8. Mai 2015

Zitat des Tages: Das kurze Gedächtnis des Jakob Augstein

Weselsky und seine Lokführer machen von ihrem Streikrecht Gebrauch. Bislang hat kein Arbeitsgericht sie aufgehalten. Wann wurde zuletzt jemand, der von seinem Recht Gebrauch macht, zum Gegenstand so einhelliger Verachtung wie dieser Mann? (Jakob Augstein, SPON vom 08.05.) 

­Diese Frage ist ganz leicht zu beantworten: Vor ungefähr dreieinhalb Monaten, an gleicher Stelle.

Da schimpfte Augstein nicht nur über die Pegida-Anhänger, sondern vor allem über jene in Politik und Medien, die sie nicht zum Gegenstand einhelliger Verachtung gemacht haben.

Nun ist es nicht das Thema, dass Augstein die einen unterstützt und die anderen ablehnt (zur Hälfte stimme ich ja mit ihm überein). Sondern dass er das Streikrecht als Argument anführt, warum die Lokführer nicht kritisiert werden sollen:
Vor Jahren haben die meisten Lokführer ihren Beamtenstatus verloren. Nun sollen sie - de facto - ihres Streikrechts beraubt werden. Das ist die höchste Vollendung der Privatisierung. Es geht dabei nicht nur um die Lokführer. Der Wirtschaftsflügel der CDU möchte die Gelegenheit nutzen, das Streikrecht grundsätzlich einzuschränken. Im Bereich der "Daseinsvorsorge" sollen strengere Regeln gelten. Das kann man weit fassen: Verkehr in der Luft und auf dem Land, Erziehung, was noch? Heute trifft es die Lokomotivführer. Morgen Lehrer und Erzieher. Und übermorgen?
­Abgesehen davon, dass diese Untergangsrhetorik durchaus an Pegida unter umgekehrten Vorzeichen erinnert und einige Ungereimtheiten enthält (als ob Lokführer als Beamte überhaupt ein Streikrecht gehabt hätten oder es mit einer einheitlichen Tarifgemeinschaft keine Mitbestimmung mehr gäbe): Es gibt noch eine andere Parallele.


Am 19.01.2015 hat die Dresdner Polizei die Pegida-Demonstration verboten, was nicht nur im einschlägigen Lager zu Kritik geführt hat, weil dadurch die Versammlungsfreiheit eingeschränkt wurde. Der selbsternannte Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit Jakob Augstein schreibt drei Tage später eine Kolumne zu dem Thema und verliert darüber kein Wort. Weil es ihm hervorragend in den Kram passt.

Er offenbart ein Rechtsverständnis, das sich immer mehr breit macht - nicht nur an den beiden Rändern, sondern mehr und mehr in der vielbeschworenen Mitte der Gesellschaft. Das Recht soll nur für diejenigen gelten, deren Anliegen ich unterstütze. Oder die meiner Meinung sind. Und wenn sie im Recht sind, verbietet sich Kritik von selbst. Stehen sie dagegen im Lager der politischen Gegner, gilt das Gegenteil.

Vergleicht man Deutschland mit angelsächsischen Ländern, hat es der Rechtsstaat traditionell immer ein bisschen schwerer gehabt. Geschworenengerichte, Freisprüche wegen Verfahrensfehlern, strenge Regeln bei der Zulässigkeit von Beweismitteln, wie z. B. in Amerika, rufen nicht weniger Kopfschütteln hervor als beispielsweise ein von Volkes Stimme als zu milde empfundenes Urteil

Denn viele Deutsche wünschen sich tief in ihrem Inneren nicht einen Rechtsstaat, sondern den Gerechtigkeitsstaat. Jakob Augstein ist ein typischer Deutscher.
Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: Jakob Augstein, Der Freitag. Foto: xtranews.de (CC BY 2.0). Für Kommentare bitte hier klicken.