14. Mai 2013

Werden wir immer gestörter? Skeptische Gedanken zur vermeintlichen Zunahme psychischer Erkrankungen

Allenthalben ist von einer bedeutsamen Zunahme psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu lesen, die bisweilen auch deutliche Wellen in den Medien schlägt. In der Tat muß man feststellen, daß in den letzten 20 Jahren die Fälle, etwa der vorzeitigen Berentungen, aufgrund diagnostizierter psychischer Erkrankungen, deutlich zugenommen haben und inzwischen den Spitzenplatz einnehmen, was zu erheblichen volkswirtschaftlichen Folgekosten führt. Auch die Anzahl krankheitsbedingter Fehltage am Arbeitsplatz, aufgrund diagnostizierter psychischer Störungen, hat rasant zugenommen.

Es läge nun nahe anzunehmen, daß dies mit einer "echten" Zunahme psychischer Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung korrespondiert, wir also in der Tendenz psychisch immer "gestörter" werden. Diese Interpretation ist im politischen Diskurs gang und gäbe. Auch mit Ursachenzuschreibungen ist man schnell dabei. Schon wird gewerkschaftsseitig gefordert, Arbeitnehmer durch eine Antistreß-Verordnung zu entlasten, und die Politik scheint durchaus nicht abgeneigt.
­Hintergrund der kolportierten Zahlen zur Zunahme psychischer Störungen sind in aller Regel Datenanalysen der gesetzlichen Krankenkassen, die allerdings lediglich die stärkere Inanspruchnahme des Hilfesystems durch Patienten und somit die häufigere Diagnosestellung durch Ärzte und Psychotherapeuten belegen. Es handelt sich hierbei nicht um epidemiologische Studien zur Verbreitung von Krankheiten in der Bevölkerung, wenngleich sie häufig und fälschlich so interpretiert werden.

Im Folgenden möchte ich zeigen, daß man die Schlußfolgerung einer "echten" Zunahme psychischer Erkrankungen nicht vorschnell ziehen sollte, da die entsprechenden Beobachtungen durchaus von speziellen Problemen der Erfassung psychischer Störungen, insbesondere im zeitlichen Längsschnitt, erzeugt sein könnten.

Hierzu muß man zunächst einen kurzen Blick auf die Frage werfen, wie psychische Erkrankungen überhaupt erfaßt und diagnostiziert werden. In Forschung und Praxis haben sich zwei Diagnosesysteme durchgesetzt, die in Buchform vorliegen:
Zum einen das DSM, das Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen, das gegenwärtig noch in der vierten Fassung (von 1994) vorliegt, dieser Tage jedoch in der fünften Auflage erscheinen wird. Herausgeberin ist die American Psychiatric Association (APA). Dieses Kompendium ist gleichsam die Urmutter moderner psychiatrischer Diagnostik und findet international v. a. in der Forschung Anwendung.
Zum anderen die ICD, die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Herausgeberin ist die WHO, und sie liegt gegenwärtig in der 10. Fassung (1992) vor. Im Unterschied zum DSM werden hier nicht nur die psychischen, sondern alle bekannten Krankheiten erfaßt. Sie ist Standard in der ärztlichen Anwendung. Wenn Sie also zum Arzt gehen, muß der Arzt Ihrem berichteten Leiden eine Diagnose nach diesem System geben, um seine Leistung mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen zu können. Die Krankheiten werden dabei als alphanumerischer Code verschlüsselt. J06.9 stünde dann beispielsweise, im Falle eines grippalen Infektes, als Diagnose auf Ihrer Krankmeldung für die Krankenkasse (das Exemplar für den Arbeitgeber enthält natürlich keine Diagnoseangabe).
ICD und DSM sind heute weitgehend kompatibel und ineinander überführbar.
Für die Beurteilung einer Zunahme der Vorkommenshäufigkeit (Prävalenz) oder der Anzahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) psychischer Störungen ergeben sich eine Vielzahl von Problemen.
Beide Diagnosesysteme sind in den vergangenen Jahrzehnten z. T. erheblichen Revisionen unterzogen worden. Diese waren auch bitter nötig, um die anfangs sehr schlechte Zuverlässigkeit psychiatrischer Diagnosen zu verbessern. Dabei haben jedoch sowohl die Anzahl der erfaßten (oder richtiger: der neu definierten) Erkrankungen als auch deren inhaltliche Ausdifferenzierung, erheblich zugenommen.

Gab es in der 1976er Fassung der ICD 9 mit Blick auf Angsterkrankungen lediglich die "Angstneurose" und die "Phobie", so finden wir in der ICD 10 (1992) bereits acht spezifische Angsterkrankungen (plus zwei "Restkategorien" für Zweifelsfälle; genau genommen also zehn verschiedene Angststörungen). Die Vergleichbarkeit der verschiedenen Versionen der ICD ging darüber weitgehend verloren, so daß Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen, etwa aus den 80er Jahren, nicht mehr sinnvoll mit heute publizierten Studien zu vergleichen sind.

Betrachtet man dagegen kürzere Vergleichsszeiträume, sprechen die Daten eher gegen eine generelle Zunahme psychischer Störungen, insbesondere nach dem methodisch aufwendigen Bundesgesundheitssurvey. Hierbei handelt es sich um eine groß angelegte epidemiologische Reihenuntersuchung unter Federführung des Robert-Koch-Instituts, in der in aktuellen Ergänzungsstudien auch die psychische Gesundheit in der Bevölkerung untersucht wird.

Wie entsteht also dennoch der Eindruck einer Zunahme psychischer Störungen?

Zunächst erscheint es möglich, daß die oben beschriebene Ausdifferenzierung der Diagnosen auch zu einem veränderten Diagnoseverhalten seitens der Ärzte geführt haben mag. Es ist denkbar, daß um so mehr diagnostiziert wird, je mehr diagnostische "Möglichkeiten" es gibt. Auch die Zunahme der an mehreren psychischen Störungen gleichzeitig leidenden Menschen (Komorbidität) läßt sich hypothetisch durch das vergrößerte diagnostische "Angebot" erklären.
Hier schließt sich direkt ein weiteres Problem an. Psychische Erkrankungen haben in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Enttabuisierung erlebt, was natürlich hocherfreulich ist. Mit der immer geringeren Stigmatisierung seelischer Erkrankungen mag jedoch eine erhöhte Bereitschaft, psychische Leiden vor sich selbst und anderen einzugestehen und sich mit ihnen an einen Arzt oder Psychotherapeuten zu wenden, verbunden sein. In diesem Falle wären also ebenfalls nicht die Erkrankungen häufiger geworden, sondern die Gelegenheit, diese auch zu diagnostizieren und zu behandeln.
Mit einer gewissen allgemeinen Psychologisierung des gesellschaftlichen Lebens, wie sie vielfältig zu beobachten ist, mag auch die "Sensibilität" vieler Menschen gestiegen sein, mehr achtzugeben auf das eigene psychische Befinden, sich gleichsam häufiger den Spiegel vorzuhalten, im Sinne einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit. Nicht zufällig hat der seit den 70er Jahren virulente Begriff der Selbstverwirklichung seine heute gängige Prägung und Bedeutung durch die Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers erhalten.
Möglicherweise wird seelisches Leid, das zu den normalen Grundbedingungen menschlicher Existenz gehört, heute schneller und eher von den Menschen als "krankhaft" und somit als behandlungsbedürftig erlebt, so daß die entsprechenden Hilfesysteme häufiger aufgesucht werden. Und werden diese Menschen dann wieder weggeschickt, etwa mit den Worten: Sie haben nichts, Sie sind nur traurig oder unzufrieden aber ansonsten gesund? Wohl kaum. Im Zweifel "findet sich" dann möglicherweise eine Diagnose, um das Hilfeersuchen des Menschen nicht zurückweisen zu müssen. Leider hat der Patient dann jetzt aber eben diese Diagnose, die, wie der amerikanische Psychiater Allan Frances in einem äußerst lesenswerten Interview kürzlich  zurecht kritisch sagte, wie eine Ehe ist.
Haben wir es also nicht nur mit einer Psychologisierung, sondern auch mit einer Pathologisierung des täglichen Lebens zu tun? Manches spricht dafür. Es scheint eine Tendenz zu geben, normale, das Leben jedes Menschen begleitende, Leidenszustände zunehmend als Krankheitskategorie zu erfassen.
In der hochkontroversen Debatte um das in diesen Tagen erscheinende DSM 5 wird dies beispielsweise deutlich. Hier wurde bereits im Vorfeld der Veröffentlichung Kritik laut, daß, etwa mit "neuen" Diagnosen wie der "Affektiven Dysregulation", eine Masse neuer Krankheitsfälle (in diesem Fall psychisch gestörter Kinder) gleichsam "geschaffen" würden. Diese neue Diagnose soll zukünftig auf Kinder zutreffen, die, landläufig gesprochen, öfter (als drei Mal pro Woche) "ausrasten", also schwer zu beeinflussende Wutanfälle bekommen. Dabei ist die Entstehung der Diagnose bemerkenswert. Die Amerikanische Psychiatrievereinigung hierzu:
Die Diagnose soll Bedenken gerecht werden, die sich um eine mögliche Überdiagnose und Übertherapie von bipolaren Störungen bei Kindern ranken.
Nun gibt es das Problem der viel zu häufigen Diagnostizierung von Kindern als Bipolar (=manisch-depressiv) ausschließlich in den USA. Dieses Phänomen ist hier gänzlich unbekannt (wie umgekehrt "Burnout" ein rein deutsches Phänomen ist, das in der internationalen Diskussion praktisch nicht vorkommt).
Man entwickelt also eine Diagnose, um einer -regional begrenzt- inflationär gebrauchten anderen Diagnose Herr zu werden. Gleichwohl ist abzusehen, daß auch im deutschsprachigen Raum von der neuen diagnostischen Möglichkeit "Affektive Dysregulation" rege Gebrauch gemacht werden wird. Jedoch, anders als vermutlich in den USA, wird dies hier nicht zu einer Abnahme der Häufigkeit einer anderen Diagnose führen (hier: Bipolare Affektive Störung), sondern zu einer Zunahme der als krank diagnostizierten Kinder insgesamt.

Auch die neu eingeführten so genannten "Risikosyndrome", die eine Art Vorpostensymptomatik beginnender Psychosen oder Demenzen bilden sollen, dürften zu einer Zunahme der diagnostizierten Erkrankungsfälle insgesamt führen.

Und schon sind wir alle wieder psychisch etwas kränker geworden.
Zur Ehrenrettung sei aber gesagt, daß im DSM 5 eine andere "Modediagnose", nämlich die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit deutlich "strengeren" diagnostischen Kriterien versehen werden wird, so daß hier zukünftig die teilweise absurd hohen Vorkommenshäufigkeiten abnehmen dürften.

Man muß also konstatieren, daß die Zunahme der diagnostizierten psychischen Störungen nicht notwendigerweise mit einer tatsächlichen Zunahme der Häufigkeit (Prävalenz) psychischer Störungen korrespondieren muß, sondern möglicherweise Ergebnis einer komplexen, schwer in ihre Bestandteile zu zerlegenden, Wechselwirkung ist aus:
  • veränderter diagnostischer Praxis seitens der Ärzte und Psychotherapeuten,
  • veränderter und erweiterter Diagnosesysteme,
  • gestiegener Bereitschaft der Menschen, psychische Nöte anzusprechen
  • veränderter, möglicherweise zurückgegangener "Leidensbereitschaft".
In der Vorbereitung zu diesem Blogbeitrag hatte ich einen mir noch entfernt aus Studienzeiten bekannten, international renommierten Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie angeschrieben, der mit seiner Arbeitsgruppe an der aktuellen Fassung des DSM mitgewirkt hat. Ich wollte wissen, ob solche Faktoren in der epidemiologischen Forschung hinreichend kontrolliert würden, was er für die Mehrzahl der Studien sehr freundlich verneint hat.


Andreas Döding


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