23. Januar 2014

Martin Schulz als EU-Kommissionspräsident oder das Märchen vom Kreidefresser

Nun ist es also raus. Martin Schulz (SPD), aktueller Präsident des Europaparlaments, strebt nach höherem und weiterem. Er möchte EU-Kommissionspräsident werden und damit den Sozialisten José Manuel Barroso…eh nein. Barroso gehört der konservativ-bürgerlichen PSD Portugals an und hat Romano Prodi beerbt, seines Zeichens Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied der bürgerlichen Democrazia Cristiana Italiens, der wiederum dem christsozialen Jacques Santer gefolgt war. Wenn das, was mit der Amtszeit Barrosos endet also gleichsam die konservativ-bürgerliche Phase der EU-Kommissionsleitung gewesen ist, dann mag man sich nun die bange Frage stellen, wie man sich die in naher Zukunft möglicherweise beginnende sozialistische Phase vorstellen soll. Zur Einstimmung einige Zitate von Martin Schulz:

"Man muß bei Sanktionen [gegen die ungarische Regierung Orbán] Schritt für Schritt vorgehen."
"Die EU ist eine Transferunion, das müssen die Menschen akzeptieren."
"Wir brauchen gemeinsame europäische Anleihen."
"Die Tatsache, daß aus dem Dollarraum oder aus dem Yenraum gegen den Euro spekuliert wird, hat ja etwas damit zu tun, daß diese Währungen den Euro als die stärkere Währung empfinden und ihn schwächen wollen." 
"Europa muss endlich anerkennen, dass es ein Einwanderungskontinent ist."
"Es geht nicht an, daß dieser Mann ungehindert die Würde dieses Hauses mit Füßen trampelt" (ab 2:55) 
Aber halt, keine Sorge, geneigter Leser. Denn just am Tag nach Bekanntwerden der Bewerbung von Martin Schulz als Kommissionspräsident trug es sich zu und begab sich wunderbar, daß er der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben hat, aus dem folgende Zitate stammen:
"Wir müssen darüber nachdenken, was national, regional und lokal besser gemacht werden kann als in Brüssel."
"Denkt nicht darüber nach, ob es noch irgendeine Ecke gibt, in die wir uns noch nicht eingemischt haben."
"Das Problem ist, dass derzeit in der Kommission, überspitzt gesagt, zwei Denkschulen sitzen. Die einen geben nicht eher Ruhe, bis sie auch den letzten kommunalen Friedhof privatisiert haben. Und die anderen hören nicht auf, bevor sie nicht eine einheitliche Beerdigungsordnung in Europa haben. Das macht die Leute verrückt, damit muss Schluss sein."
"Eines aber akzeptiere ich nicht: Da sitzen 28 Regierungschefs in Brüssel, und am Ende ist immer Frau Merkel schuld. Dabei wird einstimmig entschieden. Ich bin nicht bereit, dieses Merkel-Bashing hinzunehmen. In Wahrheit ist das ein Deutschen-Bashing."
Welch Balsam für die geschundene europäische Seele! Ein Mann, der die Probleme der Bürger nicht nur verstanden hat, sondern auch willens ist, sie anzupacken. Welch plötzliche, welch herrliche Einsicht!
Oder doch nur das Märchen vom Kreidefresser in neuem Gewand?
Andreas Döding


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