Bekanntlich scheuen sich Feuilleton und Politpersonal dieser
Republik nicht davor, ein Buch zu verdammen, das sie nicht gelesen
haben. Wenn aber sowohl hierzulande als auch in Frankreich über ein Opus diskutiert wird, das noch niemand gelesen hat, weil es noch gar nicht
erschienen ist, dann kann es sich bei dem Inhalt des fraglichen Werks
eigentlich nur um eines der beiden transrhenanischen Reizthemen handeln:
Philosophie oder Nationalsozialismus. Oder um beides.
Gemäß dem Willen Martin Heideggers (1889–1976) bildet die
Veröffentlichung seines von 1931 bis in die 1970er-Jahre geführten
philosophischen Tagebuchs, der sogenannten Schwarzen Hefte, den Schlusspunkt der
Gesamtausgabe seines Werks, die nun schon seit mehreren Jahrzehnten vom
Frankfurter Verlag Vittorio Klostermann besorgt wird. Die Aufzeichnungen der
Jahre 1931 bis 1941 sollen im Februar beziehungsweise März dieses Jahres in
drei Bänden auf den Markt kommen. Mit der Edition dieses Gedankenjournals ist der
an der Universität Wuppertal lehrende Peter Trawny befasst.
Aus dem Umfeld des Philosophieprofessors, der auch am Dictionnaire Martin Heidegger
(„Martin-Heidegger-Wörterbuch“) mitgearbeitet hat, sind nun einige – jedenfalls ohne
Co-Text – als antisemitisch zu verstehende Passagen aus den in Bearbeitung
befindlichen Notizen an die französischen Adepten des in Meßkirch gebürtigen
Meisters gelangt. Heidegger mag schon in Deutschland eine überlebensgroße Figur
sein – so ist sein Hauptwerk Sein und Zeit nach Jürgen Habermas’ Verdikt „das
bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels Phänomenologie [des Geistes]“
–, doch in Frankreich genießt der Schüler Husserls eine bisweilen schon ans
Fanatische grenzende Verehrung.
Einer der Herausgeber des Dictionnaire Martin Heidegger, Hadrien France-Lanord, konnte nun nicht
mehr an sich halten: Als Gast der wöchentlichen Radiosendung des bekannten
französischen Intellektuellen Alain Finkielkraut las er einige der
kompromittierenden Passagen vor und sprach in diesem Zusammenhang von Heideggers
gedanklicher faillite (Bankrott).
Gleichwohl war France-Lanord hörbar darum bemüht, auch entlastendes Material
vorzubringen. Die im Dictionnaire
getätigte Aussage, im bisher veröffentlichten Werk Heideggers finde sich nicht
ein einziger antisemitischer Satz, müsse er jetzt freilich ändern.
Näheres zu den diskussionsgegenständlichen Notizen
Heideggers ist in einem für die ZEIT verfassten Beitrag Peter Trawnys zu lesen,
der nicht nur über die Indiskretion seiner französischen Kollegen wahrnehmbar
verärgert ist, sondern sich auch als Opfer einer gegen ihn gestarteten Kampagne
sieht. France-Lanords Diskussionspartner in der vorgenannten Rundfunksendung,
der am Pariser Husserl-Archiv tätige Christian Sommer, wirft dem Dictionnaire sogar eine Heiligsprechung
Heideggers, das Ignorieren internationaler Forschungsergebnisse und
unzutreffende Übersetzungen (etwa „idées nationales-socialistes“ für völkische Ideen) vor.
Nicht zu Unrecht weist Trawny darauf hin, dass vor dem
Erscheinen der Schwarzen Hefte jede
Interpretation der bekannt gewordenen Aussagen müßig sei. Das
deutsche Feuilleton hat sich gleichwohl auf diese neue Wendung in der unabgeschlossenen Akte H gestürzt. Stellungnahmen finden sich etwa in der ZEIT, auf FAZ.net und in SPIEGEL Online.
Bedeutende Medien in den unserer Sprachgemeinschaft zugehörigen Nachbarländern
haben sich dieses Themas ebenfalls angenommen.
Die österreichische Tageszeitung Die Presse zitiert die französische Philosophin Sylviane Agacinski
mit den folgenden Worten: „Wir wissen seit Langem alles, was man darüber wissen
muss.“ Genau das trifft den Punkt. Dass Heidegger zumindest zeitweise in nicht
zu leugnender Nähe zum nationalsozialistischen Regime stand, ist wohlbekannt. Man
braucht zu Belegzwecken gar nicht bis zu seiner berüchtigten Rektoratsrede
zurückzugehen. In einem im Jahr 1966 geführten, aber erst posthum
veröffentlichten SPIEGEL-Interview erklärte der Autor von Sein und Zeit seine anfängliche Begeisterung für die
Hitler-Diktatur folgendermaßen:
Ich sah damals keine andere Alternative. Bei der allgemeinen Verwirrung der Meinungen und der politischen Tendenzen von 22 Parteien galt es, zu einer nationalen und vor allem sozialen Einstellung zu finden, etwa im Sinne Friedrich Naumanns.
Seine Urheberschaft an der folgenden Äußerung
dementierte Heidegger nicht, wenngleich er sich aus der Ex-Post-Perspektive von
diesen Zeilen distanzierte:
Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.
In der Publikumspresse war das Verhältnis des Philosophen zu
den braunen Machthabern immer wieder Gegenstand eingehender Erörterungen. Jeder
andere Dichter und Denker in diesem Land wäre bei einer vergleichbaren
Beweislage ohne viel Federlesens in den Giftschrank gesperrt worden oder
zumindest so weit diskreditiert, dass man seine Werke nur noch mit spitzen
Fingern in die Hand und mit der geballten Abscheu des geistesgeschichtlichen
Interessiertseinmüssens zur Kenntnis nehmen könnte. Was führt im Fall Heidegger
dazu, dass es periodisch zu Wiederaufnahmen des Verfahrens kommt, das dann
nichtsdestoweniger immer wieder eingestellt wird (die NZZ zählt – die jetzige Skandalisierung bereits eingerechnet – fünf
solcher Affären seit 1946/1947)? Würde es, so wie Peter Trawny in der ZEIT mutmaßt, wirklich einen Unterschied
bedeuten, wenn nicht nur der citoyen,
sondern auch der Philosoph Heidegger antisemitische Gedanken gehegt hätte?
Trawny expliziert dies folgendermaßen:
Antisemitische Äußerungen von Heidegger sind seit Langem bekannt. […] Eine private Voreingenommenheit gegen die Juden ist eine bedenkliche Schwäche. Sie lässt sich vor dem Hintergrund des Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts grassierenden allgemeinen Antisemitismus zwar nicht rechtfertigen, doch in ihrer Bedeutung einschränken. Nun aber ist klar, dass Heidegger dieses Ressentiment, das ich einen seinsgeschichtlichen Antisemitismus nennen möchte, zum Anlass philosophischer Gedanken gemacht hat. So erhält das Ressentiment eine andere, erschreckende Dimension.
Auch wenn man Georg Diez (SPIEGEL-Online) nicht darin folgen mag, dass eine Trennung von Mensch und Werk
ausnahmslos
[e]ine speziell deutsche Denkweise [darstellt], geboren genau aus jenem herrisch-aggressiven Universitätsmilieu, das in Martin Heidegger seine vielleicht böseste Schnabeltasse hatte[,]
so mag es bei einem Philosophen doch etwas eigenartig
wirken, gleichsam einen Feierabend-Antisemitismus von der universellen Werten
verpflichteten Sinnierprofession zu separieren. Aber freilich sollte man
Heideggers Gedankengebäude aus diesem selbst heraus und nicht anhand seiner Biographie
beurteilen. Findet man nun in Heideggers publiziertem Output bedenkliche
Inhalte?
Interessant ist in dieser Hinsicht, was Tim Black vor
einigen Jahren im Spiked-Magazin geschrieben hat:
Heidegger prompts discomfort precisely because he was a Nazi propagating a non-Nazi philosophy. He is just not alien enough. His is a philosophical vision that sits too comfortably with many mainstream attitudes, whether it’s an environmentalist assault upon human hubris or a snobbish disdain for consumerism.
Heidegger ruft genau deshalb Unbehagen hervor, weil er ein Nazi war, der eine nichtnazistische Philosophie vertrat. Er ist eben nicht fremd genug. Seine philosophische Vision verträgt sich mühelos mit vielen Mainstream-Einstellungen, ob das nun eine umweltschützerische Attacke gegen die menschliche Hybris oder eine snobistische Verachtung des Konsumismus ist.
Kann es da erstaunen, dass Heidegger – was Black zu Recht
hervorhebt – so viele Bewunderer und Schüler im gemäßigt linken bis linksradikalen
Milieu hatte, um nur Ahrendt, Habermas, Marcuse, Althusser, Derrida und Sartre
zu nennen? Und auch Thomas Assheuer (ZEIT) beurteilt Heideggers These, dass
die Durchrationalisierung der Welt paradoxerweise eine neue Undurchsichtigkeit erzeugt, ein riesiges Unheimliches, das so allgegenwärtig ist, dass es den Menschen unbegreiflich bleibt[,]
als „originellen Gedanken“. Ist es verwunderlich,
dass bestimmte Gruppierungen in den Reihen der Grünen immer wieder in die Heidegger-Tradition gestellt werden?
In einem entscheidenden Punkt muss Tim Black jedoch widersprochen werden: Zentrale Leitlinien der Heidegger'schen Gedankenwelt – Antimodernismus,
Antliberalismus und Antikapitalismus – bilden eine Schnittmenge nicht nur mit dem klassischen Sozialismus und Kommunismus sowie neueren links verorteten Ideologien wie zum Beispiel dem Altermondialismus und dem Ökologismus. Sie stellen auch das geistige Fundament dar, auf dem die nationalsozialistische Theorie aufbaut. War Heidegger also ein Querfront-Denker oder lieferte er die eindrucksvolle Bestätigung der von Hayek (The Road to Serfdom) vorgebrachten These, dass die diversen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts eigentlich gleicher Wein in verschiedenen Schläuchen waren?
Ist nicht jeder neue Beleg für Heideggers biographische und gedankliche Verstrickung in den Nationalsozialismus gerade deshalb eine Herausforderung für ein bestimmtes intellektuelles Milieu, weil sich damit ganz von selbst die Frage aufdrängt, wie viel braune Mentalität in der Philosophie des Meisters und somit auch in den eigenen Überzeugungen steckt? Und weil dadurch die Trennlinie zwischen bösem Totalitarismus (Nationalsozialismus) und gutem Totalitarismus (Ökologismus) verschwimmt?
Dass etwa die Klima-Ideologie undemokratische Strukturen annimmt, ihre heutigen Vordenker eine Diktatur auf Zeit fordern und auch schon nach der physischen Vernichtung reaktionärer Elemente gerufen worden ist, stellt in dieser Perspektive ebenso wenig einen Zufall dar wie die an unselige Vorbilder erinnernden, tonalen Missgriffe im Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, etwa wenn darin "wirkungsmächtige gesellschaftliche Kräfte und Widerstände" sowie "die Vetomacht von Interessenkartellen aus dem High-carbon-Regime" (Seite 200) als Hindernisse auf dem Weg zur "Nachhaltigkeitstransformation" (ebendort) ausgemacht werden. Von einer Formulierung wie "etablierte Blockadekräfte" (Seite 257) ganz zu schweigen.
Wer unvoreingenommen liest, was von Heidegger bereits veröffentlicht
ist, braucht nicht auf das Erscheinen der Schwarzen
Hefte zu warten, um zu erkennen, dass Heidegger eine Art Rousseau des 20.
Jahrhunderts ist. Ein einflussreicher Denker zweifellos – aber auch ein
Philosoph, dessen intrinsischer Antihumanismus genauso verstört wie die
Befürwortung der Mehrheitsdiktatur und des Gesinnungsterrors durch den Genfer Nicht-Aufklärer. Ist nicht jeder neue Beleg für Heideggers biographische und gedankliche Verstrickung in den Nationalsozialismus gerade deshalb eine Herausforderung für ein bestimmtes intellektuelles Milieu, weil sich damit ganz von selbst die Frage aufdrängt, wie viel braune Mentalität in der Philosophie des Meisters und somit auch in den eigenen Überzeugungen steckt? Und weil dadurch die Trennlinie zwischen bösem Totalitarismus (Nationalsozialismus) und gutem Totalitarismus (Ökologismus) verschwimmt?
Dass etwa die Klima-Ideologie undemokratische Strukturen annimmt, ihre heutigen Vordenker eine Diktatur auf Zeit fordern und auch schon nach der physischen Vernichtung reaktionärer Elemente gerufen worden ist, stellt in dieser Perspektive ebenso wenig einen Zufall dar wie die an unselige Vorbilder erinnernden, tonalen Missgriffe im Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, etwa wenn darin "wirkungsmächtige gesellschaftliche Kräfte und Widerstände" sowie "die Vetomacht von Interessenkartellen aus dem High-carbon-Regime" (Seite 200) als Hindernisse auf dem Weg zur "Nachhaltigkeitstransformation" (ebendort) ausgemacht werden. Von einer Formulierung wie "etablierte Blockadekräfte" (Seite 257) ganz zu schweigen.
Es bleibt abzuwarten, ob die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Schwarzen Heften zum Fall Heideggers und folglich zu einem Abschluss des Falls Heidegger führen wird. Die Präventivschläge der Apologeten lassen einen solchen Ausgang jedoch nicht vermuten.
Noricus
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