6. September 2024

Annie M. G. Schmidt, „Pas op voor de hitte”/“Vorsicht bei der Hitze“ (1954)





“Pas op voor de hitte”

Denk aan juffrouw Scholten,
die is vandaag gesmolten,
helemaal gesmolten, op de Dam.
Dat kwam door de hitte,
daar is ze in gaan zitten
- als je soms wil weten hoe dat kwam.
Ze hebben het voorspeld: Pas op, juffrouw, je smelt!
Maar ze was ontzettend eigenwijs...
Als een pakje boter,
maar dan alleen wat groter,
is ze uitgelopen, voor het paleis.

Enkel nog haar tasje
lag daar in een plasje...
Alle kranten hebben het vermeld
op de eerste pagina.
Kijk het zelf maar even na.
Ja, daar staat het, kijk maar: dame smelt.

Die arme juffrouw Scholten...
helemaal gesmolten...
Als dat jou en mij eens overkwam...
Laten we met die hitte
overal gaan zitten...
maar vooral niet midden op de Dam.

­ Vorsicht bei der Hitze

Denk an das Fräulein Scholzen:
Die ist heut glatt geschmolzen
Ganz und gar zerschmolzen, auf dem Dam.
Die Hitze hat sie ganz zerfetzt
sie hat sich mitten reingesetzt:
Jetzt wißt ihr, wie das kam.
Man rief ihr noch die Warnung zu: „du schmilzt – geh schnell ins Haus!“
Nur war sie leider reichlich stur
Und widerborstig von Natur.
Wie Butter in der Sonne, nur
Ein wenig größer von Statur
Lief sie vorm Schloß dann aus.

Nur noch ihr Kaffeetäßchen
Das fand sich auf dem Sträßchen.
In allen Käseblättern
stand es in Riesenlettern
wo man als erstes liest
Schlagzeile! - „FRAU ZERFLIESST!“

Das arme Fräulein Scholzen
mit Haut und Haar geschmolzen …
Wir hüten uns jetzt vor dem Licht.
Erwischt uns diese Hitze,
Dann bleib ich, wo ich sitze...
Nur auf dem Dam eher nicht.

Angesichts der Tatsache, daß für die Meteorologen am verwichenen Wochenende bereits der Herbst begonnen hat (wenn auch für die Kalendermacher, Astronomen und Astrologen noch nicht), scheint es angemessen, dem „Höllensommer des Jahrtausends,“ den uns der Kölner Klimaexperte Mark Benecke - im Zivilstand Biologe mit einem Augenmerk auf verwesende Leichen und Buchautor zu Themen wie „Warum Tätowierte mehr Sex haben“ - auf den Tag genau vor fünf Monaten mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ angekündigt hat, wenigstens mit Hilfe der Muse Terpsichore eine kleine Reverenz zu erweisen. Üblicherweise wird ihre Schwester Kalliope als Schirmherrin und Inspiratorin der Dichtkunst angerufen – aber deren Zuständigkeit beschränkt sich auf das Format des klassischen Epos, das unter einem Dutzend Gesängen mit mindestens 5000 Versen gar nicht erst antritt. In Terpsichores Ressort fällt hingegen auch die Kleinkunst wie Bänkelgesänge oder Brettlieder.

Und nachdem die offiziellen Nachrichtensendungen und Nachrichtenportale seit nunmehr 10 Monaten die im Vierwochentakt wiederholte Meldung, der abgelaufene Monat oder das Jahr seien „das wärmste seit 125.000 Jahren“ gewesen, zum Dauerbrenner erhoben haben oder die Mitteilungen, Wälder würden bei 40 Grad Lufttemperatur zur Selbstentzündung neigen (Tagesschau vom 23.8.2024) und der Stahl, aus dem Eisenbahnschienen gefertigt sind, „weich werden“ (ZDF, 22.6.2024), lag die Wahl dieser Verse zum Thema nahe.







I.

„Habent sua fata libelli“ ist bekanntlich die so am hartnäckigsten falsch zitierte Wendung aus dem Fundus der antiken Literatur. In der Lehrschrift für den angehenden Rhetor des Terenz, mit denen Studenten auf öffentliches Auftreten vorbereitet werden sollten, heißt es wörtlich: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ – das Schicksal, das ein Buch hat, hängt von der Auffassungsgabe seiner Leser ab (De litteris, de syllabus, de metris, Vers 1286). Es handelt sich also um eine Vorwegnahme von Lichtenbergs bekannten Einträgen „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ (Sudelbuch D399, üblicherweise als „liegt das allemal am Buch?“ zitiert) und „Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken“ (F 112). Aber die Auslegung, daß manche Bücher überdauern, andere vergessen oder wiederentdeckt werden, oft ohne daß sich aus der Qualität oder dem herrschenden Zeitgeist ein Grund dafür erschließen läßt, hat im sich Lauf der letzten 200 Jahre durch philologisches Gewohnheitsrecht durchgesetzt. Der Germanist Wolfgang Milde, viele Jahre Leiter der Handschriften-Abteilung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, hat vor geraumer Zeit dieser Mutation, diesem „habent sua fata citationes“, einen kleinen Aufsatz gewidmet („Habent sua fata libelli. Zur Geschichte eines Zitats.“ Berlin. De Gruyter, 1988; freilich umfaßt das Heftlein nur 14 Seiten).

Für das Werk – genauer: für die Gedichte – der niederländischen Kinderbuchautorin Annie M. G. Schmidt gilt dies sogar in doppelter Weise. Zum einen – und das teilt sie mit den meisten ihrer Zunftgenossen im deutschen, englischen, französischen, spanischen und japanischen Sprachbereich – bleiben solche Verse in aller Regel auf die eigene Sprache beschränkt: der Reim, der Versbau stehen einer angemessenen Nachdichtung in anderen Idiomen im Weg. Sprachschüler, die sich gründlich in eine neue Sprache einarbeiten, wenden sich in aller Regel „erwachsenen“, „vollwertigen“ Texten zu, für Verleger ist derartige Gebrauchslyrik ein sicheres Verlustgeschäft. Das gilt selbst für die Werke von Dichtern, die virtuos übertragen worden sind, selbst im Fall „großer Lyrik“ – und um so mehr im Fall von Kinderliteratur, der immer noch der Ruch des Trivialen und Belanglosen anhaftet. Auch die Reime von Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz oder Robert Gernhardt waren einzig auf den deutschen Sprachbereich beschränkt und werden dies wohl immer blieben.

(Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß es durchaus Lyrik-Nachdichtungen gibt, die dem Original nicht nur gleichkommen, sondern es sogar übertreffen: das gilt etwa für englische Nachdichtungen von Gedichten von Benn und Rilke; oder umgekehrt für deutsche Fassungen von Gedichten von William Butler Yeats. Ulrich Buschs kongeniale Übertragung von Puschkins „Eugen Onegin“ braucht keinen Verglich mit dem russischen Original zu scheuen, während Ludwig Fuldas Version von Edmond Rostands „Cyrano de Bergerac“ - im selben Jahr erschienen wie das Original: 1897 – einen Sprachwitz und reimerische Virtuosität aufweist, der die französische Urfassung weit übertrifft. In anderen Sprach(paaren) gilt dies etwa für die niederländische Fassung von Vikram Seths Roman in 590 Sonetten, „The Golden Gate“, 1986 erschienen, durch Paul van den Hout, die 1995 im Amsterdamer Verlag G. A. van Oorschoot unter dem Titel „De Golden Gate“ herausgekommen ist.(*)

Auf der anderen Seite scheint es um die Kenntnis und Weitergabe der Verse von Annie M. G. Schmidt auch unter der eigenen heranwachsenden Leserschaft im eigenen Sprachbereich nicht gut bestellt zu sein („Land“ allein trifft es in diesem Fall nicht, da zu den 18 Millionen niederländischer Muttersprachler noch 7 Millionen Flamen hinzukommen). Auch in diesem Fall steht die Autorin nicht allein: bei uns dürften die wenigsten Schüler noch mit den Morgensternschen „Galgenliedern,“ mit Wilhelm Busch (abgesehen von seinen beiden bösen Knaben), mit den Versen Erich Kästners oder James Krüss‘ bekannt sein). Selbst Loriot, dessen Hoppenstedt‘sches Weihnachtsgedicht („In dieser wunderschönen Nacht / hat sie den Förster umgebracht. / Er war ihr bei des Heimes Pflege / Seit langer Zeit schon sehr im Wege“) lange eine letzte eiserne Notration „deutscher Bildung“ dargestellt hat, dürfte den wenigsten nach dem Jahr 2000 oder gar 2010 Geborenen noch präsent sein. Wahrscheinlich ist das unvermeidlich: ein solches Absinken und Vergessenwerden zeigt sich im Rückblick schon im 19. und 18. Jahrhundert, als jede neue Generation sich von den „verstaubten knastrigen Scharteken“ im elterlichen Bücherschrank mit Grausen abgewendet hat – also seitdem es so etwas wie ein „bürgerliches Leseverhalten“ überhaupt gibt.



(Annie M.G. Schmidt, Ende der vierziger Jahre)

Annie M. G. Schmidt, 1911 in der Kleinstadt Kapelle in den Provinz Zeeland zwischen den breiten südlichsten Mündungsarmen des Rheindeltas geboren und 1995 in Amsterdam gestorben, war für vier heranwachsende Generationen von Niederländern eine beständige Präsenz, deren Geschichten und naiv scheinende, aber zutiefst subversiv kleine Gedichte gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen wurden. Das galt für die eher konventionell gehaltenen Kindererzählungen, etwa die kurzen, nur eine Seite umfassenden Geschichten um Jip und Janneke, die sich an eine Leserschaft (bzw. Zuhörerschaft) im Alter von 5 bis 8 wenden. Sie erschienen zwischen 1952 und 1957 in wöchentlicher Folge auf der Kinder-Beilage der Tageszeitung „Het Parool“ und von 1953 bis 1960 in acht schmalen Bänden. Es galt für ihr meistgelesenes Buch für ein etwas älteres Publikum, „Minoes,“ aus dem Jahr 1970. Darin geht es um die Abenteuer einer kleinen Katze, die an den ungeklärten Abwässern eines Chemiewerks nippt und sich infolgedessen in ein junges weibliches Exemplar der Spezies der zweibeinigen Dosenöffner verwandelt sieht. Allerdings behält sie ihre Beherrschung der Katzensprache bei – wodurch sie dem hilfreichen Menschen namens Tibbe, der sich ihrer annimmt und sie mit den merkwürdigen Gebräuchen in dieser Welt vertraut macht (nicht unähnlich Eliza Doolittle aus „My Fair Lady“), hilft, bei seinem Beruf als Kleinstadt-Zeitungsreporter Erfolg zu haben - ungeachtet seiner unüberwindbaren Menschenscheu. Der Titel der deutschen Übersetzung, „Die geheimnisvolle Minusch,“ gibt dem Leser einen Hinweis auf die korrekte Aussprache ihres Namens. Überhaupt behält Minusch auch als Menschenmädchen allerlei Katzenangewohnheiten bei, vom nächtlichen Herumstromern bis zum Sehen im Dunkeln. (In Terry Pratchetts Scheibenwelt-Roman „Moving Pictures“ heißt es in einem ähnlichen gelagerten Fall: „‘Ich habe selber viel von einer Katze,‘ sagte sie. ‚Ach, wirklich?‘ fragte eine leise Stimme: ‚Wäscht du dich immer mit deiner eigenen Spucke?‘“ Anders als bei Loriot kann Gaspode der Wunderhund bei Sir Terry tatsächlich sprechen.





Minusch, wie sie leibt und lebt: „Sie nahm die Gräte aus dem Mund und lächelte freundlich. Ihre grünen Augen standen ein wenig schräg. ‚Verzeihen Sie, Meneer,‘ sagte sie. ‚Ich habe ihr auf ihrem Dach bei Ihrer Katze Fluff gesessen. Und da roch es so köstlich. Und so bin ich durch das Dachfenster geklettert.“ Illustration von Carl Hollander (1934-1995) aus der Erstausgabe von „Minoes“ von 1970. Allerdings hat der gewandelte Zeitgeist diesen „Paratext“ (wie Jean Genette dergleichen genannt hat) mittlerweile entsorgt. Das Exemplar, das auf meinem Regal steht, stammt aus der 28. Auflage von 2003 und verzichtet auf sämtliche Illustrationen. Das Bild oben habe ich dem 1991 erschienenen Dokumentationsband „Altijd acht gebleven: over de kinderliteratuur van Annie M. G. Schmidt“ entnommen, den Murk Salverda und Erna Staal als 38. Band der Reihe „Schrijversprentenboek“ herausgegeben haben.


Und es gilt in ganz besonderem Maß für die kleinen Gedichte, die Annie M. G. Schmidt (die Initialen stehen für Maria Geertruuda) zwischen dem 1. Oktober 1949 und ihrem Ausscheiden aus der Redaktion der Zeitung 1957 fast jede Woche in der Kinderbeilage von „Het Parool“ veröffentlichte und die ab 1950 in jährlicher Folge in Buchform beim Verlag De Arbeiderspers, zunächst mit Illustrationen von Wim Bejmour, nachgedruckt worden sind. (Nicht alle sind sie knapp und kurz gehalten: die drei Bände der Abenteuer des Schafs Veronica, zwischen 1951 und 1960 aus „Het Parool“ nachgedruckt, umfassen jeweils gut 450 Zeilen, die sich auf je 60 Buchseiten verteilen).

Auf jeden Fall zeichneten sich diese Verse durchweg durch einen fröhlichen verneinenden Anarchismus aus, einer Absage an alle Autoritäten, der in der niederländischen Kinderliteratur neu war – und nicht nur dort: für Schweden ist diese Entwicklung mit den Büchern von Astrid Lindgren verbunden, die nicht nur ihrem ersten deutschen Verlag einen heiligen Schreck aufgrund ihrer prinzipiellen Aufmüpfigkeit einjagten. Es war übrigens Astrid Lindgrens vehementes Eintreten für „Missan,“ wie Minusch in der schwedischen Übersetzung, 1989 im Verlag Bergh erschienen, genannt wird, das dem Buch den Rang eines schwedischen Kinderbuchklassikers eingebracht hat.

De regenworm en zijn moeder

Er was een regenworm in Sneek
die altijd naar de sterren keek,
en fluisterde: hoe schoon, hoe schoon!
Zijn moeder zei: Doe toch gewoon,
kijk naar beneden naar de grond,
dat is normaal, dat is gezond,
kijk naar beneden, zoals ik.
En toen? Toen kwam de leeuwerik!
Het wormpje, dat naar boven staarde,
zag hem op tijd en kroop in d’aarde,
maar moe die naar beneden keek,
werd opgegeten (daar in Sneek).

Dus doe nooit wat je moeder zegt,
dan komt het allemaal terecht.

Der Regenwurm und seine Mutter

Es war ein Regenwurm in Spann
Der sah sich gern die Sterne an.
Und flüsterte: wie hübsch! Wie fein!
Die Mutter sprach: laß das doch sein!
Und konzentrier‘ dich auf den Grund
Das ist normal, das ist gesund.
Das andere ist einerlei!
Und dann? - Die Lerche kam vorbei.
Das Würmchen sah ins Himmelreich
Und sah sie und verkroch sich gleich.
Doch Mama sah den Boden an
Und wurd‘ gefressen (dort in Spann).

Hör nie auf das, was Mutter spricht,
Dann droht dir nie kein Unglück nicht.

II.

Annie M.G. Schmidt (die beiden Mittelinitialen sind in ihrem Fall obligatorisch, egal, ob durch einen Punkt getrennt oder zu einer Doppelletter zusammengezogen) studierte zunächst Jura, arbeitete dann aber nach einem einjährigen Deutschlandaufenthalt 1931 als Bibliothekarin und erwarb im November 1940 ihr Diplom als Bibliotheksleiterin bei der „Centrale Vereeniging voor Openbare Leeszalen en Bibliotheken.“ Von Anfang 1941 bis kurz nach Kriegsende leitete sie die Stadtbücherei in Deventer, wo sie sich mit dem von den deutschen Besatzern eingesetzten Bürgermeister Ärger einhandelte, weil sie sich weigerte, die von der deutschen Zensur verbotenen Bücher aus den Regalen zu räumen oder im Lesesaal die Zeitungen auszuhängen, die aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden weiterhin verlegt werden durften – wie etwa die auflagenstärkste Tageszeitung der Niederlande, die „Volkskrant,“ der die Kollaboration nach Kriegsende ein Publikationsverbot eintrug, das erst 1949 im Rahmen der Beendigung aller solcher Restriktionen aufgehoben wurde. Im März 1946 gab sie den Posten auf, da unter den nachkriegsbedingten Knappheiten und der galoppierenden Inflation keine gesicherte Existenz mehr möglich schien, und wurde Mitarbeiterin in der Amsterdamer Redaktion der Tageszeitung „Het parool.“ (Die Rationierung von Lebensmitteln und Kleidung wurde 1948 aufgehoben; die Deutschen hatten durch Reichskommissar Seyß-Inquart die niederländische Verwaltung per Dekret dazu gezwungen, Rüstungsausgaben durch das Drucken von Geld zu „decken,“ was unmittelbar nach Kriegsende eine Hyperinflation zur Folge hatte.) 1990 schrieb sie darüber:

"Es war mir eine große Ehre - es war ein wahres Wunder. Aus dem zerschossenen Vlissingen, in dem man überall die Spuren der letzten Überschwemmung sah, konnte ich nach Amsterdam zurückkehren; mit einem unvorstellbar hohen Gehalt: mehr als hundert Gulden pro Monat! Und dann noch bei einer Zeitung, also mitten im Weltgeschehen, im Hier und Jetzt. Verglichen damit war die Bücherei nur ein Museum, ein Lagerhaus, in dem sich das stapelte, was in längst vergangenen Tagen aufgeschrieben worden war. Halleluja: was für ein Neuanfang für die Annie aus der Provinz!" (in: Lambiek Berends, Hg., Het Parool 1940-1990, Verlag Bert Bakker, 1990)


„Het parool“ war nach der Besetzung der Niederlande im Februar 1941 am Untergrundzeitung gegründet worden; Ende 1944 hatte das Blatt trotz vehementer Verfolgung durch die Besatzer eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreicht, zwei Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht am 4. Mai 1945 erschien die erste regelmäßige Ausgabe. In den ersten Jahren aufgrund der Papierrationierung war der Umfang auf 4 Seiten beschränkt. Die politische Ausrichtung der Zeitung war im allgemeinen sozialdemokratisch, ohne daß dies von der Redaktion allzu streng gesehen wurde. Annie Schmidt arbeitete zunächst in der „Afdeling documentatie“ (mit anderen Worten, sie schob Aktenordner hin und her und heftete Zeitungsausschnitte an der richtigen Stelle ab), legte aber auch dem Chefredakteur ab und an kleine Notizen und Gelegenheitsverse ihrem Chefredakteur Gerrit van der Heuven Goedhart auf den Schreibtisch (van der Heuven Goedhart war während des Kriegs in London Justizminister der niederländischen Exilregierung gewesen und hatte den Posten des Chefredakteurs von „Het parool“- damals noch mit einer Auflage von rund 350.000 Exemplaren - Ende August 1945 übernommen; er gab ihn im Dezember 1950 auf, um der erste Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu werden). Wie aus Briefen Schmidts an ihre Mutter erhellt, die 1999 veröffentlicht worden sind, wurden in der Zeitung gut 20 kleine Texte ohne Namensnennung gebracht, bevor am Heiligabend 1946 die ersten drei Gedichte unter ihrem eigenen Namen erschienen: „Zo zijn wie nou,“ „Kerstliedje“ und „Adriaan en de kerstkabouters“ auf der von Hora Adema betreuten Kinderseite „Parool Junior.“ – die ersten von vielen Hunderten. Allein für das Kalenderjahr 1953 weist die Bibliographie von Marcel Raadgeep, die 2009 erschienen ist, für „Het parool“ insgesamt 154 Texte aus (Marcel Raadgeep, „Ik krijg zo’n drang van binnen. Bibliographie van het werk van Annie M.G. Schmidt,” Amsterdam: Verlag Wombat), darunter befindet sich auch ab Januar 1956 eine jetzt wieder anonym erscheinende monatliche Kolumne über Astrologie mit dem Titel „Dit staat er in de sterren.“



(Annie M.G. Schmidt aus einem Bericht der Illustrierten "Margriet" aus den fünfziger Jahren)

„Pas op voor de hitte” erschien zuerst in der Ausgabe von „Het parool“ vom 5. Juni 1954 und im gleichen Jahr in Buchform in der fünften Folge der Nachdrucke im Verlag De Arbeiderspers, „De lapjeskat“ - nach den Bänden „Het fluitketeltje en andere versjes“ (1950), „Dit ist de spin Sebastiaan“ (1951), „Viertien uilen“ (1952) und „De toren van Bommelekom“ (1953). Die „lapjeskat“ des Titelgedichts ist ein in Heimarbeit gefertigtes Stofftier, eben aus Läppchen oder Flicken zusammengenäht. Daß ich mir bei der Nachdichtung ein paar kleine Freiheiten erlaubt habe, liegt an der großen lexikalischen Nähe der beiden Idiome, was das Finden passender Reime etwas kniffliger gestaltet als bei entsprechenden Übungen etwa aus dem Französischen. Darin könnte der Grund liegen, warum es kaum Übertragungen formstrenger niederländischer Lyrik gibt & sie sich, wo es sie gibt, etwa Lucebert („Die Silbenuhr,“ Suhrkamp 1981) oder Cees Nooteboom („Licht überall“ und „Mönchsauge,“ ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, 2013 resp. 2018) es sich in der Regel um reimlose, zumeist freie Verse ohne strenges Metrum handelt, wie sie für den lyrischen „International Style“ seit Ezra Pound und T. S. Eliots „The Waste Land“ bestimmend ist, der eine Eins-zu-Eins-Transponierbarkeit ohne Reibungsverlust garantiert – so wie es Hans Magnus Enzensberger 1960 im Vorwort zu seinem „Museum der modernen Poesie“ umrissen hat, dafür aber mit einem Verlust der strengen Form und des Reims verbunden ist. Bemerkenswert ist es jedenfalls, daß Übertragungen von Lyrikern, die sich weiterhin in „klassischer Form“ bewegen, wie Jan Jacob Slauerhoff, Gerrit Achterberg, Elisabeth Ejbers oder Gerrit Komrij, im Deutschen schlicht durch Abwesenheit glänzen.

Eine der wenigen Ausnahmen bilden die Gedichte des Bändchens „Ein Teich voller Tinte,“ die Christian Golusda, im Zivilstand früher Psychiater und im Ruhestand zum Lyriker und Übersetzer geworden, 2016 beim kleinen Moritz-Verlag herausgebracht hat. Die niederländische Auswahlausgabe, mit großformatigen Illustrationen von Sieb Posthuma versehen, die 2011 als „Een vijver vol inkt“ bei Querido in Amsterdam erschienen ist, verteilt 28 der bekanntesten Gedichte von Annie Schmidt über 96 Seiten; die 18 von Golusda ausgewählten Gedichte bringen es auf 56 Seiten.



Case in point: im Original liegt das „Täßchen“ (ohne Kaffee) in einer Pfütze oder Lache – aber auf das erste reimt sich im Deutschen nur die Mütze, die Grütze oder die Stütze. Und weiter unten würde „ich bring dir gleich das Vermißte / aus der alten Flickenkiste“ auch nur die zweite Hälfte der Zeile exakt wiedergeben. Der "Dam" ist der größte, zentral gelegende Platz im Amsterdam, weltberühmt in den Niederlanden; beim Schloß handelt es sich um den daran gelegenen Königspalast.



Das titelgebende Gedicht des Bandes „De lapjeskat“ – das als Kinderlied für eine der zahlreichen Bühnenrevuen, für die A.M.G.S. Texte geliefert hat, gedacht war - erschien zuerst in „Het parool“ am 21. November 1953; „De regenworm en zijn moeder“ war ein Beitrag ohne vorherigen Zeitungsabdruck in der letzten ihrer jährlichen Sammlungen bei De Arbeiderspers, „Dag, meneer de kruidenier“ aus dem Jahr 1960. (Ein kruidenier bezeichnet im Holländischen einen Lebensmittelhändler, abgeleitet vom „kruid,“ dem Kraut, aber bei „Guten Tag, Herr Krämer“ denkt jeder deutsche Leser unvermeidlich an den Familiennamen, nicht den Berufsstand.) Das abschließende anarchistische Motto hat auch der ersten Biographie, die über die Autorin geschrieben worden ist, den Titel gegeben: Joke Linders, „Doet nooit wat je moeder zegt: Annie M. G. Schmidt, de geschiedenis van haar schrijverschap,“ Amsterdam: Querido, 1999.

De lapjeskat

Voeten vegen, voeten vegen, zei de lapjeskat
Wat een regen, wat een regen, zei de lapjeskat
Dag meneertje Teddybeertje.Wat een weertje, wat een weertje
Ik heb lange tijd geen visite meer gehad, had had
Voeten vegen, voeten vegen, zei de lapjeskat

Mag ik binnen, mag ik binnen, zei de teddybeer
Ik weet niet wat ik moet beginnen, want ik kan niet meer
Kunt u mij een lapje lenen, ik heb zo’n last van wintertenen
En mijn voeten doen de hele dag zo zeer, zeer zeer
Mag ik binnen, mag ik binnen, zei de teddybeer

In de keuken, in de keuken, zei de lapjeskat
Gaat het jeuken, gaat het jeuken, oh wat naar is dat
Kijk hier heb ik een verbandje uit het ouwe lappenmandje
En dan maak ik dat verbandje lekker nat, nat nat
Dat is dat, zei de kat. En ziezo, zei de kat. Dat is het, zei de lapjeskat



"Die Flickenkatze"

Schuh abtreten, Schuh abtreten, sprach die Flickenkatz
Soviel Regen, ungebeten, sprach die Flickenkatz.
Tag, das Herrchen Teddybärchen, was für ein Rabatz!
Hier war lange kein Besuch mehr, hatte lange keinen Schwatz
Schuh abputzen, nichts verschmutzen! sprach die Flickenkatz.

Darf ich reinkommen und brommen, sprach der Teddybär
Ich fühl mich heut ganz beklommen, denn ich kann nicht mehr.
Hab Probleme mit Frostbeulen, ach, mir ist glattweg zum Heulen
Und die Füße tun mir so weh, denn sie sind so schwer.
Darf ich reinkommen und brommen, sprach der Teddybär.

In die Küche, in die Küche, sprach die Flickenkatz
Tuts dich jucken? Laß mal gucken, jammerschade das!
Ich hol dir eine Bandage aus der Flicken-Etalage
Und dann mach ich den Verband noch tüchtig naß.
Und los geht es, und da steht es, fertig! sprach die Katz.

(Jeuken/keuken: Der Kleine Zyniker sich an dieser Stelle das Beiseit nicht verkneifen, daß der einzige Reim auf „Küche“, der jedem geläufig ist, der das Niederländische als Fremdsprache erlernt, das obszöne „neuken in de keuken“ ist, dessen Übersetzung mir der Anstand verbietet, obschon Ilja Leonard Pfeijffer in der monumentalen Zeitgeistanalyse in seinem Roman „Grand Hotel Europa“ von 2018 ausgesprochen freizügig mit diesem Verb hantiert.)

„Gesang auf Niederländisch“ gilt in deutschen Zuhörerkreisen – nicht zu Unrecht – als eine ästhetische Zumutung. Zumal holländische Schlager von dem Anspruch zeugen, vergleichbare deutsche Produkte textlich und musikalisch noch zu unterbieten. (Ausnahmen wie die 11 Alben, die der Liedermacher Erik de Jong in den letzten 23 Jahren unter dem Künstlernamen „Spinvis“ herausgebracht hat, zählen zu den Ausnahmen, die diese Regel bestätigen). Dennoch setze ich einmal, aus Dokumentationszwecken, eine Darbietung von „De lapjeskat“ hierher, die aus Angelegenheit der Silvestersendung des Senders VPRO am 31. Dezember 1963 durch die Kabarettistin Hetty Blok (1920-2012) entstanden ist (ab Minute 3:15). Die VPRO war eine der fünf Sendegemeinschaften, die 1926 eine Rundfunklizenz erhielten, um ihre Programme über den Sender von Radio Hilversum ausstrahlen zu können; sechs Stunden pro Tag. Nach dem Start des niederländischen Fernsehens im Jahr 1955 erweiterte VPRO sein Programmangebot dementsprechend.



Annie M.G. Schmidt selbst schrieb zusammen mit Wim Ibo für den Rundfunksender VARA zwischen 1952 und 1958 zusammen die 91 Folgen der Hörspielserie „In Holland staat mijn huis,“ in der die Alltagsabenteuer der „Familie Doorsnee“ (richtig: „Durchschnitt“) satirisch überzeichnet dargeboten wurden, untermalt von zahlreichen Liedbeigaben. Der bekannteste Song aus dieser Sendung, „Ali Zyankali,“ würde heute wohl aufgrund möglicher Mißverständnisse durch Anhänger einer höchst friedliebenden Weltanschauung dem Publikum nicht mehr zugemutet werden, obschon der Text selbst in dieser Hinsicht völlig unverdächtig ist.

Ik ben Ali Cyaankali
De gevaarlijke vrouw van Rotterdam
Kijk ik es fijn gaan
Op de Lijnbaan
Ik zet iedereen in vuur en vlam!

En ik lok de heren mee
Naar de Kaskadee
En ik doen wat in d'r thee
En dan even later, hééh!
Dan zeg ik
Ober willu niet effe kijke dan
D'r is een persoon niet goed geworre...
Ik ben Ali Cyaankali
De gevaarlijke vrouw van Rotterdam!

Ich bin Ali Zyankali
Die gefährliche Frau von Rotterdam!
Ich geh‘s raffiniert, ganz fein an
Auf der Lijnbaan
Für mich entbrennt gleich jeder Kerl in Flammen!

Wenn ich mit den Herren geh
Immer Richtung Kaskadee
Und dann schütt‘ ich ihnen etwas in den Tee –
Und was dann passiert, oje…
Und dann sage ich beklommen
Ober, können Sie mal kommen
Hier ist wem was nicht bekommen…

(Den harten, schnoddrigen Rotterdamer Idiolekt - „ik doen“ statt des hochsprachlichen „ik doe,“ „willu effe kijke“ statt „wilt u even ééns kijken“- müsster euch selba dazudenken. Wa, Puppe? Eliza Doolittle hatte ich ja schon weiter oben erwähnt.)

Apropos Liedertexte: die beiden Beiträge, die beim allerersten Eurovisionswettbewerb, beim ersten Grand Prix de la Chanson Européenne, seinerzeit noch „Gran premio Eurovisione della canzone europea“ geheißen, abgehalten im Mai 1956 in Lugano in der Schweiz, aus den Niederlanden kamen, waren von Annie M.G. Schmidt getextet worden: „De vogels van Holland,“ gesungen von Jetty Paerl sowie „Voorgoed voorbjij,“ gesungen von Corrie Brokken. Nach dem damaligen Reglement konnten die sieben Teilnehmerländer noch mit jeweils zwei Beiträgen antreten. Für die Bundesrepublik Deutschland war es in diesem Fall Freddy Quinn mit „So geht das jede Nacht.“ Gewonnen hat den Wettbewerb die Schweiz, mit „Refrain“ von Lys Assia (die zwei Auftritte absolvierte, „Refrain“ auf Französisch gesungen; „Das alte Karussell“ auf Deutsch).

Für das niederländische Fernsehen schrieb Annie M.G. Schmidt in der Folge dann auch noch die Drehbücher der 16 Folgen der Komödienserie „Pension Hommeles,“ der „ersten echten Fernsehserie“, die in den Niederlanden entstanden ist. Sie wurde von Wim Ibo produziert und zwischen dem 5. Oktober 1957 (einen Tag nach dem Start des ersten Erdsatelliten!) bis zum 5. April 1959 durch de VARA ausgestrahlt. Auch dort gab es zahlreiche Musikeinlagen. Die Musik zu den Schmidt’schen Texten stammt in aller Regel von Cor Lemaire (1908-1981)

III.

Ich habe oben erwähnt, daß das Oeuvre von Annie M. G. Schmidt für drei oder vier Generationen niederländischer Leseranfänger eine nahezu naturgebene Präsenz dargestellt hat, etwas „typisch Holländisches“ wie Tulpen, Windmühlen oder für deutsche Kinder die Augsburger Puppenkiste. Dem hat auch der „Kanon der niederländischen Geschichte“ („Canon van Nederland“) Rechnung getragen, der im Auftrag der niederländischen Regierung 2006 – während der Regierung des Kabinetts Balkenende III - für den Geschichtsunterricht zusammengestellt worden und 2009 als verpflichtender Unterrichtsstoff eingeführt worden ist. In diesem Rahnem sollen innerhalb von 50 Lerneinheiten ebensoviele Aspekte aus der Geschichte und der Kultur des Landes den Schülern nähergebracht werden, um ihnen einen handfesten Eindruck davon zu vermitteln, was diesen Landstrich bestimmt und einzigartig macht. Das Gefasel der ehemaligen „Integrationsbeauftragten“ der Deutschen Bundesregierung, Aydan Özoguz, die im Mai 2017 erklärte, eine „spezifisch deutsche Kultur sei jenseits der Sprache nicht feststellbar,“ wäre in den lagen landen ein Ding der Unmöglichkeit. Zu den abzuhandelnden Themen gehören etwa der römische Limes, der beginn der Christianisierung durch den heiligen Willibrord, die Fahrten der Vereenigden Oostaziatische Compangie, VOC, im Auftrag der Amsterdamer „Heren zeventien,“ das Erscheinen von Multatulis Roman „Max Havelaar“ 1860 als Gegengift zu den kolonialen Ansprüchen, das Leben und Werk Vincent van Goghs, die Sturmflut von 1953, die den Anstoß zur endgültigen Einpolderung des Ijsselmeers gab, die Erschließung des größten Erdgasfeldes Europas, dem Groningenveld, in dem die Förderung 1963 begann und die Philosophie Spinozas, die im 17. Jahrhundert alle Erkenntnis und alles Wissen, auf jedem Gebiet, von den überlieferten Autoritäten befreite und einzig auf Empirie und Logik gründete; das Leben Anne Franks als beispielhaft für die Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten, und das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 als Beispiel, wohin eine zu schwache, unentschlossene, auf Neutralität abzielende Politik im Kriegsfall führen kann. (Nebenbei verdankt sich die entschlossene, tatkräftige Unterstützung der Ukraine durch die niederländische Regierung genau dieser Erfahrung; nämlich im entscheidenden Moment versagt zu haben.) Die 50 Einheiten finden sich hier kurz vorgestellt. Und Unterrichtseinheit 45 befaßt sich mit dem Werk von Annie M. G. Schmidt. In der deutschsprachigen Fassung des Netzauftrittes der holländischen Regierung heißt es dazu:

"Tu niemals, was deine Mutter dir sagt, dann wird alles gut." Diese Worte sind typisch für die Lyrikerin und Autorin Annie M. G. Schmidt. Sie spiegeln die Frische, die Komik und die Eigenwilligkeit wider, die vielen ihrer Gedichte, Lieder, Bücher, Theaterstücke, Musicals und Hörspiele eigen sind.

Annie M. G. Schmidt wurde 1911 als Pfarrerstochter auf der Halbinsel Zuid-Beveland in der niederländischen Provinz Seeland geboren. Sie war ein begabtes Kind, das mit Staunen die Welt entdeckte. Im Alter von 14 Jahren schrieb sie bereits ihre ersten Gedichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie bei der Amsterdamer Zeitung "Het Parool", wo sie die Illustratorin Fiep Westendorp kennenlernte. Gemeinsam schufen sie die Figuren Jip und Janneke (in den deutschen Übersetzungen: Heiner und Hanni), deren Erlebnisse zwischen 1952 und 1957 täglich in einer Zeitungsreihe veröffentlicht wurden. Dies war der Beginn einer lebenslangen Zusammenarbeit, aus der unter anderem Bücher wie "Pluck mit dem Kranwagen", "Otje und ihr Papa Toss" und "Floddertje" hervorgegangen sind.

Mit ihren eigenwilligen Texten gehörte Annie M. G. Schmidt zu den einflussreichsten und zugleich sanftmütigsten Kritikern des braven niederländischen Bürgerlebens. Mit ihren Werken hat Annie M. G. Schmidt Kinder wie auch Erwachsene inspiriert. Allein die "Jip en Janneke"-Reihe verkaufte sich millionenfach; ihre Bücher wurden in unzählige Sprachen übersetzt.


Ein Blick auf die Netzseiten von bol.com, dem niederländischen Buch-Versandgroßhandel und ein Gang in die Kinderbuchabteilungen holländischer Buchhandlungen legen allerdings die Befürchtung nahe, die ich weiter oben geäußert habe: daß das Oeuvre von Annie Schmidt auch in ihrem Heimatland langsam aber sicher aus der „eisernen Ration“ künftiger Leser verabschiedet. Von den „Jip en Janneke“-Bänden (in Einzelbänden oder als Gesamtausgabe) und dem Auswahlband „Het mooiste van Annie M.G. Schmidt,“ die 2021 erschienen ist und deren 280 Seiten gleichmäßig auf Prosa wie Lyrik entfailen, einmal abgesehen, sind nur noch vier oder vier ihrer bekanntesten Bilderbücher präsent. Von den insgesamt über 100 Titeln, die zu ihren Lebzeiten verlegt worden sind, sind mindestens drei Viertel nur noch antiquarisch erhältlich. Das ist in den Niederlanden, in denen die Auflagezahlen aufgrund der kleineren Zahl an potentiellen Kunden erheblich kleiner ausfallen als in deutschen und ganz besonders in englischen Sprachbereich (wobei im letzten Fall noch eine gar nicht so unbedeutende Anzahl von Nicht-Muttersprachlern hinzukommen dürfte; was beim Niederländischen eher auszuschließen ist) der Normalfall – aber bei einem solchen „literarischen Urgestein“ dürfte das ein Alarmzeichen sein. Immerhin sorgen die (vergleichsweise) recht hohen Auflagen, die die Nachdrucke ihrer Bücher in besseren Zeiten erlebt haben, dafür, daß die Preise in den Antiquariaten wohltuend zivil ausfallen: mein Exemplar von „De lapjeskat“ aus dem Jahr 1955, also dem Jahr der Erstausgabe, hat mich gerade einmal 4 Euro gekostet. (Auch die oben erwähnte deutsche Ausgabe „Ein Teich voll Tinte“ ist mittlerweile beim Verlag nicht mehr lieferbar.)

* * *

Coda eins:



Der erste namentlich gekennzeichnete Beitrag von A.M.G.S. in „Het parool“ in der Ausgabe vom 24. Dezember 1946:

„Weihnachtsliedchen“

Am Abend schien ein weißer Stern
- das war vor langen Zeiten -
Und man sah die Drei Könige von fern
Über die Hügel reiten.
Und die Hirten und Lämmer, sie standen dort
Und Ochs und Esel, und sie gingen nicht fort
Rings um den Stall blieben sie alle vor Ort
Doch das Kind war damit noch nicht zufrieden.

Es kamen die Tiere aus dem ganzen Land
- ach, das war vor so langer Zeit -
Ein Eisbär und ein Elefant
Standen stille dort Seit an Seit.
Ein Hirsch, ein roter Fuchs und ein Hund
Das Kind sah's und staunte mit offenem Mund
Doch noch immer war es nicht zufrieden.

Dann kamen vom Tal her in endloser Reih'
- die Zeiten sind lange verflogen -
Viele tausend Kinder herbei.
Durch den Schnee sind sie gezogen.
Und vor der Krippe standen sie dann
und stimmten das Kyrie Eleison an
und das Kind war endlich zufrieden.

* * *

Coda 2:

* Als kleines Belegstück setze ich einmal das zweite Sonett aus dem zweiten Kapitel von „The Golden Gate“ her, zuerst im Original und dann in van der Houts Nachschmeckung.

The fitful pen moves on the paper.
It pauses to delete a phrase.
Doodles a face, attempts to caper
Across a dubious word, but stays
Poised in midair. ‘If injudicious,
At least this won't be meretricious;
But individuality -
How do I strike that note? Let's see,
If I used....’ Outside, day is dawning.
Opus complete, and at the sill
She stands in thought. Eight. Nine. But still
The city sleeps. (Ah, Sunday morning,
Most blesséd of all times.) She sets
Her breakfast out, and feeds the pets.

Haar pen vormt, jachtig schrijvend, woorden,
stokt vaak: een zin wordt doorgekrast,
een poppetje getekend, voor de
welluidendheid iets aangepast.
‘Ik vind niet dat het lekker loopt nog,
maar wat er eerst stond, was goedkoop toch?
Wat meer op de persoon gericht...
Een stenografisch minnedicht...?
Eens kijken..’ Bij het ochtendgloren,
haar opus af, staat Jane aan 't raam.
Acht.. negen... tien uur hoort ze slaan.
De stad blijft slapen, zo te horen.
(Ach, Dag des Heren, vrije tijd!)
Jane maakt voor mens en dier ontbijt.



U.E.

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