15. Februar 2015

Gesetzliche Betreuung


Bundesarbeitsministerin Nahles packt mit der ihr eigenen Beherztheit ihr nächstes Regierungsprojekt an. Nach der Rente mit 63 und dem Mindestlohn hat sie es diesmal auf die unmittelbar-dingliche Umwelt von Arbeitnehmern abgesehen. Mittels Revision der Arbeitsstättenverordnung soll sichergestellt werden, daß jeder Mitarbeiter jedes Unternehmens einen eigenen Spind bekommt, Mitarbeitertoiletten und -pausenräume künftig mit Tageslicht zu versorgen sowie Home-Office-Arbeitsplätze nach neuesten ergonomischen Standards zu gestalten sind. Zur Sicherstellung von letzterem sollen Arbeitgeber verpflichtet werden, die entsprechenden Räume ihrer Mitarbeiter (also bei ihnen zuhause!) kontrollierend zu begehen. 
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Aber soviel ist ja richtig: Allein der absurde Dokumentations- und Nachweisaufwand, der infolge des Mindestlohngesetzes auf die Unternehmen zukommt (übrigens auch wenn sie längst mehr als den Mindestlohn bezahlen und eigentlich von dem Gesetz gar nicht berührt sind), wird erwartbar zu einer erheblichen Verlängerung der Zeiten mancher Mitarbeiter vor  ihren Telearbeitsplätzen führen. Die Wirkung des einen Gesetzes schafft die Notwendigkeit zur Schaffung eines weiteren; offenbar eine grundlegende Eigenschaft des Wohlfahrtsstaats.

Diesmal jedoch scheint Nahles sich zunächst verrechnet zu haben; der Widerstand aus der Wirtschaft, aber auch von Medien und Politik ist wohl größer als gedacht, so daß Nahles kürzlich Bereitschaft signalisiert hat, Zugeständnisse zu machen. "Zugeständnisse" jedoch sehen bei Frau Nahles so aus, daß sie die Regelung zunächst als Ganzes in Kraft getreten sehen will, um dann "zeitnah" Änderungen in "wenigen, ausgewählten Punkten" vorzunehmen. Man soll ihr da wohl vertrauen, wenn man es recht versteht.

Da ist sie wieder, die Echternacher Springprozession, ebenjener Politikstil der Andrea Nahles, den Blogbegründer Zettel, dessen Tod sich am 25.2. zum zweiten Mal jährt, bereits 2008 beschrieben hat: drei Schritte vorgesprungen; zwei zurück.

Aber nicht der Politikstil der Andrea Nahles oder die konkrete Verordnung soll hier im weiteren interessieren, denn beide sind nur Symptom einer Krankheit, um die es mir hier eigentlich geht, nämlich die schleichende Entmündigung der Menschen in diesem Land. Der Staat, oder richtiger: die Regierung scheint ihr Verhältnis zum Bürger zunehmend in der Rolle eines paternalistischen Versorgungsverhältnisses zu sehen: Die Bundesrepublik Deutschland als Form des betreuten Wohnens oder, je nach Vorliebe, als Monumentalkita.

Hier setzt sich ein fataler Teufelskreis in Gang, denn die Lebens- und Handlungskraft von Menschen; die Fähigkeit, sich wirkungsvoll mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, erlahmt unter zwangsbeglückend-betreuenden Bedingungen zunehmend. Das Selbstbild der Menschen verändert sich; man nimmt sich selbst als zunehmend abhängig vom Betreuer wahr; Individualität und der Wille zur Selbstbehauptung erlahmen. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten werden als schwindend wahrgenommen, selbst wenn sie objektiv noch vorhanden sind. In der Psychologie spricht man von Erlernter Hilflosigkeit, und sie bildet, wenn man so will, den kognitiven Kern depressiver Inaktivität. Infolge ebendieser Passivität wird eine solcherart versorgende Politik jedoch immer mehr nachgefragt, was sich in entsprechenden Wahlergebnissen, wie vielleicht heuer in Hamburg, zeigt. Der Teufelskreis schließt sich.

Ein anderes Bild, das diese Entwicklung beschreibt, ist das von Eltern, die einen verwöhnenden Erziehungsstil gegenüber ihren Kindern pflegen und der zum gleichen Ergebnis führt: Wenn der kleine Junge, sein Fahrrad wegen eines "Plattens" schiebend, nach Hause kommt, dann wird der zur Verwöhnung neigende Vater vielleicht sagen: "geh rein, Sesamstraße  gucken. Indessen flicke ich dein Fahrrad." 

Daß der Junge sein Fahrrad ohne jede Eigen- oder Gegenleistung repariert bekommt, hat für ihn natürlich den kurzfristigen Vorteil der Bequemlichkeit. Es steckt aber auch immer die Botschaft darin, daß der Vater seinem Sohn nicht zutraue, sein Fahrrad (unter Anleitung zunächst) selbst zu flicken oder dies in der Zukunft zu lernen, sonst ließe er ihn zumindest zusehen oder ermunterte ihn, selbst Hand anzulegen. "Du kannst dich nicht selbst um deine Belange kümmern und brauchst mich dafür" ist die, sicherlich in vielen Fällen unbeabsichtigte, Rückmeldung an das Kind. Im schlimmsten Fall bleiben Kinder dann unselbständig und abhängig von den Eltern, dabei jedoch keineswegs dankbar, sondern zunehmend talibanesk in ihrer fordernden Haltung: irgendwann schulden die Eltern einem schließlich, daß sie einem alles abnehmen. Und warum soll man sich für etwas Selbstverständliches dankbar zeigen?

Analoges ist in der zunehmend fordernden und gleichzeitig undankbaren Haltung nicht weniger Mitbürger gegenüber Leistungen des Staates zu vernehmen. Auch hierfür kennt die Psychologie einen Begriff, nämlich den der Regression: je infantiler man sich verhält, um so größer die Chance auf Bedürfnisbefriedigung durch den Versorger.

Und der Ausweg? In der Individualentwicklung liegt er zumeist in den endokrinen Verhaltenswirkungen der Pubertät. Das rotzlöffelhaft-ungehobelte Verhalten vieler Pubertierender, das Infragestellen von Regeln des Zusammenlebens und der behütend-versorgenden Autorität der Eltern; das sich-ausprobieren und die Rollenfindung bilden in vielen Fällen ein Tor zu Individualisierung und Eigenverantwortung.

Vielleicht sind rötzlöffelhaft-ungehobelte Bewegungen wie Pegida, die trotzig-aufsässige AfD, oder auch die inzwischen einige Jahre zurückliegende Sarrazindebatte ja Zeichen, daß zunehmend größere Teile der Bevölkerung an der Schwelle zu einer Art "Pubertät" stehen. Alles noch recht unausgereift, zuweilen peinlich im Auftreten und mit schlecht deodoriertem Körpergeruch versehen; aber immerhin. 
Vielleicht wäre hier aber auch eine Chance für eine programmatisch (und nicht nur optisch) erneuerte FDP? Hamburg läßt auch hier hoffen.

Zumindest die komplementären Reaktionen von Politik und Medien, die in gouvernantenhaftem Ton, mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen, gleichsam unter Androhung von Hausarrest, zu Sitte und Ordnung mahnen, sie sprechen dafür.


Andreas Döding


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