Es ist etwas Seltsames um die Neigung des Menschen in Notzeiten zu heldenhafter Solidarität oder aber zu raubtierhaftem Egoismus: Als Flüsse überliefen und Städte überfluteten, wurden alle zu spontanen Helfern, wenn die Katastrophe aber panikhafte Größe annimmt, trampeln Menschen einander tot. Vielleicht zeigt die Verwandlung der auf den Philippinen-Inseln vom Taifun Betroffenen in Plündererbanden den Punkt, wo der Altruismus in Egoismus umschlägt: Der aussichtslose Hunger angesichts einer zerstörten Substruktur entblößt den Menschen seines Kulturkleides.
Die Not macht uns sonst ja eher erfinderisch, der unverschuldete Tod nur traurig. Der Hunger jedoch macht uns zu Raubtieren?
Auch für die alltägliche Willensschwäche wählten die Deutschen einen Vergleich aus der Zoologie: den „inneren Schweinehund“ (schwer übersetzbar: my weaker self, my lack of will power). Es gibt heute Ratgeber zu seiner Überwindung und man kann das Tier aus Stoff oder als Anhänger am Schlüsselbund, auch aus Edelstein, kaufen. Zur Beschwörung, zur Verniedlichung? Das umgangssprachliche „die Sau rauslassen“ für ein hemmungsloses Sich-gehen-lassen und Feiern erlöst den inneren Schweinehund nicht aus seinem Stall. Ich finde, der Ausdruck „Sauhund“ könnte der Wildschweinjagd überlassen bleiben. Er ist für unser Inneres zu unfein und erinnert zu sehr an das Landserdeutsch im ersten Weltkrieg und die Tugenden der Turnlehrer der Nazizeit. Der SPD-Abgeordnete Kurt Schumacher sagte 1932 im Reichstag, die Nationalsozialisten appellierten an den inneren Schweinehund und mobilisierten die menschliche Dummheit. Man könnte die Selbstdisziplin gegenüber Unlust oder Angst auch gleich mit positivem Namen nennen.
Else Lasker-Schüler entschuldigte sich brieflich: „Kurtchen! Steht Gefängnis auf Schweinehund? Oder Geldstrafe? Oder verjährt nach zwei Jahren ein Schimpfwort, wie zum Beispiel Schweinehund? Ich habe vor zwei Jahren mal jemand so genannt; ich möchte endlich von der Kette los.“ (Mein Herz, 1912)
Für Vergleiche eignen sich auch andere Tiere der Wildnis. Schiller formulierte im Lied von der Glocke:
„Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruhge Bürger greift zur Wehr, Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden ziehn umher, Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz, Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreißen sie des Feindes Herz.“
Ein anderer Schriftsteller ließ anhand einer Salon-Diskussion zur französischen Revolution die Frage aufwerfen, ob ein abscheulicher Charakter die Revolution schaffe oder ob die Zeit aus einem harmlosen Menschen einen Verbrecher mache. Diese letztere Auffassung lässt er einen alten Mann vertreten. Man widerspricht diesem: Wo keine tigerartige Anlage sei, könnten auch die Zeitumstände keinen Tiger hervorrufen. Der Verfasser legt dem Alten die Erwiderung in den Mund: „Ich gehe noch weiter, wir alle haben eine tigerartige Anlage, so wie wir eine himmlische haben. Der größte Mann – ich meine den Tugendhaften darunter – widersteht nur dem geweckten Tiger und lässt ihn nicht reißen, während der Schwache unterliegt und rasend wird.“ Im weiteren Gesprächsverlauf sagt der Alte, er verteidige die Männer der Schreckenszeit nicht, er „schiebe nur die sittliche Zurechnung auf einen anderen Standpunkt“. (Es ist Adalbert Stifter in seiner Kurz-Erzählung „Zuversicht“).
In der jüdischen Tradition stoßen wir auf einen interessanten Lösungsversuch. Es handelt sich um die Vorstellung, dass es zwei Triebe in uns gibt, einen guten und einen bösen. Müssen wir denn alle Kraft verschleudern, um das Böse zu vermeiden? Kann der böse Trieb vielleicht gewinnbringender so besiegt werden, dass seine Kraft erhalten und für das Gute eingespannt wird, wie ein zweites Pferd? Eine alte Auslegung behauptet, das Wort des Schöpfers über sein Werk „Und siehe, es war sehr gut“ meine den bösen Trieb, weil man an ihm sehe, wie kreativ und frei er den Menschen gewollt habe.
Israel Bal Schem (1700-1760), Gründer des Chassidismus, meinte, der böse Trieb wolle den Menschen unfähig zum Guten machen, indem er ihn trübselig werden lasse. Daher solle der Mensch Gott in Freude dienen und aus dem Scheitern rasch wieder zur Freude zurückkehren.
Eine chassidische Deutung von König Davids Fall erzählt: „Es steht geschrieben: ‚Ein Gesang Davids‘ [Psalm 51,1], und gleich danach steht: ‚wie er zu Batseba eingegangen war‘. Rabbi Schalom erklärte den Vers so: ‚In derselben Wahrhaftigkeit und Glut, in der er zu Batseba eingegangen war, in derselben kehrte David zu Gott um und sprach zu ihm seinen Gesang. Darum ward ihm im Nu vergeben.“ (M. Buber, Werke III, S. 443)
Rabbi Israel, ein 1815 verstorbener Wanderprediger (Maggid), hinterließ das Zeugnis, wie der böse Trieb bis ins hohe Alter stark bleibt: „Ihr glaubt, dass der böse Trieb vor dem Gerechten Scheu hat und dass ihn Alter und Körperschwäche entmutigen? Seht, ich werde für einen Zaddik ("Gerechter") gehalten, mein Körper ist siech und dürr und doch tritt er an mich mit verlockenden Worten heran: ‚Du hast die Kraft, eine Sünde zu begehen!‘“
Buber betonte, dass die Leidenschaft des bösen Triebes das Element sei, große heilige Werke entstehen zu lassen, da nichts Gutes ohne Leidenschaft des ganzen Herzens gelinge. Mit den zwei Trieben soll man also in die gleiche richtige Richtung fahren. „Das Böse ist die Richtungslosigkeit und was in ihr und aus ihr, als Ergreifen, Packen, Schlingen, Verführen, Nötigen, Ausnützen, Niederbeugen, Peinigen, Vernichten dessen, was sich bietet, getan wird. Das Gute ist die Richtung und was in ihr getan wird; was in ihr getan wird, wird mit der ganzen Seele getan, so dass in die Tat all die Kraft und Leidenschaft, mit der das Böse hätte getan werden können, mit eingeht.“ (Bilder von Gut und Böse, 1952)
Sein Freund Franz Rosenzweig hatte, wohl veranlasst durch den Vorwurf Nietzsches, das Christentum schwäche den Menschen, gelehrt, dass der Leib und der ganze Lebenslauf des Menschen erlöst werden müsse und die Christen vom Judentum die Weltzuwendung lernen können. (Stern der Erlösung, Erstausgabe 1921)
Diese schöne Lösung mit dem positiven Einspannen der Kraft des bösen Triebs birgt natürlich Gefahren. Wenigstens ein Hinweis darauf ist vonnöten. Der heidnische Pantheismus musste Gut und Böse als Natur Gottes verschmelzen. In der jüdischen und in der christlichen Mystik kam es zu Überspannungen. Die Mystik der manichäischen Christen (Katharer) schwankte, weil die Endzeit schon gegenwärtig gesehen wurde, zwischen Askese und Anarchie. Ein Teil der Chassidim suchte in Bußleistungen und Kraftleistungen der bizarrsten Art gleichsam ein freiwilliges Exil der Askese zu leben wie die Füße im Eis zusammenfrieren zu lassen oder sich den Ameisen auszusetzen, damit nicht der Messias für ihre Sünden zu leiden habe. Anhänger des Sabbatai Zwi, der sich als Messias verstanden hatte, lehrten, alle müssten in den Abgrund des Bösen hinunter, um es von innen her zu überwinden: In der messianischen Zeit gebe es keine Moral mehr, weil das Böse seinen Sinn verloren habe. Es kam zur verführerischen Lehre von der Heiligkeit der Sünde und zum bewussten Zertreten des Schamgefühls.
Papst Franziskus suchte jüngst in seiner Predigt über das Gleichnis vom untreuen Verwalter (Lukas 16,1-8) die Dinge zu unterscheiden. „Und der Herr lobte die Klugheit des unehrlichen Verwalters“, heiße es zum Schluss der Erzählung. „Jesus sagte: Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes.“ Der Papst dazu: „Ja doch, das ist ein Lob auf das Schmiergeld! Und diese Gewohnheit des Schmiergelds ist eine weltliche, ausgesprochen sündhafte Gewohnheit. Eine Gewohnheit, die nicht von Gott kommt: Gott hat uns aufgetragen, unser Brot durch ehrliche Arbeit zu verdienen! Dieser Verwalter gab seinen Kindern verdorbenes Brot! Diese Kinder (…) hatten von ihrem Papa Dreck zum Essen bekommen – denn ihr Papa, der schmutziges Brot nach Hause trug, hatte seine Würde verloren. Und das ist eine schwere Sünde!“ Aber wenn es eine „weltliche Durchtriebenheit“ gebe, so gebe es eben auch „eine christliche Durchtriebenheit, indem man die Dinge eben aufgeweckt tut, aber nicht mit dem Geist der Welt“, sondern auf ehrliche Weise. (radio vatikan, 08.11.2013)
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.