30. Juli 2015

Hitzewellenlektüre: Heinrich Nowak, "Die Sonnenseuche"

Obwohl der turnusgemäß zu den Großen Ferien ausgebrochene Sommer sich mittlerweile etwas verkühlt hat - kein Wunder bei der feuchten Witterung und Mittagstemperaturen von 15° C - und "Rekordwerte" von mehr als 40 Grad wie am 5. Juli vorerst Schnee von gestern sind (zu diesem "Temperaturrekord" sh. diesen Beitrag auf dem Blog des Europäischen Zentrums für Klima und Energie [EIKE]) - oder vielleicht gerade als Kontrastprogramm dazu - bietet sich der Blick in einen literarischen Text an, der den Sommer in Höchstpotenz nicht nur als Hintergrund des Geschehens, als lähmende, glühende Kulisse einer stauberstickten Metropole wie beispielsweise das mörderische Kammerdramaspiel von Alfred Hitchocks "Rope" von 1948, Albert Camus' "L'Entranger" oder das phantasmagorische Kalkutta in Dan Simmons erstem Roman "Song of Kali" (1985) hat, sondern dessen einziger Fokus auf der Präsentation der blendenden, erblindenden Hitze liegt. Und der vor genau* 100 Jahren erschien.

Ich lebe in Littehota, diese Stadt liegt eng an den Meerbusen amgeschmiegt, dort, wo der Minauka in einem großen Trichter in den Ozean mündet. [...] Seit etwa vierzehn Tagen liegt eine unerhörte Hitzewelle über der Stadt mit den viereinhalb Millionen Einwohnern. Die Quecksilbersäule des Thermometers ist bis zu einem unglaublich hohen Punkte gestiegen.

Littehota liegt tagsüber in der Sonnenglut da, wie der verwesende Kadaver eines großen vorsintflutlichen Tieres. Beim Anbruch des kühleren Abends beginnen sich Tausende von Menschen-Maden in ihm zu regen.
[...]
Ich traf heute mit einem mir wohbekannten Arzt zusammen, einem hervorragenden Spezialisten für Kehlkopfentzündungen.
Es entspann sich folgender Dialog:
Ich: "Was sagen Sie zu dieser neuen Krankheit, die unsere Stadt verseucht hat?"
Er sah mich an mit einem großen Fragezeichen im Gesicht.
Ich: "Ich meine die Sonnenseuche!"
Der Spezialist: "Was meinen Sie?"
Ich: "Die Sonnenseuche! - So, Sie wissen gar nichts von dieser Krankheit?! Hören Sie! Passen Sie auf: es gibt da eine ganz neue, erst vor kurzem entdeckte Art von Bazillen, man kann sie Sonnenbazillen nennen. Sie existieren nur bei abnorm starker Hitze. Gewöhnlich rinnen sie mit der warmen Luft durch Ohren, Nase, Mund und Augen in den menschlichen Körper. Sie dringen in das Gehirn ein und richten dort eine furchtbare Verwirrung an. Die Geschichte endigt unbedingt nach zwei bis drei Stunden letal. Heilung ist fast ausgeschlossen; man müßte erst den Antibazillus finden."

Die 30 Seiten umfassende Erzählung erschien im August 1915 in der achten Ausgabe des 3. Jahrgangs der Berliner Avantgarde-Literaturzeitschrift Die Weissen Blätter, deren Herausgeberschaft kurz vorher der junge deutsch-französische Schriftsteller Rene Schickele übernommen hatte. Ihr Autor, der Wiener Student Heinrich Nowak (1890-1955), wird in den wenigen Arbeiten, die mehr tun als nur seinen Namen aufzulisten, als "vergessener Expressionist" bezeichnet. Das tut ihm zuviel Ehre an: Nowak, der nach dem Ende seines Philosophiestudiums an der Wiener Universität als Journalist für die Neue Freie Presse arbeitete, war ein dilletierender Amateur, der einige Texte bei den Literaturblättern seiner Zeit, wie Fritz Pfemferts Aktion, unterbrachte und 1913 auf eigene Kosten ein schmales Broschürchen Gedichte (Die Tragische Gebärde) drucken liess. Drei knappe Prosatexte neben unserer Story, ein halbes Dutzend kurze Notizen über den ihm geistig verwandten Alfred Ehrenstein, Egon Schiele und Adolf Loos sowie 22 Gedichte: das umfaßt das gesamte Oeuvre eines nicht so sehr Verschollenen wie vielmehr Nie Richtig Gewesenen.

Ich lese eben in den Zeitungen:
65 Selbstmorde wegen abnormer Hitze.
(Maschinist der Straßenwalze läßt sich zerquetschen.
8 Selbstmorde in der Subway!)
Es folgt der Text mit Einzelheiten.

Ich liege nackt im Bette, eine Eiskompresse auf der Stirne.
Ich denke, und meine Gedanken formen Gesichte - fremdes Erleben. Ich krieche in die Psyche eines andern, wie man in die abgezogene Haut eines geschlachteten Tiers kriechen könnte.
 
Edgar Allan Poe, dessen Erzählungen die Muster für phantastische Erzählungen amerikanischer (sowohl nord- wie süd-), russischer und europäischer Kurzgeschichtenautoren seit etwa 1870 bereitstellte (sofern sie sich nicht an der klassischen Spuk- oder Gespenstergeschichte orientierten, die sich zwischen des Klassik des 18. Jahrhunderts und der frühen Romantik herausgebildet hatte: Heinrich von Kleists "Bettelweib von Locarno" gibt ein gutes Beispiel für Bauart und Affekt dieser Gattung); Poe also, der in seiner stilistischen Grellheit in Kombination mit einer logischen Unerbittlichkeit und einer Vorliebe für schrille, oft groteske Grausamkeit auf Erzähler und Dichter der Nachfolgeneration von Charles Baudelaire, Arthur Conan Doyle oder in Deutschland Hanns Heinz Ewers wie eine Offenbarung wirkte, so wie die Entdeckung der pittura metafisica von Giorgio de Chirico auf zwei Generationen  von jungen expressionistisch experimentierenden Malern wie Rene Magritte, Paul Delvaux oder Franz Radziwill wie ein Schlag nachwirkte und Surrealisten hnterließ; Poe also hinterließ solchen Adlaten in spe zwei Arten des Erzählens: die logische Durchdringung rätselhafter Phänomene mit rasiermesserscharfer Logik, die Erschließung neuer Spielräume, die die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Technik sichtbar machten (also beispielweise die ersten Versuche, Weltraumflüge zumindest halbwegs "realistisch" vor den Leser zu stellen: auch wenn Poe sich hier auf die Schilderung des Blicks auf die Erde aus dem Raum beschränken muss und als Transportmittel den Leser einen Ballon zumuten muss); auf der anderen Seite aber auch die gnadenlose Überzeichnung psychischer Extremzustände, des Wahns, der Getriebenheit. Das setzt nicht mehr auf die geduldige Exposition von Fakten, von logischen Ketten, sondern überrumpelt den Leser mit Schrillheit und Grellheit, die auf jede Plausibilität verzichtet. Bekannte Erzählungen von Poe in dieser Manier sind "The Black Cat" oder "The Tell-Tale Heart": der Leser folgt nicht mehr als Doktor Watson den Schlußfolgerungen von Sherlock Holmes, sondern findet sich in der Perspektive Shelly Duvalls wieder, wenn Jack Nicholson in "The Shining" beginnt, die Küchentür mit der Axt zu traktieren.

Wieder hat mich das Fieber ergriffen. Mará gibt mir ihre Chininpastillen. [Mará, die Geliebte des Erzählers,  ist Dompteuse & T'ho ihre Pantherkatze] T'ho blinzelt mich frausam und kalt an.Mein Hirn formt furchtbarste Gedanken.
Eine glühende Sandviper schlängelt sich an mir empor und ringelt sich um meinen Hals. Die Nägel meiner Finger bohren sich in weiches Fleisch. Ich spüre der Geruch der Fäulnis und Verwesung.

Ein graues Tier streckt seiner sechs Fangarme nach mir aus. Mará zückt ein Messer gegen mich. T'ho sitzt mir an der Kehle. Die Sandviper züngelt an meiner Schlagader. Ich will meine Keule nehmen... Meine Hände greifen ins Leere...
T'ho lauert auf mein Blut. T'ho haßt mich!
Ich nehme meinen Browning.
Mará stößt mir das Messer in die Brust. - Ich schieße. - Ein Knall. ---   
 
"Die Sonnenseuche" gehört zur zweiten Textart. (Tales of the "Grotesque" and the "Arabesque" lautet Poes eigene Unterscheidung der beiden Varianten: Grotesk meint hier das Übersteigerte, das Schrille-Exaltierte. Das muss nicht ins Grausige umschlagen, zumindest bei Poe nicht: aber die Versuche, dies aufs Burleske, aufs possenhaft komische zu übertragen, funktionieren noch weniger und lassen den Leser ziemlich peinlich berührt zurück.) Die Wirkung wird einzig durch die stakkatohafte Wiederholung der Sätze, den harten Rhythmus der kurzen Satzperioden erzeugt (eigentlich ist das literarischer Techno avant le lettre). Keinerlei Charakterisierung, keinerlei Nuance. Das ist feature, not bug. Der Wahn des Erzählers spiegelt sich im Wahn, der die gesamte Bevölkerung erfasst, die sich Straßenschlachten mit dem Militär liefert. 
 
Flucht der Soldaten!
Kanonen!
Stürzende Häuser - Schreien - Brand - Krieg - Krieg - Trompeten - Schüsse - Mord -
Volk schleppt singend eine erbeutete Kanone.
Sie richten sie gegen die Sonnenscheibe und schießen in die brennende Glut. 
 
Den namenlosen Erzähler packt die Sonnenseuche auch (quelle surprise! obwohl dies länger als zwei Stunden zu benötigen scheint). Er wird krankhaft eifersüchtig auf die Katze, die zwischen ihm und seiner aus nichts als dem Namen und dem "nackten braunen Leib" gestehenden Liebsten im Bett schläft; füttert sie heimlich mit rohem Fleisch, um sie wild zu machen. Nachdem das Tier seine Herrin anfällt, erschießt sie es und verlässt den Erzähler, der gerade in seinem Fieberdelir den Wald in Brand gesetzt hat. 
 
Die Zeit saust durch meine Ohren.
Mará ist fort.
Meine Hände streicheln den Browning; meine Lippen küssen den Lauf. Er ist kalt. Meine Zunge umspielt ihn. Die Verwesung streckt ihre Arme nach mir aus.
Ich denke:
Der Intellekt schwankt. Die Logik meines Fühlens wird mörderisch. 
 
Die Strickweise des Nowakschen Texts ist für diese Art von Erzählung in diesem Zeitraum, also zwischen 1900 und dem Ende der zwanziger Jahre, zumindest in der deutschen Literatur durchaus nicht ungewöhnlich. Beim Durchblättern der Prosastücke in vielen Zeitschriften, die für die literarische Ausprägung des Expressionismus stehen, findet sich das erstaunlich häufig, so auch in Carl Einsteins "Bebuquin" oder Gottfried Benns "Rönne-Komplex" ebenso wie in Heinz von Lichbergs "Lolita", der fast zeitgleich mit der "Sonnenseuche" erschien und den Michael Maar vor gut zehn Jahren als eine der entscheidenden Anregungen für Vladimir Nabokovs gleichnamigen Roman von 1955 ausgegraben hat. Auch fast alle Erzählungen, die dann in der zwischen 1919 und 1921 in München erschienenen Zeitschrift "Der Orchideengarten" (die als erstes Magazin gilt, das sich ausschließlich der literarischen Phantastik widmete: das ist falsch, weil es sich zumeist um eben diese übersteigerte Bizarrerie handelt) publiziert wurden, folgen diesem Muster. Es ließe sich durchaus argumentieren, daß "das Phantastische", "das Übernatürliche" in dieser Art von Texten kein Unterscheidungsmerkmal darstellt: die schrille Scherenschnitttechnik, die ostentative Künstlichkeit machen diese Frage belanglos, so wie es völlig gleichgültig ist, ob ein mit genau diesen ästhetischen Mitteln arbeitender Film die "Das Kabinett des Doktor Caligari" oder "Nosferatu" sich nun sensu strictu phantastischer Elemente bedient oder nicht. Es bleibt nur, daß all dies, ob Text, ob Film, oder als Ansammlung bemalter Leinwand, außerordentlich schnell geeignet ist, die Geduld und Nachsicht eines heutigen Lesers oder Betrachters zu überstrapazieren. Robert N. Bloch nennt Nowaks Erzählung im "Führer durch die phantastische Literatur" des Corian-Verlags von 1989 "eine eigentümlich morbide Stilblüte des deutschen Expressionismus"; die klanglich naheliegende "Sumpfblüte" hätte es auch getroffen.

In homöopathischen Dosen, und durch Versmaß und Reim in kleine Form geklammert, ist, was nach dieser Rezeptur gekocht wird, immerhin erträglicher. Bei seinen Gedichten, zumeist in Sonettform, zeigt sich, daß Nowak gut hingehört hat, als Jakob von Hoddis zwei Jahre vor ihm das "Weltende" als Groteske inszenierte:

Ein Auto jagt vorbei auf schiefen Rädern,
Die Steine schaukeln wie auf weichen Federn
Und laufen wippend unter allen Füßen.
Zwei Häuser türmen sich zu Hindernissen.

Üppige Weiberbrüste gehn spazieren,
Ein Gasthasschild wil sich noch strangulieren.
Die roten Bogenlampenlichter kreischen.
Ein offnes Fenster will sich gar zerfleischen.

Die Nacht krallt ihre Finger in die Gassen.
Ein geiler Mensch will eine Dirne fassen.
Ein Winterock will sich durch Gehn ermüden
und spricht in großen Gesten Platitüden.
("Ein Besoffener geht durch die Stadt")

* * *

Die Luft trinkt Knattern von Maschingewehren.
Von da und dort steigt dünner weißer Rauch.
Soldaten liegen langhin auf dem Bauch.
Ein Aeroplan will ihre Ruhe stören.

Ein totes Pferd streckt seine Beine aus,
Als wollte es den Himmel von sich wehren,
Eine Granate will den Lärm vermehren;
Rot lodernd brennt ein totgeschoßnes Haus.

Trompeten flattern, Fahnen schreien grell -
Einen hat Angst um den Verstand gebracht;
Ihm ist, als ob er weiße Mäuse säh' -

Hell glänzt ein Bajonett, das wüst und schnell
Mit Eingeweiden schlechte Scherze macht -
Zwei Schafe auf der Weide blöken: bäh --- bäh ---

("Der Krieg") (beide zuerst gedruckt in Die tragische Gebärde, 1913)

(*vor genau 100 Jahren: auch damals wurden Zeitschriften kurz vor dem Beginn des ausgewiesenen Monats ausgeliefert.)  
  





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Ulrich Elkmann


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