Fichtes. Die kritische Edition umfasst 42 Bände.

Der so sehr auf die politische Verantwortung bezogene Philosoph Fichte gilt als utopisch und weltfremd. Dabei war dieser als Protestant erzogene Zeitgenosse der französischen Revolution ein so kühner Aufklärer: Das Dogma von der Erbsünde war ihm eine Verleumdung der menschlichen Natur; das ewige Leben sei für hier und jetzt gedacht und nicht erst nach dem Tod; nur Erfahrung könne Erkenntnisse möglich machen und also bestimme das Handeln alles; religiöser Glaube muss mit der Wissenschaft zusammengehen können und hat sein Wesen ebenfalls im Tun und tätig werden; Leben ist Liebe, die Liebe ist der Antrieb zum Wollen und Tun. Und das Wollen eines Ich mache alles möglich.

Die Kritik an der Religion und der Verfall der Religion sind gar nicht zu beklagen.

Bei dieser These Fichtes zum Zustand der Religion hängt natürlich alles an der Bedeutung des Wortes Religion. Für den späteren großen Theologen Karl Barth war „Religion“ das Wort für den Unglauben in der Kirche. Sucht man heute im Netz unter „Glaube und Religion“ nach dem Unterscheidenden, findet man eine unsäglich dürftige, ja falsche Akzentuierung: Glaube sei eine persönliche Sache ohne die Kirche, Religion sei eine Sache der Organisierung. Zu Fichtes Zeiten galt der Grundsatz der Gebildeten: Wir haben die Philosophie, das Volk braucht Religion. Er erkannte: „In der bekannten und fast auf allen Zungen befindlichen Klage über den Verfall der Religiosität, besonders unter dem Volke“ zeige sich, „dass sie keineswegs ihre eigene Irreligiosität beklagen, und nicht etwa sich selber, sondern nur anderen, und insbesondere dem Volke, Religiosität wünschen; bei welchem Wunsche sie vielleicht noch eine andere Absicht für sich im Hinterhalte haben.“ Die Aufgeklärten ließen bloß das sinnlich Erfahrbare gelten und dächten als Politiker, das Volk brauche die Furcht vor Göttern. „So dürfte die ganze Klage sich darauf zurückführen lassen, dass das Regieren dadurch weit schwerer und kostspieliger geworden.“ Wo bleibt da aber die Freiheit?

„Ist denn nun aber die Furcht vor Gott und dieses Streben, ihn durch mysteriöse Künste zu versöhnen, Religion und Christentum? Keineswegs: Aberglaube ist es und Rest des Heidentums, das mit dem Christentume sich mischte, und bisher von ihm noch nicht rein ausgestoßen war: die Philosophie des Zeitalters vernichtet, wenn man sie nur gehen lässt, diesen Überrest gänzlich.“

Denn es ist nur „Religion“ da: Aberglaube, aber kein Christentum.

„Freilich muss sie dabei notwendig – man kann nicht sagen, vernichten – das wahre Christentum; denn dieses ist, außer in Individuen, öffentlich und als Weltzustand noch gar nicht da gewesen.“ Die aufklärende Philosophie könne den Aberglauben richten, aber den wahren Glauben weder erfassen noch in die Welt einführen. „Beklagt man nun etwa diesen Sturz des Aberglaubens als Verfall der Religiosität, so vergreift man sich sehr im Ausdrucke, und beklagt, worüber man sich freuen sollte, und was ein glänzender Beweis unserer Fortschritte ist.“

Die Gefahr der Aufklärung, die schon bei Kant bestand, wird nun von Fichte ins Auge gefasst: Dass man meinen könnte, die wahre gereinigte Religion sei identisch mit Ethik, mit Sittlichkeit, mit dem kategorischen Imperativ etwa. Das Wahre müsse schärfer unterschieden werden. Es müsse in den Werkstätten der neuen Philosophie ausgearbeitet werden.

Das wahre Christentum ist noch gar nicht dagewesen.

Es läge zwar in den Urkunden des Christentums bereit, sei aber noch nicht verstanden. „Wie und wodurch es in die Welt werde eingeführt werden, müssen wir ruhig erwarten, und nicht sogleich die Ernte sehen wollen, indes noch gesät wird.“ Fichte denkt hier realistisch. Die Philosophen können keine Reform der Christenheit herbeischaffen.

„Weit entfernt daher, in die Klage über den Verfall der Religiosität in unserem Zeitalter einzustimmen, halte ich Dies vielmehr für den Charakter des Zeitalters: dass es der wahren Religion bedürftiger und empfänglicher sei, als ein anderes, wenn diese nur an dasselbe gebracht würde. Das leere und unerquickliche freigeisterische Geschwätz hat Zeit gehabt, auf alle Weise sich auszusprechen; es hat sich ausgesprochen, und wir haben es vernommen, und es wird von dieser Seite nichts Neues und nichts besser gesagt werden, als es gesagt ist. Wir sind desselben müde; wir fühlen seine Leerheit und die völlige Nullität, welche es uns, in Beziehung auf den doch einmal nicht ganz auszurottenden Sinn für das Ewige, gibt. Er bleibt, dieser Sinn, und fordert dringend ein Geschäft für sich.“

Und das echte Christentum wäre?

„Worin besteht denn also die wahre Religion? Vielleicht kann ich sie am deutlichsten beschreiben, wenn ich zeige, was sie leistet.“ Fichte vertritt nicht die Utopie einer äußerlichen, magischen Veränderung des Menschen, sondern sagt: „Sie vollendet ihn innerlich in sich selbst, macht ihn durchaus einig mit sich selbst, und durchaus frei, und durchaus klar und selig; mit einem Worte, sie vollendet seine Würde.“ Es geht darum, wie ein Mensch das, was getan werden muss, nicht aus totem Gehorsam tut, sondern aus Vernunftgründen und über die Einsicht noch hinaus aus Lust und Freude. Auf der Ebene der wahren Religion wird das Leben von mehr geleitet als von Trieb oder Pflicht. Fichte benutzt die Ausdrücke „Blüte des Lebens“ und „Entzücken“, „Element, in welchem allein er atmen kann.“ Natürlich hält Fichte diese innere Zustimmung zu den Pflichten nicht für einen psychologischen Trick, sondern für die wahre Ebene, die des Menschen würdig ist. „Der Gesetzgeber in unserer Brust schweigt, denn der Wille, die Lust, die Liebe, die Seligkeit, hat das Gesetz in sich aufgenommen.“

Die Probe dafür ist die Fortsetzung seines Gedankengangs. Denn Fichte diskutiert nun die Todesfurcht und lehnt Beweise für die Unsterblichkeit der Seele ab. Das Diesseits/Jenseits-Schema passt nicht: „In jedem Momente hat und besitzt er das ewige Leben mit aller seiner Seligkeit, unmittelbar und ganz; und was er allgegenwärtig hat und fühlt, braucht er sich nicht erst anzuvernünfteln.“ Fichte greift hier auf die neutestamentliche präsentische Auffassung von Auferstehung und neuem Leben zurück, die im Lauf der Kirchengeschichte wieder zur reinen Jenseitshoffnung verdarb. (Dass der Himmel nicht jenseits des Grabes liegt, sondern in der Gegenwart, hatte Fichte schon im 3. Buch von „Die Bestimmung des Menschen“ begründet.)

„Wie soll nun das arme herumgetriebene Menschengeschlecht jemals zu dieser Religion kommen?“ fragt Fichte. Der Staat könne nur die Hindernisse beseitigen, aber nicht die Gemüter der Menschen zu ihrer Freiheit bewegen. „Ich antworte: auf dieselbe Art, wie bis auf diesen Tag alle Verbesserungen der religiösen Begriffe zustande gebracht sind; durch einzelne Individuen, welche, bisher einseitig von irgendeinem Punkt der Religion angezogen, erwärmt und begeistert wurden, und die Gabe besaßen, ihre Begeisterung mitzuteilen. So waren im Anfange der neuesten Zeit die Reformatoren.“ Damit sind wir schon bei den letzten drei Minuten der Vorlesung angelangt. Fichte verwendet sie für eine Polemik gegen die „flache Vernunft“ der rationalistischen Bibelausleger seiner Zeit, erinnert an die Pietisten mit ihrem bewegten Herzen und schließt mit der Hoffnung auf eine Erholung, auf neue begeisterte Bibelausleger auf der Höhe der Zeit. In der 17. und letzten Vorlesung dieser Reihe „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ fordert er dann das Tun des Erkannten ein, das eine Gemeinschaftsarbeit verlange, das „Wir“ der Gemeinde. Er möchte den Reformglauben lieber „Verstandesreligion“ nennen als „Vernunftreligion“. Denn es geht um das Licht der Wahrheit und das richtige Handeln. Aber auch die kritische Frage an diese Hoffnung wird nicht übersprungen: „Ist sie nicht vielleicht überhaupt Nichts, ein leerer Schimmer und Traum?“ Der Erweis sei, ob neues Leben entstehe und dieses weiteres Leben aus sich erzeuge und unaufhörlich weiter ausbreite: Wachstum an Frieden und Seligkeit, - „falls Wahrheit war, was hier gedacht wurde“.

Was wäre Fichtes Wort zur heutigen Lage? Vielleicht dies: Du arme und verbeulte Kirche von Papst Franziskus, du kannst deinen wahren Bündnispartner weder in den magischen Resten der Volkskirche finden noch bei den Soziologen der Säkularisierung des Erbes, sondern suche ihn bei der Vernunft der Marktwirtschaftler guten Willens.

Die Lage von damals und von heute ist gar nicht so unähnlich, wenn man auf die gewandelte ‚Religion‘ der Selbstsäkularisierer und Staatsanbeter blickt. Fichte warnte 1813 in der „Staatslehre“ (es steht drei Seiten vor dem Schluss): „Was sonst der Beichtvater, ist jetzt der Leibarzt, und ganz besonders der Finanzminister.“

Ludwig Weimer

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