Auf seinem Facebook-Profil postete WELT-Autor Alan Posener kürzlich ein Bild von einer Frau in einem Ganzkörper-Schwimmanzug, das um 1900 aufgenommen sein mag, zusammen mit dem Kommentar „Am besten nachträglich verbieten, was Oma da getragen hat“. Er bezieht sich offensichtlich auf das im französischen Cannes kürzlich erlassene Verbot so genannter Burkinis. Posener macht sich hier mit einem Beispiel für gesellschaftlichen Liberalismus stark, das aus mehreren Blickwinkeln schief ist. Schon der Domainname (victoriana.com), von der das Bild stammt, beleuchtet das Problem schlaglichtartig. Zur damaligen Zeit war man aus religiös-moralischen Gründen gezwungen, solche Schwimmanzüge zu tragen; wäre damals eine Frau bekleidet mit einem heutigen Bikini in einer öffentlichen Badeanstalt aufgetaucht, wäre sie zweifellos von der Sittenpolizei verhaftet worden. Ganz abgesehen davon, daß sie ein „öffentliches Ärgernis“ dargestellt hätte und mit deutlich aggressiver Ausgrenzung, möglicherweise sogar mit physischen Attacken durch die solcherart „überforderte“ Bevölkerung hätte rechnen müssen. Genau hier aber besteht die (sicherlich unfreiwillige) Parallele Poseners zur heutigen Situation.
Der anything-goes-Liberalismus, für den sich Posener immer wieder stark macht, hat eine zentrale Voraussetzung, nämlich daß er auf prinzipieller Gegenseitigkeit beruht. Daß also, um im Beispiel zu bleiben, die Trägerin eines Burkinis (und ihre männliche Begleitung) einer Bikiniträgerin mit der gleichen Toleranz und Offenheit begegnet wie das umgekehrt der Fall sein mag. Genau dies ist jedoch nicht anzunehmen. Der Burkini, ja die Verschleierung muslimischer Frauen insgesamt, ist Ausdruck eines strengen religiösen (oder auch kulturellen) Konservatismus, der gerade nicht von jenem gesellschaftlichen Liberalismus zeugt; der diesen auf lange Sicht nicht einmal neben sich dulden wird. Die Tatsache, daß einer mit kurzem Rock bekleideten Frau bereits heute dringend davon abzuraten ist, bestimmte Stadtteile der Metropolen aufzusuchen, zeugt von genau diesem Vorgang.
Das Konservative bedrängt und verdrängt auf lange Sicht das Liberale, wenn man es zuläßt. Die Bikiniträgerin, die sich zunehmend abwertenden Blicken oder obszönen Bemerkungen ausgesetzt sieht, wird früher oder später das städtische Schwimmbad meiden. So verändern sich Mehrheitsverhältnisse, und am Ende sind heutige Schwimmbäder von den Badeanstalten des viktorianischen Zeitalters kaum mehr zu unterscheiden.
Hier wird die große Schwäche des gesellschaftlichen Liberalismus sichtbar, die allerdings ebenso für den politischen Liberalismus gilt und die doch zugleich dessen größte Stärke ist: die Distanz zu jedwedem Kollektivismus, das In-Ruhe-Lassen des anderen, die Ablehnung von Verboten. Der Liberale zieht sich, wenn ihm etwas unangenehm wird, tendenziell ins Private zurück, überläßt damit jedoch den Illiberalen das Feld.
Kann man gesellschaftlichen Liberalismus „verordnen“, indem man Verbote, etwa von Burkinis, erläßt? Nein, verordnen kann man ihn so nicht, aber man kann ihn, vermutlich nur auf diese Weise, schützen.
Andreas Döding
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