19. Januar 2014

 "Ein genialischer Mann mit tausend Unarten" 


So charakterisierte gegen Ende ihrer professionellen Verlagsbeziehung Lektor Kurt Marek gegenüber seinem Chef Ernst Rowohlt den wohl unzugänglichsten und beratungsresistentesten Autor seines Hauses: Arno Schmidt - dessen Bücher zwar in ihrer Radikalität, sowohl der ästhetischen wie auch in ihrer Schroffheit gegenüber allem Zeitgeistigen wie Traditionellem weit über alles hinausgingen, was nach der "Stunde Null" und der "Trümmerliteratur"angesagt gewesen war, die aber wie Blei in den Regalen lagen. Von seinem Erstlingswerk, dem "Leviathan", waren nach vier Jahren, bis Ende 1953, gerade einmal 400 Exemplare abgesetzt worden, von den nachfolgenden Bänden nicht einmal die Hälfte.

Im Grunde ist es dabei bis heute geblieben: ein Autor, der für den Großteil des Publikums ein Namen mit einigen, in diesem Fall sehr charakteristischen "Ecken & Kanten" ist, eher eine Marke als eine vertraute Präsenz, charakterisiert durch seine forcierte Modernität im Formalen: das Aufbrechen der Orthographie wie der verwendeten Sprache, in der wild die entlegensten Fundstücke aus verschollener Stubengelehrsamkeit mit groben Zoten durcheinanderschießen. Anspielungen und Zitate, die mitunter selbst Bücherfresser, wie "Schmidt= selber" einer war, hoffnungslos überfordern schlagen unvermittelt in apodiktische Verdammungen um, bei denen man das Gefühl hat, sie könnten alles und jedes treffen: die Klassiker des Literaturkanons wie Goethe oder Stifter ebenso wie den Zeitgeist der Gegenwart, die Politik sowieso, die Politiker noch mehr und die Religion en gros (als Prinzip also) wie en detail (also in allen ihren konkreten Ausprägungen) noch einmal in verschärftem Maße. Nicht jeder hat "AS" die bemühte Selbststilisierung zum "Schreckensmann", zum Berserker gegen Gott und die Welt, wie er sie beispielsweise bei Wezel oder Joyce vorgeprägt sah, abgenommen: zu sehr klang das nach einer forcierten Rolle. 
















Auf der anderen Seite des Zauns stehen seine Leser. Arno Schmidt ist allerdings, wie der Begründer dieses Blogs, der unter dem Pseudonym "Zettel" in "Zettels Raum", das sich vom Titel her vom Schmidts opus eximium, "Zettels Traum" von 1970, herleitete, im April 2011 schrieb, ein "Autor mit Gemeinde", aber anders als die bekannten (und durchaus abschreckenden) Beispiele aus der deutschen Literaturgeschichte, also Stefan George oder Rilke, oder etwa in neuerer Zeit Peter Handke, ein Autor ohne Gläubige:Warum ich von Arno Schmidt fasziniert bin:
 
"Eine "Arno-Schmidt-Gemeinde" gibt es nicht. Das liegt daran, daß Schmidts Leser zu klug sind, zu distanziert, um eine Gemeinde zu veranstalten. Eine Zusammengehörigkeit gibt es aber schon. Ich glaube, daß ich einen Liebhaber von Arno Schmidt auf eine Meile riechen kann.
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Was macht die Lust am Lesen von Arno Schmidt aus? Man muß da die Schichten abtragen. Erstens fordert er den Leser. Das war
von seinen ersten Arbeiten an so, bis ins Spätwerk hinein. Er wollte, daß man seinen Kopf anstrengt.
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Zweitens gibt es bei Schmidt das, was man heute gern "Subtext" nennt. Es gibt niemanden, der so viel von unserer kulturellen
Tradition verarbeitet, der das so in sein Werk eingebaut hat. Keinen Deutschen. Joyce hat das natürlich auch gemacht.
   [...]
Drittens gibt es die Lust an der Sprache. Schmidt hatte ein sinnliches Verhältnis zur Sprache. Er hat mit ihr gespielt, sie
ausprobiert, sie variiert. Er war ein Bewunderer von Lewis Carroll, der das auch konnte."
 
Arno Schmidt war Beides: der abweisende Eremit, der "Solipsist in der Haide", bei dem schon die Physiognomie etwas Steinernes, Abweisendes aufwies, und der Stenograf der kleinsten Einzelheiten seiner Umwelt; der Pedant, der seinen Lesern und Zuhörern in den Funkfeatures der Süddeutschen Rundfunks einen völlig unbekannten literarischen Kanon eröffnete: Johann Karl Wezel, Leopold Schefer, Fouque, Johann Gottfried Schnabel - der aber dann dieses literarische Paralleluniversum mit einer Unbedingtheit vertrat, die den Gralshütern des Kanons der Adenauerzeit, an denen er sich so heftig abarbeitete, in nichts nachstand. Was ihn von den genannten Gemeindestiftern radikal unterscheidet, ist aber, daß seine Sicht auf die Welt, auf die Literatur (wobei man wohl zu Recht unterstellen darf, daß für ihn die Literatur den einzige bedeutsamen Aspekt der Welt darstellte: "ich habe im Zimmer weit größere Freiheit, als draußen; und die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare"), nun so gar nichts Wahrheitsstiftendes an sich hat. Seine Urteile, die Methoden, mit denen er seiner Zeit (und eben der Literatur aller Zeit: "Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten ... entschloß ich mich : Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln") waren erfrischend, aber unzutreffend, "verpeilt", um es im zeitgeistigen Jargon zu sagen. Ob es um seine radikale Ablehnung der Adenauerzeit und ihrer Politik geht, um die Überlegungen, die seine formalen Experimente begründen sollten (die "Technik der 'literarischen snapshots'" im Frühwerk; später die "Etym-Theorie", mit der er die Mehrspaltentechnik der späteren, nur noch als Typoskript gedruckten Bücher begründen wollte, um seine Rezeption der Freudschen Psychoanalyse): nichts davon ist geeignet, als Erkenntnis oder Hypothese zu dienen. In gewisser Weise haben all diese Facetten und Ausblicke auf die Welt stets den Gestus der unmittelbaren Nachkriegszeit bewahrt: ihnen haftet etwas Selbstgebasteltes, Improvisiertes an.  
 
Das tut dem Vergnügen, das die Lektüre von AS bereitet, freilich nun gar keinen Abbruch. Wer ihn heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, liest, der tut das aus dem Vergnügen an der intrikaten Schrägheit und Vertracktheit, die nicht nur im deutschen Sprachraum seinesgleichen sucht, an der Mischung aus einer Neugier, die die gesamte Natur- und Geistesgeschichte im Handstreich einschließen möchte, und der Koppelung mit einem benehmend engen Provinzlerkosmos, der ihn so beengend umgab und der einen nachgeborenen Leser heilfroh macht, die "muff'jen Fuffz'jer" nicht am eigenen Leib erfahren zu haben.
 
Auch wenn es seine eigenen Intentionen in schroffer Weise wiederlegt: Wer ihn liest, zumal wer ihn heute liest, der hängt längst nicht mehr der Illusion an, daß Literatur irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun haben könnte. AS hatte immer den Ehrgeiz, seine Ästhetik als verbindlich zu dekretieren oder "Schüler" zu haben. Daß daraus nichts wurde, ist bekannt: der Name Hans Wollschlägers, der noch am ehesten diese Rolle ausfüllen gekonnt hätte, ist aber mittlerweile auf dem Weg, ein ebenso verschollener zu werden, wie es die von Schmidt ausgegrabenen Vorgänger waren.
 
Einen gelungenen Überblick über das Leben und, soweit das in einem solchen Rahmen möglich ist, eine Einführung in das Werk Arno Schmidts hat arte in einer einstündigen Dokumentation gegeben, "Mein Herz gehört dem Kopf", die hier vorerst noch abrufbar ist.
 
Und da das Stichwort "selbstgebastelt" gefallen ist: Hier gibt es das Häuschen, in das Schmidt sich 1958 in das Dorf Bargfeld zurückzog, im Maaßstab 1:125 zum Nachbau (ein sarkastischer Kommentar könnte dahin gehen, daß Bargfeld für die deutsche Literatur das darstellt, was Combray/Illiers für die französische ist); sowie hier, dank des Zeichners & Cartoonisten Ralf Zeigermann, AS selbst zum Ausschneiden & Nachbauen - samt dem "Ahornblatt vom Grab Wielands", das zu den persönlichen Reliquien Schmidts zählte und dessen Diebstahl im Oktober 2011 Zettel Anlaß zu einer Marginalie über Geistiges und sonstiges Eigentum gab.
 
Die "Arno-Schmidt-Forschung", die sich nach dem Erscheinen von "Zettels Traum" 1970 als "Dechiffrier-Syndikat" formierte, um die zahllosen Anspielungen und Verrätselungen aufzuschlüsseln, hat im Laufe der Zeit ein durchaus respektvolles, aber distanziertes Verhältnis zum Gegenstand ihres Interesses entwickelt. Für den Außenstehenden mag das bedenklich nach "Fanclub" klingen; es ist aber durchaus eher so, wie bei dem sprichwörtlichen Kammerdiener, dessen Dienstherr im Verlauf der Jahre kein Geheimnis mehr vor ihm bewahrt.
 
Was allerdings ein wenig überrascht, ist das Ausbleiben einer Analyse, die geeignet scheint, zumindest einige der Ecken und Kanten der harschen Persönlichkeit Schmidts, seine kategorische Ungeselligkeit, seine monomanische Faszination für Zahlen, Formeln, Daten, seine wirklich grobe Unbedenklichkeit im Umgang mit seinen Mitmenschen - gerade auch mit den wenigen, die Zugang zu ihm hatten und ihn nach Kräften gefördert haben, seine überbordende Sprachspielerei, in ein anderes Licht zu rücken. Solche rückwirkenden Anamnesen haben immer etwas Mißliches, weil darin der vermeintliche Versuch mitzuschwingen scheint, Eigenschaften nachträglich durch eine schlichte Pathologisierung stigmatisieren zu wollen. Zum anderen gibt es in solchen Fällen oft nicht genug Material, um eine brauchbare Diagnose stellen zu können: so gilt beispielsweise Hans Christian Andersen bis heute als homosexuell, mit der Folge, daß ein emphatisches Bekenntnis zu seinem Werk vor 100 Jahren als ein Signal "sub rosa" verstanden werden konnte. So hat es Thomas Mann vor 1910 gehalten - dennoch ist die Zuschreibung höchst zweifelhaft, da sie nur auf Analogieschlüssen und vermeintlichen Indizien beruht, nicht auf der Lebensführung oder gar Aussagen Andersens selbst. (Das Beispiel der Homosexualität spielt bei Schmidt übrigens ex negativo in dessen Selbstbild hinein: Anfang der 60er Jahre scheint Schmidt aus seiner gerade erfolgten Freud-Lektüre geschlossen zu haben, er selbst müsse zumindest latente homosexuelle Neigungen aufweisen, von denen er bei sich aber beim besten Willen nichts entdecken konnte: die Ausdeutung des Werks Karl Mays in "Sitara und der Weg dorthin" und die Erzählung "Windmühlen" scheinen ein Versuch zu sein, diesen scheinbaren Widerspruch in den Griff zu bekommen.)
 
Im Fall von Arno Schmidt liegt allerdings genug Material vor, nicht nur in der Lebensführung und der Korrespondenz: trotz aller germanistischer Warnungen zeigt er sich in allen seinen Protagonisten stets so unverstellt, so unmittelbar, daß einer Unterscheidung zwischen Autor und persona in hohem Maße unsinnig wäre. Wenn man dieses Material einmal vor dem geistigen Auge Revue passieren läßt, darf man sich einigermaßen sicher sein, daß Schmidt bei diesem Test, hätte es ihn zu seiner Zeit gegeben und hätte er ihn ehrlich beantwortet, ein Ergebnis weit jenseits von 35 der 50 möglichen Punkte erzielt hätte.














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Ulrich Elkmann


© Ulrich Elkmann. Abb.: Gartentor des Schmidtschen Grundstücks in Bargfeld. Vom Bildautor Tolanor gemäß en Bestimmungen von Wikimedia Commons zur Weiterverwendung freigegeben.  Für Kommentare bitte hier klicken.