24. Mai 2013

Investitionen in Infrastruktur: Gedanken zum politischen Gefangenendilemma

Fast jeder Mensch besitzt etwas, was man als "Anlagevermögen" bezeichnet: langfristig eingesetzte Wirtschaftsgüter. Also Dinge, die man a) nicht um ihrer selbst willen hat, sondern als Mittel zum Zweck und b) die deutlich länger durchhalten als zwei Jahre. Solches Anlagevermögen wäre zum Beispiel ein Auto. Oder ein Kühlschrank, ein Herd und so weiter. Anlagevermögen haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie durch die Nutzung verschleißen und in vielen Fällen sogar allein durch Ablauf der Zeit im Nutzwert abnehmen (also sogar bei Nichtgebrauch). Deswegen muss man diese Anlagevermögen regelmäßig warten. Und irgendwann muss man die Anlagegüter ersetzen. 
Jeder weiß, dass es so ist. Irgendwann gibt der Herd den Geist auf; dann ist ein Neuer fällig. Trotzdem kenne ich eigentlich niemanden, der für solche absolut unvermeidlichen Ausgaben gesondert vorsorgt; man geht davon aus, dass das nötige Kleingeld da ist, wenn einen wie ein Blitz aus heiterem Himmel das Unglück trifft. Das war nicht etwa ein jahrelanger, schleichender Prozess; nein: das war einfach Pech. So ein Mist! Von jetzt auf gleich Totalschaden! Warum muss immer ausgerechnet mir so etwas passieren? Trösten Sie sich: das passiert jedem. Weil es unvermeidlich ist. 
Anlagegüter müssen gewartet und irgendwann ersetzt werden. 
Auch Straßen, Brücken, Kanäle, Schienen, Flughäfen, Tunnel und öffentliche Pipelines sind Anlagevermögen. Praktisch alles, was wir derzeit so benutzen, wurde vor langer Zeit von unseren Eltern gebaut und bezahlt. Und irgendwann ist das Zeug verschlissen und muss ersetzt werden. Und die Neuanschaffung muss bezahlt werden. Grob geschätzt hat das gesamte Infrastrukturanlagevermögen einen Wiederbeschaffungswert von 800 Mrd Euro.
Das ist mal eine Hausnummer. Ob wir da auch das nötige Kleingeld übrig hätten, wenn uns der Ersatzbedarf wie aus heiterem Himmel trifft?
Bereits als ich an der Uni war, also in der Zeit vor 26 Jahren, wurde in den verkehrswissenschaftlichen Fakultäten intensiv das Problem der Infrastrukturüberalterung und des Investitionsstaus diskutiert. Vor 26 Jahren: seit dem wurde sechs mal eine neuer Bundestag gewählt. Und passiert ist nichts. Egal, ob die Regierung schwarz, rot oder grün war: die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur blieben zu niedrig. 
Im deutschen Bundestag gibt es einen eigenen Ausschuss für dieses Thema, den "Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung". Geleitet wird die Runde seit ein paar Jahren vom Grünen Dr. Anton Hofreiter. Unabhängig von seinen politischen Präferenzen hat er eine durchaus lesenswerte Zusammenfassung der Lage erstellt. Seine Sicht der Dinge deckt sich mit meinen eigenen Informationen: die Investitionen in den Erhalt und Ersatz des Infrastrukturanlagevermögens ist um 1 Mrd bis 3 Mrd Euro zu gering. Jährlich, versteht sich. Macht in den letzten 30 Jahren eine Summe von irgendwas zwischen 30 Mrd und 90 Mrd Euro, die hätten investiert oder angespart werden müssen - aber nicht wurden. 
Im Gegensatz zu Hofreiter weiß ich, dass es weiterhin auch Neubauten geben muss. Aus einem ganz einfachen Grund: keine Gesellschaft ist statisch. Jede menschliche Gesellschaft ist Veränderungen unterworfen: Wanderungsbewegungen der Bürger, neue Technologien oder Ressourcen, Veränderungen der Lebensverhältnisse, Wünsche und Bedürfnisse. Aus all diesen Gründen wird ein Teil der Infrastruktur nutzlos werden und dafür neue Infrastruktur benötigt werden. Die Infrastruktur hat sich dem Menschen anzupassen und nicht umgekehrt, wie es die Linken gern hätten. 
Aber abseits dieser grundsätzlichen Frage sind Hofreiter und ich uns einig, dass zu wenig für die Erhaltung und den Ersatz der jetzigen Infrastruktur getan wird. Wieso? 


Meiner Meinung nach kann man diese Situation mit dem Gefangenendilemma erklären. Alle Beteiligten kennen die optimale Lösung; problematisch ist, dass derjenige, der die optimale Lösung als erster ansteuert, als einziger die Kosten trägt. Wenn ein Politiker die Ausgaben für Wartung und Ersatz der Infrastruktur unterlässt, dann passiert zunächst mal nichts. Außer, dass dieser Politiker jetzt zusätzliche Mittel zur Verfügung hat, die er Wahlkampf-wirksam einsetzen kann. In diesem Sinne ist jeder Neubau einer Bahnstrecke oder einer Autobahn beim eigenen Zielpublikum wirksamer als die Erhaltung von etwas, an das sich der Wähler schon gewöhnt hat. 

Das Gefangenendilemma wird noch verstärkt durch das Problem, dass ein Politiker -bzw. die Partei, der der Politiker angehört- einen langen Planungshorizont haben müsste. Die Wähler haben diesen langen Planungshorizont aber zunehmend nicht mehr. Schon heute stellen Familien nicht mehr die Mehrheit der Haushalte. Und wenn meine Informationen stimmen, dann stellen wahlberechtigte Eltern auch nicht mehr die Mehrheit der Wähler. Wer aber keine Kinder hat, dessen gesellschaftlicher Planungshorizont wird in vielen Fällen kaum ein paar Jahrzehnte hinausreichen. Solche Wähler könnten es für rational halten, die verfügbare Infrastruktur aufzubrauchen und nicht zu ersetzen. Der Politiker müsste es besser wissen - kann aber die Wähler mit kurzem Planungshorizont nicht vernachlässigen.
Fakt ist, dass wir kurz vor dem Punkt stehen, an dem die unterlassenen Reparaturen oder Rückstellungen zu Funktionseinschränkungen führen werden. In vielen Landgemeinden sind die Straßen in einem so jämmerlichen Zustand, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit reduziert wurde. Bald wird man Straßen oder Brücken ganz sperren müssen. Eine erste Brücke ist bereits für den Schwerverkehr gesperrt.
Inzwischen regt sich aus dem deutschen Mittelstand Widerstand. Eine jüngst gegründete Initiative "Damit Deutschland vorne bleibt" versucht die Öffentlichkeit auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Die Mitglieder sind überwiegend Stadtwerke und Verkehrsunternehmen mit öffentlichem Auftrag. In den nächsten Monaten will diese Initiative im Rahmen von vier "Regionalkonferenzen" Bürger und Politiker für das Thema Infrastrukturinvestitionen interessieren. Ich habe so meine Zweifel, ob das gelingt. 
Ich sehe nur die Chance, dass man einen politischen Konsens über eine Neuausrichtung des Bundesverkehrswegeplans erreicht. Der Bundesverkehrswegeplan ist traditionell das politische Werkzeug, um den Neubau von Infrastruktur zu begründen. Ich halte es für sinnvoller, zunächst mal eine Abwägung des gesellschaftlichen Nutzens zwischen Ersatz und Neubau zu treffen - und dann erst die für Neubau vorgesehenen Mittel wie gewohnt nach Kosten-Nutzen zu priorisieren. So steht es auch im Entwurf für den Bundesverkehrswegeplan 2015. Ich hoffe, dass es diese Neuausrichtung auch  bis in die Endfassung schafft.
Frank2000


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