28. Oktober 2015

Schilda lebt. Eine Münsterländer Provinzposse, mit leichtem Stileinschlag

Bei den Wörtern, die es - ob nun wirklich oder nur den mangelnden Sprachgefühl von Non-native speakers geschuldet, in anderen Zungen nicht gibt und die deshalb höchstens als direkter Fremdworteinschuss ein Heimatrecht erwerben könnten, scheint das Deutsche, wenn man den angelegentlichen Ausflügen zumeist sprachpflegerischer Feuiletonisten glauben möchte, besonders gesegnet. (Oftmals handelt es sich hier leider nur um fehlbaren Lokalstolz. Vladimir Nabokov beharrte stets darauf, daß das russische "poshlost'" keine Entsprechung in einer anderen Sprache fände, auch nicht als "kitschig", "peinlich", "vulgär" oder Englisches "bathos". Portugiesen, Italiener und Türken werden jeweils eisern darauf bestehen, daß die melancholische Moll-Gestimmtheit, die eher gelassen und schwebend eine Stimmung spätherbstlichen Abendlichts evoziert, nur ihnen zugänglich sei und "saudade", "nostalgia" und "hüzün" nichts miteinander, und schon gar nicht mit dem englischen "blues" verbindet.) Bei dieser Pirsch im Wald der Worte versammelte der Pilzgänger der Frankfurter Rundschau ein gutes Dutzend Exemplare im Korb, darunter so schöne wie "Geborgenheit," "Dornröschenschlaf" und "Fernweh" (was nahelegt, daß er in den Aufforstungen des Freiherrn v. Eichendorff unterwegs war) und so prosaische wie "Torschlußpanik", "Dunkelziffer", "scheinheilig", "Bausparen", "Brückentag" und "Geschmacksverirrung".   

Woran das jeweils liegt, wird wohl, wie so oft bei den Kobolzereien der Sprache, nicht zu klären sein, aber bei der Vokabel "fremdschämen" darf man vermuten, daß im Deutschen ein verstärkter Bedarf vorliegt. Das Phänomen ist andernorts (siehe по́шлость) zwar geläufig, aber bis zum eigenen Lemma reicht es nicht. Da freut es den Beobachter, wenn einmal neben der Tristesse der erwartbaren Peinlichkeit ein Anklang an den reichlichen Vorrat entsorgter Pratfalls vernehmbar wird. Wie in dieser Provinzposse aus dem münsterländischen Gescher.






Das Münsterland hat sich, nicht zu Unrecht, den Ruf einer geistigen Kältesteppe hart erarbeitet, in der norddeutsche Nüchternheit (ein Klischee, sicher: aber ohne den Rückgriff darauf ist dieses seit jeher beliebte blame game mangels Zugriff aufs Kollektive nicht spielbar) durch einen kompletten Mangel an Phantasie und rheinländisches savoir vivre durch schlechte Laune und mentale Schwerfälligkeit ersetzt wirdGemäß einem Knittelvers, der wohl auf die Zwischenkriegszeit verweist:

Und GOtt sprach: Es werde Licht!
Schie*e war's: es brannte nicht.
Denn an einem Ort blieb's finster.
Und das war Münster.
Doch da kam Petrus angerannt:
HErr, die Sicherung ist durchgebrannt!
(Nur Paderborner ergänzen in Vers 3+4 "an zwei Orten".)   
 
Im münsterländischen Gescher, eine gute halbe Stunde Fahrzeit in Richtung der holländischen Grenze gelegen, ist das Wort der Schrift in den letzten zwei Monaten in die Tat umgesetzt worden; sicher, ohne daß dies den Beteiligten bewußt geworden wäre. Das ZDF berichtete am 24. Oktober 2015 im "Länderspiegel" um 17:05 gut zehn Minuten über den "Hammer der Woche", den sich die Schildbürger der 16.000 Köpfe zählenden Gemeinde geleistet haben. Das Vorhaben, einen abgelegenen Radweg, der eine Anbindung an einen verwunschen im Wald gelegenen Sportplatz darstellt, über 1500 Meter mit fünf Weglaternen zu beleuchten, scheint noch nicht unvernünftig, wenn auch lichttechnisch leicht untermotorisiert. Daß aber die €28.000 in Solarleuchten investiert wurden, zeugt von Witz, da sich überraschenderweise herausstellte, daß die zur Stromerzeugung benötigte Sonne des Nachts nicht scheint. (Um den Scherz nicht zu überdehnen: die Ladeleistung der im Lampenmast plazierten Akkus erwies sich unter den Bedingungen des Münsterländer Schmuddelwetters als ausgesprochen suboptimal.) Auf der Netzseite der Gemeinde liest sich das so:

Gescher (fjk). Seit 2012 drängt insbesondere die UWG darauf, den Radfahrweg zum Sportgelände Ahauser Damm mit einer Beleuchtungsanlage zu versehen.Heute am Donnerstag, den 20. August 2015 ist es soweit. Fünf Solarleuchten, vier am Ahauser Damm und eine am Mühlengrund, sollen einen Beitrag für mehr Sicherheit in der dunklen Tageszeit auf dem Radweg leisten.Der Monteur vor Ort ist von der Leistungsfähigkeit der Solarleuchte überzeugt. Kaum Wartung, lange Haltbarkeit und den Strom gibt`s umsonst,“ sagt er. (20. August 2015)

und:

Welchen Sinn machen die auf dem Weg zum Sportpark Kersten „fünf einsam in der Landschaft“ stehenden Solarlampen wenn sie in der Dunkelheit gar nicht funktionieren? Tagsüber keine Sonne, nachts auch kein Licht. So ist das nun mal bei Solarleuchten. Hat man im Gescheraner Rathaus von dieser ebenso einfachen wie nachvollziehbaren Erkenntnis nichts gewusst?
Doch hat man, und nicht nur das: Der Antrag der UWG zur „Erstellung einer Beleuchtung entlang des Radweges vom Freibad bis zur Sportstätte Ahauser Damm“ wurde mit großer Mehrheit am 27. Juni 2012 abgelehnt. Die Verwaltung hatte sorgfältig recherchiert, gerechnet und der Solarlampenlösung eine klare Absage erteilt. Der Einsatz von Solarleuchten komme nicht infrage, da keine durchgehende Beleuchtung garantiert werden könne, heißt es in der Sitzungsvorlage. Und weiter: Je nach Witterungsverhältnissen werden die Akkus, gerade in der dunklen Jahreszeit, wo die Beleuchtung besonders gewünscht wird, nicht vollständig aufgeladen. Es kommt nur zu einem kurzfristigen Leuchteinsatz. Weiteres Manko: Die Solarleuchten verlieren in jedem Jahr an Leistung, sind sehr wartungsaufwändig und in starkem Maße diebstahlgefährdet. Wegen der labilen Umstände gibt es keine Garantieansprüche, so ließ die Verwaltung damals verlauten.
Die spannende Frage: Wie kann ein abgelehnter Antrag dennoch umgesetzt werden? Mit dem pikanten Ergebnis, das alles was die Verwaltung prognostiziert hat auch eingetroffen ist. Selten hat man verbeamteten Weitblick und Realität so in Einklang gefunden. (23. Oktober 2015)

Richtig rund wird die Episode durch ein anderes Echo: manche amüsierten Beobachter - wenn auch nicht die Gescheraner selbst - werden sich dabei an eine der bekanntesten Episoden um die Bürger des originalgetreu ursprünglichen Schilda erinnert fühlen (der Schwanktypus um die närrischen Bürger findet sich weltweit, so u.a. in England als "the wise men of Gotham", und trägt im Typenkatalog von Antti Aarne und Stith Thompson die Nummer 1287). Und eine der Gemeinden, die Anspruch darauf erhebeb, das Modell des ursprünglichen Schilda abgegeben zu haben, ist das ebenfalls münsterländische Beckum, seinerseits gut 40 Kilometer in Richtung Sonnenaufgang von Münster ab gelegen. Der folkloristische Anspruch speist sich aus den sogenannten "Beckumer Anschlägen", in denen sich, auf die lokalen Gegebenheiten umgemünzt, zahlreiche der "klassischen" Episoden und Narreteien des "Lalebuchs" von 1597 wiederfinden, die den Grundstamm der Schildbürger-Dönekes bilden.  In der 3. Ausgabe von 1879 liest sich die Relatio so:

Es hatte aber jeder einen angezündeten Lichtspahn mit sich gebracht und denselben, nachdem er sich niedergesetzt, auf seinen Hut gesteckt, damit sie in dem finstern Rathhause einander sähen und der Bürgermeister einem Jeden in der Umfrage Namen und Titel geben könnte. ... Als sie nun aber fast Willens waren, den Bau von Neuem und mit größerer Sorgfalt zu beginnen, trat ein Bürger auf und sprach: "Wer weiß, ob das Licht und der Tag sich nicht in einem Sacke tragen ließe, gleich wie das Wasser in einem Eimer getragen wird? Unser Keiner hat es jemals versucht: darum, wo es Euch gefällt, so wollen wir den Versuch machen. Geräth es, so haben wir eine feine und wichtige Kunst entdeckt..." [...] Dieser Rath gefiel allen Bürgern so sehr, daß sie beschlossen, ihm in aller Eile nachzukommen. Daher kamen sie nach mittag, als die Sonne am besten schien, Alle vor das neue Rathhaus, Jeder mit einem Geschirre, mit dem er vermeinte das Tageslicht zu fassen und heim zu tragen. Etliche brachten auch mit sich Hacken, Schaufeln, Mistgabeln und Anderes, um das Einfangen des Lichtes ja auf alle Weise versuchen zu können. [...] Einer lud den Tag mit einer Heugabel in den Korb, der Andere mit einer Schaufel; Etliche gruben ihn aus der Erde hervor. Eines Bürgers darf nicht vergessen werden, welcher meinte, das Tageslicht mit einer Mausfalle zu fangen und dasselbe also mit List zu bezwingen und ins Haus zu bringen. [...] Wie die Bürger an ihrer Arbeit gewesen, reiste von ungefähr ein fremder Wandersmann daselbst vorüber; der stand still, sah ihnen lange zu, sperrte den Mund auf und wäre auch bald ein Beckumer geworden. (anon.: Beckumer Anschläge : eine Sammlung von wunderseltsamen, abenteuerlichen und unerhörten Geschichten und Thaten eines seit Adams Zeiten bekannten und berühmten Volkes, Werl: Stein'sche Buchhandlung, 1879, S. 7-9)

In anderem literarischem Zusammenhang fällt einem vielleicht das Projekt ein, von dem der "Reisende in mehrere weit entfernte Weltgegenden," Lemuel Gulliver, im Jahr 1726 im 3. Teil seines Reiseberichts von der fliegenden Insel Laputa berichtet:




Ich wurde von dem Direktor sehr gut aufgenommen und besuchte darauf mehrere Tage lang die Akademie. Jedes Zimmer hatte einen oder mehrere Projektemacher, und wie ich glaube, bin ich in nicht weniger als fünfhundert Zimmern gewesen.
Der erste, den ich erblickte, war ein magerer Mann mit schmutzigen Händen und Gesicht, langem Bart und Haar, zerlumpt und an mehreren Stellen seines Körpers versengt. Kleider, Hemd und Haut waren bei ihm von derselben Farbe. Er hatte acht Jahre lang das Projekt verfolgt, Sonnenstrahlen aus Gurken zu ziehen, die in hermetisch verschlossenen Gläsern aufgestellt und in rauhen Sommern herausgenommen wurden, weil sie die Luft erwärmen sollten. Er sagte mir, ohne Zweifel werde er in acht Jahren oder vielleicht in noch längerer Zeit imstande sein, die Gärten des Gouverneurs zu mäßigen Preisen mit Sonnenschein zu versehen. Er beklagte sich jedoch über Mangel an Geld und bat mich, ihm zur Ermutigung des Genies etwas zu geben, da die Gurken in jetziger Jahreszeit sehr teuer wären. Ich gab ihm ein kleines Geschenk, denn der adlige Herr hatte mich zu diesem Zwecke mit Geld versehen, weil er die Gewohnheit jener Leute kannte, von jedem, der sie besuchte, etwas zu erbetteln.
 
Dass infolge der nachhaltigen Durchgrünung des Zeitgeistes der mentale Pegelstand eine drastische Absenkung erfährt, dürfte aufgrund zahlreicher Erfahrungen den Rang eines Naturgesetzes haben. Wenn dergleichen in einem bisherigen Wattengebiet eintritt, ist wohl auch eine bedrohliche Trockenlegung des Biotops nicht ausgeschlossen.
 
 




 
          




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Ulrich Elkmann


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