21. April 2014

Eine Verteidigung des freien Willens


Eine Antwort des geschätzten Kollegen Andreas Döding in ZkZ, verbunden mit einem Verweis auf ein Interview mit dem prominenten Naturwissenschaftler und Hirnforscher, Wolf Singer, der die Existenz des freien Willens ablehnt, brachte mich dazu, mir über dieses Thema Gedanken zu machen. 
Einigen im besagten Interview beschriebenen Argumenten möchte ich meine Sicht zu diesem hoch aktuellen Thema entgegensetzen.

Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob unsere Handlungen eher bewussten oder unbewussten Ursprungs sind, oder ob solch eine Unterscheidung überhaupt möglich ist. Auch nicht nur darum ob sie vollständig determiniert sind.
Es geht auch um die Konsequenzen, welche sich aus einem unbewussten Ursprung ergeben. Um die Etablierung von "neue(n) ethische Regeln" wie Wolf Singer sagt.

Diese möglichen Konsequenzen werden kaum thematisiert und wenn, dann als Auswüchse des Zeitgeistes dessen Prägung meist dem politischen Gegner zugerechnet wird. Zum Beispiel wenn die Verantwortung für Straftaten zunehmend auf die Gesellschaft als Ganzes verlagert wird.

Außerdem scheint mir eine Gewöhnung einzusetzen, an die sich die Klinke in die Hand gebenden Weltverbesserer mit Forderungen nach radikalen Veränderungen - weil wir sonst in "katastrophalen" Zuständen leben werden. 
Der Gang der Dinge, welcher von revolutionären Umwälzungen meist weit entfernt ist, lässt einen vielleicht gelassen abwinken und solche Diskussionen für den Zeitvertreib von Bewohnern der Elfenbeintürme erscheinen.
Vielleicht.

Oder auch nicht. Und Wissenschaftler mit neuen Erkenntnissen und einer starken politischen, um nicht zu sagen umstrittenen, ideologischen Agenda, die eine ergebnisorientierte Liaison mit der Politik einzugehen im Stande sind, die uns Dinge wie z.B. die Energiewende und die Große Transformation bescheren, haben weitaus mehr Einfluss auf die Gesetzgebung als alle demokratisch legitimierten Entscheidungsfinder und -träger zusammen. 
Dabei sind nicht so sehr die Theorien das Besorgnis Erregende, sondern die Schlüsse, welche daraus gezogen werden. 
Die wiederum sehr wohl Konsequenzen für unser Leben haben.
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Nun zu dem Interview. 
"Wir handeln zwar als autonome Wesen, die ihre Bedürfnisse befriedigen, die aber von Außenzwängen beeinflusst werden. Und man empfindet sich dann als frei, wenn der bewusste Abwägungsprozess zu einem Ergebnis führt, das stimmig ist mit den unbewussten Strebungen. Dazu kommt es, wenn man die Regularien, die sonst von außen als Zwang gewirkt hätten, internalisiert hat. Wenn die zum eigenen Imperativ werden, empfindet man sich in seiner Autonomie uneingeschränkt. Man fühlt sich frei - und damit gut. Freisein ist ein gutes Gefühl, es hat eine ästhetische Konnotation."
Das Leben besteht aus mehr als nur Bedürfnisbefriedigung. Es gibt Dinge, die tut man aus Neugier, oder weil sich gerade die Gelegenheit dazu bietet. Man muss vieles nicht und man empfindet die Freiheit etwas zu tun mitunter erst, wenn man sich gegen seine unbewussten Strebungen durchgesetzt hat. Dazu ist ein starker Wille von Nöten.
Zum Beispiel beim Bungee Jumping, oder bei dem mutigen Sturz mit Skiern einen steilen Abhang hinunter - oder mit dem Gleitschirm. Jeder der sich mal "selbst überwunden hat" weiß, dass Freiheit etwas mit dem bewussten Bruch von Regeln und Normen und viel mit Unvernunft zu tun hat. 

Was ich internalisiere wirkt nicht immer als Zwang, denn ich kann einen Deal eingehen. Weil ich gar nicht in absoluter Freiheit leben will. 
Die Liebe beispielsweise ist mit einer Abgabe von Freiheit verbunden, nur empfinde ich es nicht als Zwang weil ich einen Vorteil erziele. Ganz bewusst. Schließlich kann ich auch allein leben.

Was Wolf Singer hier aus seiner Forschung meint schließen zu können, geht einfach zu weit und ist m.E. eine Anmaßung von Wissen. Er kann nicht beurteilen ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Er vermutet es.
Mein Gehirn ist nicht etwas das mich determiniert. Das würde ja bedeuten, dass ich und mein Gehirn zwei verschieden Dinge wären. So ist es aber nicht. Was mein Hirn macht, das bin ich. Da ich mich aber selbst reflektieren kann, ich mir selbst bewusst bin, kann ich urteilen. Nur handele ich nicht unbedingt gemäß meiner Beurteilung. Ich kann auch handeln um ein Urteil zu falsifizieren.

Ich bin auch nicht vernetzt mit anderen Gehirnen, ich schätze und vermute. Das ist nicht das Gleiche. Ich reflektiere andere Personen so, wie ich meine gesamte Umwelt reflektiere. Das Wetter, die Fauna, die Flora. Mir ist klar, dass die Fehlerquote hoch genug ist um nicht sicher genug zu sein. Trotzdem abstrahiere ich von einer Situation auf eine andere. Und selbst im Erfolgsfall werden trotzdem neue Wege beschritten um einfach noch besser zu werden.

Herr Singer sagt dazu weiter:
"Entscheidungen dürfen nicht undeterminiert ablaufen. Sie dienen schließlich dazu, den Organismus am Leben zu halten, sie müssen deshalb kausal in die physikalischen und sozialen Prozesse der Welt eingebunden sein."
Dass viele Entscheidungen, den Organismus betreffend, determiniert ablaufen, ist logisch. Nur wie kommt Wolf Singer darauf die Entscheidungen eines Menschen kausal in die "physikalischen und sozialen Prozesse der ganzen Welt" einzubinden?
Ein Einsiedler ist nicht mehr in die sozialen Prozesse der Welt eingebunden und sein Organismus wird dennoch am Leben erhalten und ein Astronaut ist partiell sehr wohl abgekoppelt (keine Gravitation) von den physikalischen Prozessen und kann äußerst kreativ arbeiten.

Was der Hirnforscher Wolf Singer hier betreibt, erinnert mich frappierend an das Agieren mancher Klimaforscher.  
Die Absolutheit mit der undeterminierte Entscheidungen ausgeschlossen werden, steht in keinem Verhältnis zu dem Stand der Forschung. Um solch eine gravierende Feststellung belegen zu können, müsste schon etwas mehr über das am weitesten unerforschte Organ des Menschen bekannt sein.

Mitunter dachte ich beim Lesen des Interviews ob der Forscher sich nicht vertut und eigentlich Tiere beurteilt - so sehr war vom Strafen und Belobigen die Rede, was die Gehirne in ihrem Werdungsprozess instruiert um als Erwachsener Konflikte erspart zu bekommen, so Wolf Singer. 
Mir scheint hier wird eine persönliche Sicht verallgemeinert. Es gibt konfliktfreudige und konfliktscheue Menschen. Die erfolgreichen sind nebenbei bemerkt meist konfliktfreudig.
"Außerdem besitzen wir interne Bewertungssysteme, die feststellen, ob ein bestimmter Zustand des Gehirns befriedigend ist. Sonst würden wir ja gar nicht wissen, ob wir zum Beispiel glücklich sind. Vor diesem Hintergrund versucht das Gehirn, Verhalten möglichst konfliktfrei zu organisieren, so dass man nicht dauernd bestraft und frustriert wird. Dazu kommt die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen.
Das alles reicht doch als Triebfeder aus, um den ständigen Reifungsprozess des Menschen zu steuern. Freie Entscheidungen eines Ichs braucht es da nicht." 
Klar, und weil es das nicht braucht, wird es einfach für nicht vorhanden erklärt. 
Zum Thema Glück habe ich hier schon einiges gesagt und will das nicht wiederholen. Nur soviel:
Das Streben oder die Suche nach Glück kann regelrecht zur Vorraussetzung haben, dass der Zustand des Gehirns sich in einem Ausnahmezustand befindet. 
Ein vorletztes Zitat:
Wo ereignet sich denn das bewusste Überlegen? In der Großhirnrinde. Und wer überlegt da? Komplexe neuronale Netzwerke, die über die Hirnrinde verteilt sind und in denen genetische und durch Erfahrungen eingeprägte Vorgaben und Regeln existieren. Die Netzwerkzustände werden beeinflusst durch Wissen, das aus dem Gedächtnis abgerufen wird, und von Argumenten, die man vielleicht gerade erst gehört hat, sowie von Zwischenergebnissen des Abwägungsprozesses, die im Kurzzeitspeicher liegen. Aber das alles basiert auf neuronalen Erregungsmustern, die untereinander um einen möglichst kohärenten (zusammenhängenden, in sich stimmigen) Zustand rangeln. Ein mehr oder weniger großer Anteil dieses Prozesses wird uns dabei bewusst. Der Umstand, dass sich dieser Prozess an die Naturgesetze halten muss, bedingt, dass er selbst determiniert sein muss.
In seiner Frage "Wer überlegt da?" bringt er die metaphysische Größe bei den neuronalen Netzwerken ein, die er mit seinem Bezug auf einen absoluten Determinismus zuvor verneint hat. Neuroanale Netzwerke überlegen nicht, sie schaffen Angebote oder auch Forderungen. Nicht an uns, sondern durch uns.
Der Prozess welcher sich an Naturgesetze hält, bedingt nicht nur eine Determination, sondern auch die fundamentale Zufälligkeit der Natur.

Menschen haben darüber hinaus durch die Entwicklung des Bewusstseins die Fähigkeit ausgebaut, sich gegen ihren Körper zu entscheiden. Das zeigt sich bspw. in der bewussten Entsagung einer Hingabe nach dem Bedürfniß Süßes zu essen oder Abhängigkeiten (Alkohol, Nikotin) zu überwinden.
Das Bewusstsein hat ein Vetorecht und entscheidet zwischen einer, nicht der besten, Lösung. Bei gleicher Konstellation kann die Entscheidung ein zweites Mal anders ausfallen. Und dies auch bewusst. Einfach um eine andere Variante zu probieren. Dieses Trial & Error (Versuch und Irrtum) ist ein Lösungsansatz der ohne freien Willen nicht denkbar ist, weil dabei nicht nur das Ergebnis bewusst offen gesehen wird, sondern ein Fehler geradezu provoziert wird. Auch dazu ist der Mensch in der Lage.

Der Zufall wirkt also über die Natur und wird bewusst benutzt.

So gesehen ist der Determinismus sogar eine Vorraussetzung für den freien Willen und nicht der Beweis für seine Nichtexistenz. Das Nachdenken darüber, wie sich ein Ereignis entwickelt hat oder entwickeln wird, ist eine zeitaufwendige und (denk-)kraftaufwendige Arbeit die uns der Determinismus teilweise abnimmt, die aber durchaus nachvollzogen werden kann. 
Warum also die Absolutheit in die Diskussion um den freien Willen? Natürlich ist der Wille nicht völlig frei, so wie der Mensch selbst nicht völlig frei ist. Warum also soll dem Willen seine Freiheit völlig abgesprochen werden?
Weil es immer auch um Verantwortung geht, wenn man vom freien Willen spricht? Wolf Singer unternimmt tatsächlich den Versuch der Trennung:
"Auch wenn man unterstellt, dass es keinen freien Willen gibt, bleibt die Person als Verursacher für ihre Taten verantwortlich."
Eine Illusion als Basis für die Eigenverantwortung trägt nicht. Das sieht er dann wohl auch so und ergänzt:
Aber ich denke, wir werden etwas nachsichtiger werden und in vielen Verbrechern das Opfer einer ungünstigen Konstellation von Genen, Entwicklungsfehlern, frühen Prägungen und so weiter sehen.
Auf dem Wikipedia Eintrag von Wolf Singer sind dann auch viel deutlichere Worte zu lesen:
Wenn naturwissenschaftlich gesehen niemand frei entscheiden könne, sei es nicht sinnvoll, Personen für ihr Tun verantwortlich zu machen.
Diese Nachsicht ist es, welche das Rechtsempfinden empfindlich stört, wenn Straftäter wegen ihrer schwierigen Kindheit mit Strafen davonkommen die die Opfer verhöhnen, abgesehen von der Verhöhnung welche sie nicht selten noch direkt durch die mit Milde verwöhnten Täter trifft.



Alle Erfahrungen und alles Wissen, welche in einen Entscheidungsprozess einfließen oder eben auch nicht, sollen herhalten, um dem Individuum seinen freien Willen abzusprechen. Das, was eine Entscheidung erst qualifizierter macht als eine zwischen ja oder nein, gut oder böse, soll determiniert und damit unfrei sein. Dieser Widerspruch existiert nicht. Der freie Wille schon. Er scheitert nicht an Determinismen.  
Wer in Unfreiheit lebt, hat oft Schwierigkeiten gar eine Entscheidung zu treffen, gerade weil das Wissen fehlt. Aber auch im Alltag gibt es Situationen in denen man sich "nicht entscheiden kann". Dann wird gewissermaßen gewürfelt.
Nicht der Wille zur freien Entscheidung wird determiniert, sondern das, woraus man wählen kann. Allerdings steigt mit zunehmender Komplexität die Anzahl von untereinander unabhängigen Determinierungen und damit auch die Auswahl. Wofür eine Person sich nun mehr oder weniger bewusst oder unbewusst entscheidet, bleibt aber die Entscheidung der Person - mit allem was sie ausmacht. Und so lange diese Entscheidung nicht nur unterschiedlich ausfallen kann, sondern auch tatsächlich unterschiedlich getroffen wird, ist der der Wahl zugrunde liegende Wille nicht mehr determiniert als er zufällig ist. Und nicht so unfrei, als dass ihm nicht das Maß an Freiheit zugestanden werden kann, welches im eigenverantwortlichen Handeln zum Ausdruck kommt.

Die Freiheit des Willens richtet sich nach der Unabhängigkeit von dem Willen anderer Personen, nicht ihrer Ideen und Gedanken. 
Zwang sollte nicht verwechselt werden mit der bewussten oder unbewussten Aufnahme von Ideen. 
Wolf Singer spricht nicht nur von den physikalischen Prozessen der Welt, sondern auch von den sozialen. Und auf diese sozialen Prozesse bezieht er ebenfalls seinen absoluten Determinismus. An dieser Stelle löst sich der Hirnforscher von seinem Fachgebiet und meint sogar, unser Rechtssystem müsse sich ändern.
Er verstärkt damit eine seit langem zu beobachtende Tendenz die die individuelle Verantwortung auf die Gesellschaft verschiebt. Die Substituierung der individuellen durch die kollektive Verantwortung.

Das aber wäre das Ende der individuellen Freiheit im Allgemeinen. Die kollektive Verantwortung würde sich auf die eigenen Entscheidungen wie Mehltau legen. Jeder Einzelne müsste sich in Einklang mit dem Kollektiv bringen. 
Genau der Zustand, welchen Wolf Singer meint erkannt zu haben, würde sich dann einstellen. Es wäre eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, rückte unser Rechtssystem tatsächlich weiter ab vom Prinzip der individuellen Verantwortung.

Erling Plaethe


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