31. Mai 2008

Marginalie: Die Stasi-Methoden der Telekom und der Pawlow'sche Reflex des Dieter Wiefelspütz

Da ist er wieder, der Pawlow'sche Reflex.

Ein Skandal erschüttert die Republik. Nicht nur mit Methoden der Stasi, sondern offenbar auch mit Hilfe von alten Spezialisten der Stasi hat die Telekom geschnüffelt, so als sei sie ein Staat im Staat, und dieser trage den Namen DDR.

Das ist schlimm, und es ist aus Gründen der rechtsstaatlichen Hygiene erforderlich, es in allen Einzelheiten aufzuklären. Aber was fordern Politiker wie Dieter Wiefelspütz, dessen markantes Gesicht bei solchen Sachen so zuverlässig auf dem Bildschirm erscheint wie das Kasperle auf der Bühne des Kasperletheaters?

Richtig, ein Eingreifen des Staats fordert er, der Rechtspolitiker Wiefelspütz. "Man kann den Datenschutz der Wirtschaft offenbar nicht allein der Wirtschaft überlassen".

In der Tat: Welch ein absurd freiheitlicher Gedanke, daß die Wirtschaft sich selbst vor solchen Stasi- Machenschaften schützen könne.

So absurd wie der Gedanke, daß Eltern ihre Kinder selbst erziehen können.



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Marginalie: Milchbauern

Aus einer dpa-Meldung vom 30.05.2008, 20:23 Uhr:
Landwirte blockieren Großmolkereien in Pronsfeld und Kaiserslautern

Berlin (dpa) - Der Streit um höhere Milchpreise hat sich in Rheinland-Pfalz zugespitzt. Deutsche und belgische Landwirte blockierten dort die Zufahrt mehrerer Molkereien. Viele Bauern liefern seit vier Tagen keine Milch mehr aus.
Eine kleine Überlegung dazu, vielleicht ein Vorschlag:

Viele Menschen zahlen mehr für Eier, wenn diese von freilaufenden Hühnern gelegt wurden. Sie tun das, weil sie wollen, daß es den Hühnern besser geht. Viele Menschen zahlen mehr für Kaffee, der "fair gehandelt" wurde. Sie tun das, weil sie wollen, daß es den Kaffeebauern in Ländern der Dritten Welt besser geht.

Wäre es nicht vernünftig, wenn genügend Verbraucher auch bereit wären, mehr für Milch zu zahlen, damit es den deutschen Milchbauern besser geht?

Wie wäre es mit einem Etikett "Fair bezahlte Milch"?



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30. Mai 2008

Kurioses, kurz kommentiert: Die Andrea, die Dagmar und die Olga

Nur ein Buchstabe zu einer Länge von über 3500 km fehlt der A) Ludmilla, B) Tatjana, C) Olga, D) Vera.

An dieser intellektuell anspruchsvollen Frage wäre sie heute Abend bei Jauch gescheitert, die Andrea, wenn nicht alle ringsum sich ihrer durch Zurufe erbarmt hätten.

Aber helle ist sie trotzdem, die Andrea. So helle, daß sie sich jetzt einen Trick ausgedacht hat, wie sie die Dagmar loswerden kann, die Andrea, die das mit der Olga partout nicht kapieren konnte.

Ist das kurios? Nein. Aber was soll's.



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Die Echternacher Springprozession der ewigen Studentin Andrea Nahles

Mendig, der Heimatort von Andrea Nahles, liegt nicht allzu weit entfernt von jenem Echternach in Luxemburg, nah der deutschen Grenze, dessen Springprozession sprichwörtlich ist: Drei Schritte vor, zwei zurück; jedenfalls in der klassischen Variante wurde so gesprungen.

Andrea Nahles ist jetzt fast 38 Jahre und noch immer Studentin. Seit 2004 schreibt sie an ihrer Dissertation. Außer daß sie Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten war, hat sie nie einen Beruf ausgeübt. Ähnlich wie ihren linken Mitstreiter Niels Annen, der - glaubt man der Wikipedia - seit 1994 studiert, also seit knapp dreißig Semstern, würde man sie dem Typus des klassischen ewigen Studenten zuordnen.

Würde. Denn damit täte man Leuten wie Annen und Nahles Unrecht. Sie sind ewige Studenten eines neuen Typus.

Sie gehören nicht zu jenen oft liebenswerten, aber lebensuntüchtigen Menschen, die früher einmal jede Universitätsstadt als "bemooste Häupter" bevölkerten. Die dort als Originale, oft auch als Faktotum des einen oder anderen Universitäts- Instituts, stadtbekannt waren. Dies studierend, Jenes studierend, oft immens belesen. Nur unfähig zur Tat, zur Selbstverantwortung, zur Gestaltung eines Berufslebens.

Nein, zur Tat sind sie fähig, diese neuen ewigen Studenten. Ob sie nun ihr Studium irgendwann noch abschließen oder es schließlich abbrechen - es ist nicht eine liebenswerte Weltfremdheit, die sie darin hindert, nach beendetem Studium berufstätig zu werden. Sondern es ist im Gegenteil sozusagen ein Überschuß an Tatkraft.

Sie betreiben die Politik zunächst neben dem Studium. Irgendwann wird das Politisieren für sie zur Haupt- und das Studium zur Nebensache.

Und wenn sie Glück und Geschick haben, wie Nahles und Annen, dann gelangen sie - nicht selten über die Schiene der Jugendorganisation der jeweiligen Partei - in den Bundestag und vertreten dort das Volk, ohne auch nur einen Berufsabschluß zu haben, jedenfalls ohne jemals einen ordentlichen Beruf ausgeübt zu haben (Nahles hat immerhin den M.A. geschafft). Wie man an Josef Fischer sieht, kann eine solche Karriere sogar bis in die höchsten Ämter führen.



Es liegt auf der Hand, daß solche Menschen einen anderen Blick auf die Gesellschaft, auf die Politik haben als diejenigen, die das Leben auch einmal außerhalb der Politik kennengelernt hatten, bevor sie zu Berufspolitikern wurden. Menschen wie Annen und Nahles kennen keine andere Art von Leistung als die, "Mehrheiten zu Organisieren", Abstimmungen zu gewinnen, Mandate und Ämter zu ergattern. Das ist ihre Welt; in einer anderen haben sie als Erwachsene nie gelebt.

Sie sind in der Politik die Profis schlechthin; die Formel-1-Politiker, diejenigen unter ihren Kollegen, die in der politischen Premier League spielen.

Zumal, wenn sie, wie Andrea Nahles, nur Parlamentarier sind und nicht noch ein Ministeramt haben oder gar Ministerpräsident eines Bundeslandes sind. Dann stechen sie mit ihrer Professionalität, mit ihrer souveränen Beherrschung aller Geschäftsordnungstricks, mit ihrer intimen Kenntnis ihrer Partei jeden Konkurrenten aus, der auch noch ein Ministerium zu leiten hat. Zumal, wenn, wie im aktuellen Parteivorstand der SPD, die beiden Stellvertreter Steinmeier und Steinbrück just nicht jener Typus des ausgebufften Parteipolitikers sind.



Der Aufstieg der Andrea Nahles ist also nicht ganz so erstaunlich; auch wenn, wie es heute das "Handelsblatt" beschreibt, der Sachverhalt allen erst jetzt plötzlich bewußt wird: Hallo! Da ist ja eine, die sich nach oben gearbeitet hat und die jetzt die Strippen zieht!

Ja, das tut sie offenbar, und nicht erst seit heute. Sie tut es in einem für sie sehr bezeichnenden Stil, eben jenem der Echternacher Springprozession: Sie stößt vor, erkundet, wie weit sei gehen kann, und rudert dann gegebenenfalls zurück. Nur nicht ganz bis zu dem Punkt, an dem der Vorstoß begonnen hatte. So kommt sie voran; drei Schritte vor, zwei zurück.

So hat sie es gemacht, als sie 2005 im Vorstand der SPD ihre Nominierung zur Generalsekretärin der SPD organisierte; gegen den vom Vorsitzenden Müntefering gewünschten Kandidaten Kajo Wasserhövel.

Die Abstimmung hätte eigentlich eine Formalität sein sollen, denn es gehört in der SPD zu den Vorrechten jedes Vorsitzenden, sich den Generalsekretär selbst auszusuchen. Nahles aber probte erfolgreich den Putsch gegen Müntefering - drei Schritte vor. Als Müntefering daraufhin den Vorsitz hinwarf, zeigte sie öffentliche Reue und verzichtete auf das Amt - zwei Schritte zurück.

Aber eben nur zwei Schritte. Denn sie hatte ihren Rückhalt im Parteivorstand unter Beweis gestellt, und nur anderthalb Jahre nach dem Putschversuch wurde sie für den Posten einer stellvertretenden Vorsitzenden nominiert, auf den sie im Oktober vergangenen Jahres denn auch gewählt wurde. Drei Schritte vor.

Vielmehr nicht ganz. Denn das "zwei Schritte zurück" erfolgte diesmal sozusagen parallel zu diesem Sprung nach vorn. Zugleich wurden nämlich die beiden Minister Steinmeier und Steinbrück, nicht eben Freunde des linken Parteiflügels, zu weiteren Stellvertretern gewählt, und zwar beide mit einem besseren Stimmenergebnis als Nahles.

Ein Dämpfer für die Ambitionen von Andrea Nahles? Man hat sich damals gefragt,warum die beiden auch mit den Stimmen des von Nahles angeführten linken Flügels gewählt worden waren. Heute ist klar, wie geschickt Nahles das eingefädelt hatte; wie sehr die beiden Schritte zurück nur den nächsten drei Schritten nach vorn dienten.



Denn in einer Führungsspitze aus Beck, Steinmeier, Steinbrück und Nahles spielt nur Nahles in der Premier League der Politiker. Nur sie hat die Zeit, nur sie kennt die Partei so gründlich, beherrscht alle Tricks und Winkelzüge so perfekt, kann sich ihrer linken Seilschaften so sicher sein, daß sie Entscheidungen im Vorfeld vorbereiten, daß sie im Hintergrund die Weichen stellen und die anderen überrumpeln kann.

Das hat sie bei der Nominierung von Gesine Schwan glänzend unter Beweis gestellt. Beck, Steinmeier, Steinbrück und auch der Fraktionsvorsitzende Struck hatten signalisiert, Köhler wählen zu wollen. Nahles brachte nicht nur Schwan durch, sondern bekam es sogar hin, daß die anderen das unterstützten. Drei Schritte vor.

Aber so erfolgreich sie mit der Durchsetzung dieser Kandidatur war - in den vergangenen Tagen erkannte Nahles offenbar, daß ihr Ziel, damit zugleich die Weichen für die Volksfront 2009 zu stellen, nicht ebenso leicht zu erreichen sein würde.

Denn dank Ypsilanti und Beck ist die Öffentlichkeit hellhörig geworden. Müntefering hatte aufgepaßt und brachte das Thema in die öffentliche Diskussion. Und dann platzte auch noch die Affäre Gysi dazwischen, die vielen in der SPD vor Augen führte, mit wem sie sich für eine Volksfront einlassen müßten.

Nahles hat darauf blitzschnell reagiert und der Forderung Münteferings, ein Zusammengehen mit "Die Linke" für 2009 formal auszuschließen, am Mittwoch überraschend zugestimmt, nachdem sie das zuvor brüsk abgelehnt hatte. Zwei Schritte zurück.



Wenn die Volksfront auf 2013 verschoben werden würde, brauchte Nahles sich nicht zu grämen. Die nächsten drei Schritte nach vorn dürften auch dann nicht schwer werden.

Beck und Müntefering werden in fünf Jahren sehr wahrscheinlich aus dem Spiel sein. Zeit für einen Generationswechsel in der SPD.

Nahles wird, wenn 2013 gewählt wird, 43 Jahre alt sein. Barack Obama ist jetzt 46.



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Marginalie: Robert Havemanns Verhältnis zu seinem Anwalt Gregor Gysi

Über Havemanns Verhältnis zu Gregor Gysi publizierte gestern ddp einen instruktiven, namentlich nicht gezeichneten Artikel.

Der Autor dieses Artikels vertritt eine ähnliche Position, wie ich sie kürzlich zu begründen versucht habe: Ob Gysi nun formal IM war oder nicht, ist von wenig Belang. Entscheidend ist, welche und wessen Interessen er vertreten hat.

Havemann hatte da laut dem Artikel keine Illusionen:
Der DDR-Bürgerrechtler und Systemkritiker Robert Havemann nahm sich Gregor Gysi 1979 zum Rechtsanwalt nach seiner Formel: Einem DDR-Anwalt, der sein Vertrauen verdiene, sei sein Mandat nicht zuzumuten, und einem Anwalt, dem das zuzumuten sei, dem könne er nicht vertrauen.

Damit war sein Verhältnis zu Gysi klar: Er wollte ihn in politischen Strafsachen einsetzen und ihn auch als Unterhändler im Umgang mit der Staatsmacht nutzen, wo er dies für geboten hielt. Seiner Frau Katja riet er laut deren Angaben jedoch, nichts mit Gysi zu besprechen, was den unmittelbaren Freundeskreis nicht verlassen sollte.

Havemann wusste wie kaum ein anderer DDR-Bürger, wie die DDR-Justiz funktionierte und welche Rolle ein Rechtsanwalt als Verteidiger in politischen Strafsachen spielte.
Der Artikel liest sich so, als sei er von jemandem geschrieben, der sich in den Interna der DDR bestens auskennt. Interessant - aber auch schade -, daß er namentlich nicht gezeichnet ist.



Und noch ein Zitat aus der Verteidigungsrede Gysis vor dem Bundestag:
Nennen Sie mir andere Abgeordnete des Bundestages, die sich für Robert Havemann so eingesetzt haben wie ich und die diesbezüglich so viel erreichten.
Ob Gysi sich der Doppeldeutigkeit der Formulierung "diesbezüglich so viel erreichten" bewußt war? Jedenfalls hat, laut Eintrag in eine Akte des MfS, der Genosse Honecker an den Rechtsanwalt Gysi die "Empfehlung übermitteln lassen, ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herzustellen" und die "juristisch konsequente Verteidigung von Rechtsanwalt Gysi begrüßt".



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29. Mai 2008

Kurioses, kurz kommentiert: "Trotzdem". Wie man mit einem Wort den Abgrund seiner Ignoranz offenbaren kann

Bei seinem Deutschlandbesuch spricht der Schiitenführer Ammar al-Hakim über den "neuen Irak" der Menschenrechte und Demokratie. Und darüber, warum er trotzdem einen schnellen Abzug der Amerikaner ablehnt.

Vorspann eines (ansonsten sehr lesenswerten) Interviews mit dem Schiitenführer Ammar al-Hakim in der "Süddeutschen Zeitung".

Kommentar: Für dieses "trotzdem" hat der Redakteur, der diesen Vorspann geschrieben hat, eine Woche bei Wasser und Brot verdient. Abzusitzen in Guantánamo, und zwar nicht in dem Bushs, sondern in dem der Brüder Castro Ruz.

Nein, das ist natürlich ein Scherz. Wir sollten diesem ungenannten Schlußredakteur vielmehr Dank zollen für sein "trotzdem". Denn besser als mit diesem einen Wort an dieser Stelle läßt sich die unsägliche Ignoranz, die nachgerade vorsätzliche Ignoranz, mit der in manchen deutschen Medien seit dem Herbst 2002 über den Irak berichtet wird, kaum charakterisieren.



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Zitat des Tages: Wie der Irak heute aussieht

There are a lot of people who are having trouble making the transition in their mind ... from how Iraq looked in 2007 and how Iraq looks now.

(Es gibt viele Menschen, die Schwierigkeiten haben, in ihrem Geist den Übergang zu schaffen ... von dem Irak, wie er 2007 aussah, zu dem Irak, wie er heute aussieht.)

Außenministerin Condoleezza Rice laut Washington Post auf dem Flug nach Stockholm, wo sie an der dort heute stattfindenden zweiten Konferenz International Compact with Iraq teilnimmt.

Zur Vorbereitung dieser Konferenz hat die irakische Regierung einen 75-Seiten- Bericht vorgelegt, in dem zum Beispiel steht, daß der Irak für dieses Jahr 70 Milliarden Dollar Einnahmen aus dem Ölgeschäft erwartet und daß seine Devisenreserven 34 Milliarden Dollar erreichen werden.

Kommentar: Es sieht immer mehr danach aus, daß der Irak über den Berg ist. Die El Kaida ist im Irak so gut wie vernichtet. Die Gewaltakte zwischen den Konfessionen sind drastisch zurückgegangen. Der Irak hat jetzt bereits die Kontrolle über die Hälfte der Provinzen von den Koalitionstruppen übernommen. Die Gewalt ist so niedrig wie nicht mehr seit 2004.

Wer hätte das alles für möglich gehalten, als die Demokratische Partei in den USA den alsbaldigen und bedingungslosen Rückzug aus dem Irak forderte? Und was würde aus allen diesen Fortschritten werden, wenn die USA, wie der Kandidat Obama es für den Fall seiner Präsidentschaft versprochen hat, binnen 16 Monaten ab seinem Amtsantritt alle Kampftruppen aus dem Irak abziehen würden?

Die Iraker sollten fünfmal am Tag dafür beten, daß der nächste Präsident der USA John McCain heißt.



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Marginalie: Aus Vera Lengsfelds Bericht über ihre Erfahrungen mit dem Anwalt Gregor Gysi

In seiner gestrigen Rede im Bundestag rühmte sich Gregor Gysi dessen, was er für Robert Havemann und Rudolf Bahro getan habe. Beide können sich dazu nicht mehr äußern. Aber es gibt andere Klienten des Rechtsanwalts Gysi, die ihre Erfahrungen mit ihm schildern können und geschildert haben.

Zu ihnen gehört Vera Lengsfeld. Hier sind Auszüge aus ihrem Bericht (PDF). Frau Lengsfeld, damals Vera Wollenberger, war in Hohenschönhausen inhaftiert. Sie schildert u.a. ihre Entlassung und Ausreise in den Westen im Februar 1988:
Wie ich Gregor Gysi als Erfüllungsgehilfen der Stasi erlebte

(...) Wir wurden zu einem Gebäude am östlichen Stadtrand gebracht, das, wie ich später erfuhr, ein Gästehaus der Staatssicherheit war. Ich musste mit dem Bohley- Bearbeiter [einem Offizier des MfS] in einer Mischung von Wohn-. und Konferenzzimmer warten.

Nach einer Weile kam Gregor Gysi ins Zimmer. Nach der Begrüßung verließ er noch einmal den Raum und kam mit einem Tablett, auf dem eine Thermoskanne Kaffee und zwei Tassen standen, wieder. Gysi kannte sich offenbar in dem Haus aus und konnte, ohne jemanden fragen zu müssen, in der Küche Kaffee kochen. Ich fand das merkwürdig. (...)

Er [Gysi] wurde durch das Erscheinen von Rechtsanwalt Schnur und meinem Mann unterbrochen. Die beiden saßen kaum, da eröffnete Gysi die "Verhandlung", indem er uns miteilte, was ihm am Vormittag angeblich in der Generalstaatsanwaltschaft gesagt worden war: Eine Entlassung in die DDR käme für mich nicht in Betracht. Ich hätte am heutigen Montag allerdings letztmalig die Möglichkeit, mich für eine befristete Ausreise nach England zu entscheiden. (...)

Ich schrieb [Vera Lengsfelds Sohn] Philipp einen Brief und ließ mir von Gysi in die Hand versprechen, dass er ihn meinem Sohn sofort persönlich bringt. Gysi versichert wortreich, er werde gleich anschließend als Erstes zu Philipp fahren und ihm nicht nur den Brief geben, sondern auch mit ihm reden.

Ich traute Gysi zwar nicht, nahm aber an, dass ein Mann, dessen Sohn in etwa demselben Alter war wie meiner, so viel menschliches Mitgefühl aufbringt, um nicht zuzulassen, dass mein Sohn von der Ausreise seiner Mutter aus den Medien erfährt.

Aber genau das war der Fall. Gysi hat entgegen seinem Versprechen den Brief erst am nächsten Tag in den Briefkasten gesteckt. Mein Sohn erfuhr aus dem Radio, dass seine Mutter und seine Brüder bereits im Westen waren. (...)

Herrn Gysis Rolle bei meiner Abschiebung ist mehr als dubios. Er hatte weder von mir ein Mandat noch, wenn ich seinen Beteuerungen glauben kann, ein Mandat meines Mannes. Warum und in wessen Auftrag er an jenem Montag bei der Staatsanwaltschaft gewesen sein will, um sich nach dem Stand meiner Angelegenheiten zu erkundigen, darüber schweigt sich Gysi bis heute aus.

Als ich im 1990 als Volkskammerabgeordnete meine Rehabilitierung vor dem Obersten Gericht der DDR betrieb, bekam ich meine Prozessunterlagen zur Einsicht. Aus den Unterlagen geht hervor, dass mein Richter Wetzenstein- Ollenschläger schon am vorausgegangenen Sonnabend eine Entlassungs­anweisung für mich unterschrieben hatte. Die Staatanwaltschaft kann also Gysi nicht mitgeteilt haben, dass meine Entlassung außerhalb jeder Diskussion sei.

Klar ist jedenfalls, dass es einen Maßnahmeplan der Staatssicherheit gab, die inhaftierten Bürgerrechtler aus dem Lande zu entfernen. (...)

Als ich meine Gerichtsakten eingesehen hatte, rief ich Gysi an. (...) Er gab sich überrascht und empört. Dass man ihn bei der Staatsanwaltschaft belügen könnte, darauf wäre er niemals gekommen.


Dies sind stark gekürzte Auszüge; Erläuterungen in eckigen Klammern von mir. Ich empfehle die Lektüre des gesamten Berichts von Frau Lengsfeld; siehe auch deren kürzlichen Beitrag zum Thema in der "Achse des Guten".

Da bei Äußerungen über die Tätigkeit des Rechtsanwalts Dr. Gregor Gysi in der DDR bekanntlich Vorsicht geboten ist (das ZDF konnte das gestern wieder einmal erleben), weise ich darauf hin, daß ich den Bericht von Frau Lengsfeld dokumentiere, ohne mir seinen Inhalt zu eigen zu machen.



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28. Mai 2008

Zitat des Tages: Die Würde des Gregor Gysi

Sie begreifen nicht, dass ich damals schon so souverän war wie heute. Ich hatte Gespräche mit dem Zentralkomitee der führenden Kraft der DDR, ich brauchte keine Kontakte zur Staatssicherheit. Sie waren gar nicht nötig, entsprachen weder meinem Stil noch meiner Würde.

Gregor Gysi in der heutigen Aktuellen Stunde des Bundestags.


Kommentar: Mir ist das schon vor Jahren aufgefallen, als über die IM-Vorwürfe gegen Gysi diskutiert wurde: Was ihn wirklich ärgert, das ist die Unterschätzung seiner "Würde", das heißt der herausragenden Rolle, die er in der DDR-Hierarchie spielte.

Für so jemanden, Sohn eines der wichtigsten Männer der DDR, dem Honecker Grüße mit einer "Empfehlung" übermitteln ließ, ist die Unterstellung beleidigend, daß er es nötig gehabt haben könnte, wie Hinz und Kunz mit dem MfS zu verkehren.



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Marginalie: Plurium Interrogationum. Ein aktuelles Beispiel für schlechte Demoskopie

Zu den klassischen Mitteln der unfairen Rhetorik gehört das Plurium Interrogationum. Dabei werden Voraussetzungen und Implikationen in die Frage eingebaut, die der Befragte akzeptieren muß, um überhaupt antworten zu können.

Das klassische Beispiel ist die Frage: "Hast du aufgehört, deinen Vater zu schlagen - ja oder nein?" Der Befragte, der seinen Vater nie geschlagen hat, kann mit ja oder nein beantworten - er bekennt sich immer des Schlagens schuldig. Denn die Frage macht eine Voraussetzung - daß er überhaupt seinen Vater geschlagen hat -, die er als richtig akzeptiert, sobald er mit einer der vorgegebenen Alternativen antwortet.

Ein Beispiel für ein Plurium Interrogationum findet man im aktuellen "Spiegel" (22/2008; S. 37) unter der Überschrift "Umfrage". Da werden neben der obligatorischen Sonntagsfrage und dem üblichen Ranking der Politiker auch noch die Antworten auf einige aktuelle politische Fragen vorgestellt.

Eine dieser Fragen des Instituts TNS Forschung (Emnid) lautet: "Welche Maßnahme wäre Ihrer Meinung nach am effektivsten, um der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft entgegenzuwirken?"

Diese Frage setzt erstens voraus, daß es überhaupt eine "wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft" gibt. Hat man diese Voraussetzung akzeptiert, dann muß man, um die Frage beantworten zu können, zusätzlich die zweite Voraussetzung akzeptieren, daß es wünschenswert ist, dieser angeblichen wachsenden Ungleichheit entgegenzuwirken.

Akzeptiert man die erste Voraussetzung nicht, dann stellt sich die Frage gar nicht erst, ob man die zweite akzeptiert. Man kann dann die Frage nicht beantworten. Akzeptiert man die erste, aber nicht die zweite Voraussetzung, dann kann man die Frage ebenfalls nicht beantworten.

Allenfalls durch die Gegenfrage "Warum sollte man?" könnte man sie dann beantworten; aber die war für die Interviews nicht vorgegeben.

Sondern vorgegeben waren die Alternativen: "Bessere Bildungschancen für Kinder aus sozial schwachen Familien" - "Niedrigere Steuern für Geringverdiener" - "Konsequentere Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" - "Flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen" - "Höhere Steuern für Reiche".

Voreingenommener konnten die Demoskopen von TNS Forschung schwerlich fragen.

Sie entnehmen die erste Voraussetzung (daß die soziale Ungleichheit wachse) bestimmten Darstellungen aus überwiegend linken Quellen. Sie entnehmen die zweite Voraussetzung (daß dieser angebliche Ungleichheit entgegengewirkt werden müsse) linker Programmatik, die eine egalitäre Gesellschaft anstrebt.

Und sie geben den Befragten dazu auch noch Alternativen vor, von denen drei (Steuersenkungen für Geringverdiener, höhere Steuern für Reiche, Mindestlöhne) geradezu aus der Programmatik von "Linke" und SPD abgeschrieben sind. Allenfalls die beiden verbleibenden (bessere Bildungschancen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) sind halbwegs parteipolitisch neutral.



Ich habe denjenigen, die die Demoskopie in toto für Humbug oder für ein Mittel zur Manipulation von Daten halten, immer entgegengehalten, daß Aussagen aufgrund von Umfragen, wenn sie auf einer hinreichend großen Datenbasis beruhen und wenn die Methoden der Inferenzstatistik richtig angewandt werden, so zuverlässig sind wie alle sozialwissenschaftlichen Aussagen, wenn die Daten methodisch richtig erhoben und analysiert werden.

Aber es gibt bei Umfragen eine entscheidende Schwachstelle: Die Formulierung der Fragen und der Antwortalternativen.

Dies so zu tun, daß man die vorhandenen Einstellungen und Meinungen objektiv mißt und nicht das, was man bekommen möchte, durch die Fragestellung bereits vorwegnimmt oder suggestiv beeinflußt - das ist die Kunst des guten Demoskopen. Es ist das, was über die einfache Anwendung standardisierter wissenschaftlicher Methoden hinausgeht.

Es ist die Kunst des guten Demoskopen; es ist freilich auch eine Versuchung für den schlechten Demoskopen.

Die Demoskopen von TNS Forschung sind mit dieser Frage dieser Versuchung ziemlich jämmerlich erlegen. Schlechte Arbeit.



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Zettels Meckerecke: Oskar Lafontaine läßt uns an seiner Bildung teilhaben. Nebst zweimal Dittsche

Oskar Lafontaine ist ein gebildeter Mann. Wer daran Zweifel hatte, der lese die Rede, die er auf dem Cottbuser Parteitag seiner Partei gehalten hat.

Wenn er diese Rede gelesen hat, dann wird er sich in seinen Zweifeln bestärkt finden. Denn wie Lafontaine da mit Angelesenem, aber Unverstandenem um sich wirft, das ist schon beeindruckend.

Oder verbirgt sich hinter scheinbar Unverstandenem am Ende doch mehr Verstandenes, als es scheint?



Schauen wir zu. Nehmen wir zunächst eine Textpassage, die mit einem Marx- Engels- Zitat beginnt, einem Zitat aus der "Deutschen Ideologie":
"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken. Das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." Diese Analyse der Vordenker der Arbeiterbewegung hatte Goethe schon seinem Faust vorweg genommen. "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln."
Wow! Goethe als Vorläufer des historischen Materialismus!

Da sehen wir doch einmal nach, wo dieses Zitat steht. Es steht im "Faust I", in der Szene "Nacht". Dort unterhalten sich Faust und Wagner, tja, worüber? Darüber, wie das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt? Nicht so ganz.

Wie in allen Passagen dieses Gesprächs verkündet auch hier Wagner einen Gemeinplatz, und Faust rückt ihn zurecht, ironisiert ihn mit galligem Witz, macht sich darüber lustig:
Wagner:

Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht.

Faust:

O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Wie wir sehen, sind die "Herren", von denen da Faust spricht, mitnichten die Herrschende Klasse, wie Lafontaine sich das offenbar vorstellt; sondern es sind diejenigen, die sich über den Geist früherer Zeiten ihre Gedanken machen.

Und das "bespiegeln", wozu dem Genossen Lafontaine offenbar das "Widerspiegeln" bei Marx und Engels einfiel, hat damit, hat mit ökonomischer Basis und kulturellem Überbau auch nichts zu tun.

Sondern als der Phänomenologe, der er auch hier ist, läßt Goethe den Faust einen sehr Goethe'schen Gedanken formulieren: Daß wir nur das erkennen können, was in uns selbst angelegt ist ("Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken").

Lafontaine hat so ungefähr das Dümmste gemacht, was einem beim Zitieren passieren kann: Er hat zwei Wörter ("Herren", "bespiegeln") in einem Zitat entdeckt und sich um sie herum einen Sinn dieser Textstelle ausgedacht, der mit derem tatsächlichen Inhalt ungefähr so viel zu tun hat wie ein alter Schuh, den jemand aus dem See angelt, mit dem erhofften Zander.

Das war also wohl nichts, Lafontaine. Setzen, sechs.



Vielleicht ist es um Lafontaines zur Schau getragenen Bildung besser bestellt, wenn wir in die Gegenwart gehen, ins Zwanzigste Jahrhundert? Denn auch aus der Moderne fliegen Lafontaine die Zitate nur so zu - Walter Benjamin, Horkheimer, Ardorno, Majakowski. Das volle Programm, würde Dittsche sagen.

Und Peter Hacks zitiert er, der gebildete Oskar Lafontaine. Ihn bringt er in seiner Rede folgendermaßen unter:
Heute appelliere ich an euren Mut, gegen den Strom zu schwimmen, damit der Zorn des Peter Hacks, den er in einem Vers über die Partei niedergeschrieben hat, uns nicht eines Tages trifft: "Sie haben keine Traute, ihr Busen ist verwirrt. Und wer je auf sie baute, hat sich verdammt geirrt." So soll es nicht heißen über uns, liebe Freundinnen und Freunde! Aber dafür müssen wir uns wirklich anstrengen!
Auch da wollen wir wieder einen Blick auf das vom Autor tatsächlich Gemeinte werfen. Die Zeilen, die Lafontaine zitiert, stammen aus dem Gedicht "Die Partei", das Hacks nach der Wende schrieb. Man findet es bei Peter Hacks.de abgedruckt:
Peter Hacks

Die Partei

Von zwei Millionen blieben
Kaum eine Handvoll grad.
Es hat sie aufgerieben
Gorbatschows Verrat.

Sie haben keine Traute.
Ihr Busen ist verwirrt.
Und wer je auf sie baute,
Hat sich verdammt geirrt.

Ach, Volk, du obermieses,
Auf dich ist kein Verlaß.
Heute willst du dieses.
Morgen willst du das.

Doch wenn sich die Dinge ändern,
Die Dinge und das Glück,
Von ihren Grabesrändern
Humpeln sie kichernd zurück.

Und lassen das Gekränkel
Und zeigen und kichern dabei
Auf ihrer Kinder und Enkel
Viermillionenpartei.

in: ders., Werke, Bd. 1, S. 303
(c) Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003
Ein Gedicht also, in dem Hacks seine Verachtung für "Gorbatschows Verrat" und für das Volk, das "obermiese" ausdrückt, das sich von der SED abwandte.

Ein Gedicht, in dem er beklagt, daß "die Partei" (also die PDS) nicht mehr die alte SED ist. Aber wenn sich erst einmal "die Dinge ändern, die Dinge und das Glück" ... Dann, so teilt uns Hacks seine Hoffnung, vielleicht seine Erwartung mit, werden es am Ende statt der zwei Millionen, die in der DDR zur SED gehörten, in der Bundesrepublik vier Millionen sein. Dann ist Schluß mit dem "Gekränkel".

Ob sich auch hier, wie bei Goethe, der Genosse Lafontaine nicht um den Sinn des Textes gekümmert hat, aus dem er zitiert?

Man weiß es nicht, sagt Dittsche, um ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Und zwar korrekt zitiert.



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27. Mai 2008

Überlegungen zur Freiheit (6): Wer darf, wer sollte den Besuch von Solarien verbieten?

Die Bundesregierung will es Minderjährigen verbieten, Solarien aufzusuchen.

Ich vermute, Sie werden diese Meldung gelesen oder gehört haben, und Sie werden diesem Vorhaben vielleicht zugestimmt haben.

Denn "Bei regelmäßigem Sonnenbankbesuchen in jungen Jahren", so lesen wir im "Tagesspiegel",
steige das Risiko, im weiteren Leben an einem gefährlichen Melanom zu erkranken, um 75 Prozent, sagte Eckhard Breitbart von der Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Prävention.

"Das ist eine richtige Zeitbombe" so Breitbart. "In Deutschland gibt es eine erkleckliche Anzahl von 13-jährigen Mädchen und 14-, 15-jährigen Jungen, die Solarien aufsuchen." Mindestens jeder zehnte Minderjährige - wahrscheinlich mehr - folge entsprechenden Schönheitsidealen.
Wer kann denn dagegen sein, daß dem vom Staat ein Riegel vorgeschoben wird?

Ich bin dagegen, und zwar massiv.

Nehmen wir einmal an, diese Zahlen stimmen. Dann ist es vernünftig, über das Risiko aufzuklären. Jeder Jugendliche kann dann selbst entscheiden, ob er es eingehen will. So, wie er entscheidet, ob er ins Schwimmbad geht und nach Mallorca fliegt, um sich dort der Sonne auszusetzen. Oder wie er entscheidet, ob er auf Mallorca nach dem Genuß von Sangrita ins Wasser springt; mit dem Risiko, das nicht zu überleben.

Aber Minderjährige können doch noch gar nicht verantwortlich entscheiden? Zu diesem naheliegenden Einwand möchte ich zweierlei zu bedenken geben:
  • Erstens: Minderjährige sind bekanntlich mit dem vollendeten 14. Lebensjahr strafmündig. Der Gesetzgeber setzt also voraus, daß sie von diesem Alter an für das verantwortlich sind, was sie tun; wenn auch die Bestrafung von Gesetzesverstößen bis zum vollendeten 18. (und faktisch oft 21.) Lebensjahr anders geregelt ist als bei Erwachsenen.

    Wieso gesteht man einem Menschen zu, sich anderen gegenüber verantwortlich verhalten zu können, billigt ihm aber nicht zu, das auch sich selbst gegenüber tun zu können?

  • Angenommen, man könne diese Verantwortung für sich selbst Menschen unter 18 Jahren aus irgendeinem Grund nicht zubilligen. Dann wären doch, nicht wahr, ihre Eltern für sie verantwortlich? Dann wäre es doch die Aufgabe der Eltern, ihnen den Besuch eines Solariums zu verbieten, wenn sie das für richtig halten?
  • Nun, lieber Leser, werden Sie vielleicht bei sich selbst eine seltsame Reaktion beobachten können. Ich jedenfalls habe sie bei mir bemerkt, als ich darüber nachgedacht habe.

    Sie sagen sich - so könnte diese Reaktion aussehen - : Wie kommen die Eltern dazu, einer achtzehnjährigen Abiturientin, einem Achtzehnjährigen, der vielleicht schon seinen Wehrdienst ableistet oder seinen Lebensunterhalt selbst verdient, der vielleicht selbst schon Vater ist, so etwas zu verbieten? Wir leben doch nicht mehr im Zeitalter autoritärer Familienväter!

    Sehen Sie.

    Sie tun sich schwer, den Eltern das zuzubilligen, was Sie dem Staat zuzubilligen bereit sind. Sie wollen anonymen Bürokraten mehr Kontrolle über das Leben junger Leute erlauben als den eigenen Eltern.

    Ist das nicht seltsam?



    Links zu den früheren Folgen dieser Serie findet man hier. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    Marginalie: Franz Müntefering kennt seine Partei. Deshalb fordert er einen förmlichen Beschluß gegen ein Zusammengehen mit den Kommunisten

    Der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering gab heute dem Morgenmagazin der ARD ein Interview, das man sich hier ansehen kann und das die ARD so zusammenfaßt:
    Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering fordert die SPD auf, sich klar zur Linkspartei zu positionieren. Er verlangt einen eindeutigen Beschluss gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken.
    Franz Müntefering kennt seine Partei. Was ein Vorsitzender sagt - zumal einer mit der Autorität von Kurt Beck -, das ist nicht die MAZ wert, die es aufzeichnet. Aber was Gremien formal beschlossen haben, das ist in der SPD heilig. Und es ist umso heiliger, je näher diese Gremien der "Basis" sind.

    Der Vorstand der SPD könnte einen bindenden Beschluß fassen, die SPD werde nach den Wahlen 2009 weder eine Koalition mit "Die Linke" eingehen noch sich an einer Regierung beteiligen, die auf eine Duldung durch sie angewiesen wäre. Besser noch wäre es, wenn der Parteirat, das höchste Gremium zwischen den Parteitagen, einen solchen Beschluß bekräftigte. Und am allerbesten wäre es, wenn dieser Beschluß dann noch einmal auf dem Wahlparteitag 2009 eingebracht und von den Delegierten abgesegnet werden würde.

    Dann könnte man, gegeben die Realitäten in der SPD, einigermaßen sicher sein, daß das Versprechen, im Bundestag nicht mit "Die Linke" zu kooperieren, eingehalten wird.

    Nur fürchte ich, es wird nicht so kommen. Und wenn weder der Vorstand noch der Parteirat noch der Wahlparteitag es förmlich beschließen, dann kann Kurt Beck sagen, was er will. Es ist unverbindliches Gerede. So jedenfalls hält man es in der SPD, dieser Gremienpartei kat' exochen.



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    Deutschland im Öko-Würgegriff (8): Über Fußabdrücke und die Metaphysik der "Klimabilanz"

    Religionen liefern oft eine Richtschnur, einen Maßstab, an dem der Gläubige alles messen kann, was er tut oder läßt.

    Ist es gottgefällig? fragt der Christ. Bringt es mich dem Nirwana näher? fragt der Buddhist. Ist es günstig für die CO2-Bilanz? fragt der Umweltgläubige.

    Oder auch: Ist es CO2-freundlich? So jedenfalls steht es im Titel eines Artikels von Marlies Uken, der seit gestern in "Zeit Online" zu lesen ist. Genau lautet dessen Überschrift: "CO2-freundlich shoppen".

    CO2-freundlich, das ist natürlich nicht gemeint. So wenig, wie es das Bestreben des Christen ist, ein teufelgefälliges Leben zu führen, oder das des Buddhisten, so zu leben, daß ihm eine Inkarnation auf einer tieferen, vom Nirwana weiter entfernten Stufe droht.

    Aber nun gut, "CO2-freundlich", das klingt freundlicher als das eigentlich gemeinte "CO2-feindlich".

    Denn darum geht es. Dem CO2 in der Atmosphäre soll dadurch zuleibe gerückt werden, daß wir alles, wofür wir unser Geld ausgeben, danach bewerten, wieviel C02 denn bei seiner Erzeugung verbraucht wurde.

    Wir sollen dann zum Produkt mit der jeweils günstigsten "Klimabilanz" greifen.

    Damit wir diese kennen, wird - so die Idee - jedem Produkt ein "Fußabdruck" mitgegeben, der angibt, wieviel CO2 denn bei seiner Herstellung erzeugt wurde.

    Ein Viertelliter Orangensaft, aus Konzentrat gewonnen, erweist sich beispielsweise als günstiger als dieselbe Menge - so heißt das offenbar - "Direktsaft"; also Saft, dem man nicht erst Wasser entzogen und dann wieder hinzugefügt hat. So steht es jedenfalls in dem Artikel, gleich zu Beginn.

    Kunststück, denke ich mir als Laie: Wenn der komplette "Direktsaft" vom Erzeuger irgendwo näher am Äquator zu mir geflogen wird, dann verbraucht das mehr Treibstoff, als wenn ein kompaktes Konzentrat die Reise macht, das erst hier in Deutschland wieder in Orangensaft verwandelt wird.

    Andererseits verbraucht ja dieses Eindicken und wieder Auffüllen auch Energie. Da heißt es also messen und rechnen, damit wir die richtige Klimabilanz bekommen. So, wie der Christ, der ein gottgefälliges Leben führen will, sich immer fragen sollte, ob eine gut gemeinte Handlung sich nicht am Ende als sündhaft erweist.



    Dies zu entscheiden mag für den Frommen nicht immer einfach sein; aber es ist ein Klacks gegen die Herkulesarbeit, die Klimabilanz eines Produkts zu ermitteln. Bevor ich den Artikel von Marlies Uken weiterlas, habe ich mir das für den Orangensaft überlegt.

    Gut, wenn er während des Transports dank Dehydrierens leichter ist, verbraucht dieser Transport weniger Treibstoff, erzeugt also weniger CO2. Das De- und Rehydrieren andererseits verbraucht Energie, und es wird dabei CO2 emittiert. Also rechnen wir das eine gegen das andere auf, und fertig ist die Laube.

    Ist sie? Ja, was ist denn mit der Klimabilanz bei der Herstellung der Maschinen, die das De- und Rehydrieren leisten? Was mit dem Transport der Maschinenteile, aus denen sie zusammengeschraubt wurden, einem Transport vielleicht rund um die Welt? Und die Arbeiter, die diese Maschinen bedienen, haben die etwa keine Klimabilanz?

    Wer weiß, vielleicht sind sie ja gar Liebhaber von Rindfleisch, und jedes Kilo Soja, das das geschlachtete Rind einst gefressen hat, verschlechtert die Klimabilanz des O-Safts aus Konzentrat.

    Denn das müssen wir doch sehen: In der Umwelt hängt alles mit allem zusammen. Mein Orangensaft ist belastet durch das CO2, das vom tropischen Regenwald nicht aufgenommen wird, weil er gerodet wurde, um Soja anzupflanzen, das das Rind frißt, das das Steak liefert, das der Arbeiter ißt, der die Maschine bedient, die dem Konzentrat das Wasser zuführt, das ihn wieder zu dem Orangensaft macht, den ich kaufe.

    Tut mir leid, lieber Leser. Einfacher ist es leider nicht. Sondern in Wahrheit noch viel komplizierter. Denn auch das Roden des Regenwaldes erzeugt ja wieder CO2; die eingesetzten Maschinen erzeugen es, die Arbeiter atmen es aus. Und diese Maschinen, die den tropischen Regenwald roden, die müssen ja auch gebaut und in den Wald transportiert worden sein, was schließlich wiederum CO2 erzeugt. Und die Menschen, die diese Arbeiten verrichten, müssen zum Arbeitsplatz fahren, und dabei wird wiederum CO2 emittiert.



    Sie ahnen, auf welchen Weg wir uns mit solchen Überlegungen gemacht haben. In einer kausal geschlossenen Welt, in dem "Umwelt" genannten Teil dieser unserer Welt, sind die Ereignisse derart miteinander verkettet, daß wir schon ein komplettes Weltmodell brauchen, um seriös zu errechnen, wieviel CO2 denn nun tatsächlich erzeugt wurde, damit ich mein Glas Orangensaft aus Konzentrat trinken kann.

    Es ist ein wahrhaft heroisches Unterfangen, auf das sich die einschlägigen Firmen da eingelassen haben. Beispielsweise die britische Supermarkt- Kette Tesco, die unserer Autorin Marlies Uken als Beispiel dient. Sie hatte angekündigt, für alle ihre 70.000 Produkte die "Klimabilanz" errechnen zu lassen und auf den Packungen anzugeben. Für 20 Produkte sei das bisher gelungen, erfahren wir am Ende des Artikels.

    Ich bezweifle das. Ich bin sicher, daß es nur deshalb scheinbar "gelungen" ist, weil denjenigen, die diese Klimabilanz ausrechnen sollten, irgendwann der metaphysische Wahnwitz ihres Vorhabens aufgegangen ist und sie in einem dezisionistischen Verzweiflungsakt einfach Schluß gemacht haben mit dem Weiterverfolgen der Ereignisketten.

    Als sie nämlich merkten, daß sie beim Zurückverfolgen unweigerlich beim Urknall ankommen würden.



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    Zitat des Tages. Heute mit einem (na ja) Witz statt eines Kommentars

    Mit etwas mehr Ungerechtigkeit lebt es sich besser. Etwas mehr Ungleichheit in der Einkommensverteilung bewirkt auch für die weniger gut dabei Wegkommenden letztlich einen höheren Lebensstandard, als wenn man ein egalitäres System schafft, wo alle das Gleiche kriegen und alle gleichermaßen arm sind.

    Das haben wir doch im Sozialismus Ostdeutschlands probiert. Die Leute haben sich darüber aufgeregt, dass Erich Honecker einen Kühlschrank hatte - die ausgelebte Neidpräferenz ging so weit, dass eben keiner einen Kühlschrank hatte.


    Der Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn im Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung".

    Statt eines Kommentars diesmal einer meiner Lieblingswitze. Naja, eigentlich ist es gar kein Witz:
    Zwei arme Kerle, arbeitslos, der eine Deutscher und der andere Amerikaner, sitzen am Straßenrand. Eine junger Mann fährt in einem tollen SUV vorbei. Sagt der Amerikaner: "So gut wie der werde ich es eines Tages auch haben". Sagt der Deutsche: "Dem wird es auch noch mal so schlecht gehen wie uns".
    Was die Kühlschränke angeht: Ich glaube, die waren in der DDR vergleichsweise verbreitet. Aber ich habe im Sommer 1990, als wir zum Urlaub in der Noch-DDR waren, Leute sich darüber empören hören, daß Honecker in Wandlitz eine Mischbatterie im Bad hatte. Die war in dieser legendären Sendung gezeigt worden, in der ein Team des Jugendsenders ELF 99 mit dem Reporter Jan Carpentier sich Zugang zur Siedlung Wandlitz verschafft hatte.



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    26. Mai 2008

    Zettels Meckerecke: Vorwärts in die fünfziger Jahre, aber bitte ohne Aufsehen! Über den Zustand der SPD. Nebst einem Blick auf Frankreichs Sozialisten

    Wo steht die SPD eigentlich programmatisch?

    Nicht wahr, diese Frage kommt Ihnen seltsam vor. Denn eine programmatische Diskussion findet in der SPD schon seit langem nicht mehr statt.

    1998 hatte man kein Programm, sondern ein "rotgrünes Projekt". 2003 hatte man kein Programm, sondern es fand ein Putsch statt, der dieses Projekt beendete und durch eine "Agenda 2010" ersetzte.

    Die SPD hatte damit den Schwenk von einer katastrophal realitätsfernen Politik, die Deutschland innerhalb von fünf Jahren in den Niedergang geführt hatte, hin zu einer halbwegs modernen, in gewissen Zügen sogar liberalen Politik vollzogen, deren Erfolge heute bei den Arbeitslosenzahlen und den Steuereinnahmen zu besichtigen sind.

    Die SPD? Nein, nicht nur ein kleines Dorf leistete Widerstand, sondern fast die ganze SPD. Nur allzu verständlich, denn sie hatte den Schritt zu einer modernen Politik ja nicht aus Einsicht getan, wie seinerzeit beim Godesberger Programm. Oder wie die Labour Party, als Tony Blair nach langen Diskussionen in der Partei "New Labour" durchsetzte.

    Sie hatte ihn im Grunde überhaupt nicht getan, den Schritt zu einer modernen linken Partei. Sondern der damalige Kanzler hatte, Macher, der er ist, die SPD so kräftig gestoßen, daß sie nach vorn stolpern mußte. Halb schob er sie, fast fiel sie hin.

    Das konnte nichts werden und ist ja auch für die SPD nichts geworden. Nur für die Kommunisten ist es etwas geworden, die davon profitieren, wie die SPD dahinstolpert.



    Also vielleicht dann jetzt, da die SPD sich in den Umfragen den zwanzig Prozent nähert, eine programmatische Klärung dessen, was sie eigentlich will? Ob sie die Agenda 2010 auch innerlich akzeptieren und eine moderne, sich dem Neoliberalismus öffnende Partei werden oder ob sie gemeinsam mit den Kommunisten und den Grünen den Weg in die Volksfront, also hin zu einer klassischen sozialistischen Politik gehen will?

    I wo. Auch jetzt wird nicht offen debattiert, was diese Partei eigentlich will.

    Sondern mit einer Unredlichkeit, die kaum noch zu überbieten ist, werden einerseits mit der Kandidatur von Gesine Schwan die Weichen für die Volksfront gestellt, während man andererseits weiter beteuert, im Bund nicht mit den Kommunisten kooperieren zu wollen: "Eine rot- rot- grüne Koalition im Bund kommt nicht in Frage", sagte Beck laut heutigem "Tagesspiegel" in Leipzig. (Wie Kurt Beck ein solches Versprechen interpretiert, das kann man hier nachlesen).

    Es wird also weitergestolpert. Oder, um die Metapher zu wechseln: Die SPD bietet weiter die Fassade einer Partei, die dem Kurs der Agenda 2010 folgt; einem Kurs, ohne den ja die Große Koalition gar nicht möglich gewesen wäre. Aber hinter dieser Fassade ist das Haus schon komplett entkernt.

    Hinter der bröckelnden Fassade arbeiten fleißige Seilschaften unter Anleitung von Andrea Nahles an der neuen SPD, also der SPD der fünfziger Jahre. Einer SPD, die - wie damals in der Adenauer- Zeit - bei den Wählerstimmen im "Dreißig- Prozent- Turm" stecken wird; ja für die dreißig Prozent schon ein Traumziel sind. Die das aber im Grunde nicht zu stören braucht, weil viele ihrer Ziele ja von den Koalitionspartnern "Die Linke" und "Die Grünen" mitvertreten werden.

    Und gemeinsam ist man stark. Im heutigen "Spiegel" kann man es wieder einmal nachschlagen, auf Seite 36: Wie in den meisten vergangenen Monaten liegt die Volksfront mit genau 50 Prozent vor Schwarzgelb (47 Prozent).

    Grund also für Linke, in welcher der drei Parteien sie nun ihre momentane Heimat haben, sich auf die nächsten Bundestagswahlen zu freuen. Die Agenda 2010, die Öffnung der SPD für moderne neoliberale Ideen, der ganze Schmus von der "Neuen Mitte" ist geräuschlos beseitigt. Ohne Diskussion in der Partei, ohne Beschluß eines Parteitags. Einfach so. So, wie in Kaderparteien die Weichen gestellt werden; in der SPD war das ja einmal anders gewesen.



    Welch ein Unterschied zu Frankreich!

    Auch die dortigen Sozialisten stehen vor der Entscheidung, ob sie weiter Seit' an Seit' mit den Kommunisten die Systemfrage stellen oder ob sie für eine moderne sozialliberale Politik à la "New Labour" optieren.

    Aber anders als in der SPD, die so tut, als gebe es diese Alternative nicht oder als könne man sie durch Kungelei in Gremien entscheiden, ist in der französischen PS seit Monaten eine offene Debatte im Gang.

    Am vergangenen Wochenende hat diese Debatte neue Nahrung durch ein Buch erhalten. Es heißt "De l'Audace!", und da diesr Titel ein Ausrufezeichen trägt, lautet die richtige Übersetzung nicht "Vom Mut", sondern "Nur Mut!". Der Verfasser ist Bernard Delanoe, der Bürgermeister von Paris, der im Gespräch mit Laurent Joffrin gesagt hat, "que la gauche que je défends est par essence libérale", daß die Linke, für die er eintrete, ihrem Wesen nach liberal sei.

    Delanoe ist ein aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Generalsekretärs seiner Partei, der im Herbst dieses Jahres neu zu besetzen ist. Eine aussichtsreiche Kandidatin ist Ségolène Royale, eine orthodoxe Sozialistin, die auf das Erscheinen von Delanoes Buch sofort reagiert hat: "Libéralisme est le mot de nos adversaires", Liberalismus ist das Wort unserer Gegner.

    Die spannende, diese die ganze Partei aufwühlende Diskussion in der PS wird wohl bis zum Herbst weitergehen, und dann wird man sehr wahrscheinlich entweder Delanoe oder Royal wählen und damit eine Richtungsentscheidung treffen.

    Offen, nach eingehender Diskussion. Und nicht heimlich, verdruckst und unredlich, wie es die SPD macht.



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    Marginalie: Obamas metastasierender Ausrutscher

    Einen "metastatic gaffe", einen metastatierenden Ausrutscher, nennt Charles Krauthammer in der Washington Post es. Man könnte auch sagen, daß Obama sich seine erste außenpolitische Eselei leistet, bevor der eigentliche Wahlkampf um die Präsidentschaft überhaupt begonnen hat.

    Es geht um Staaten wie den Iran, Nordkorea, Syrien und Venezuela. Staaten also, die sich in ihrer amerikafeindlichen Politik gegenseitig zu überbieten trachten. Mit den Führern dieser Staaten nun, so verkündet es Obama landauf, landab, werde er sich binnen eines Jahres nach Beginn seiner Amtszeit treffen.

    Warum verkündet er das? Weil er es einmal gesagt hatte, unbedacht; ein Ausrutscher. Es war am 23. Juli 2007 in einer Debatte, zu der Zuschauer Fragen stellen durften. Und da fragte einer:
    Would you be willing to meet separately, without precondition, during the first year of your administration, in Washington or anywhere else, with the leaders of Iran, Syria, Venezuela, Cuba and North Korea?

    Wären Sie willens, sich im ersten Jahr ihrer Amtszeit getrennt, ohne Vorbedingungen, in Washington oder irgendwo sonst mit den Führern des Iran, Syriens, Venezuelas, Cubas und Nordkoreas zu treffen?
    Worauf Obama mit einem schlichten "Ja" antwortete ("I would").

    Zuvor hatte sich Obama nie zu diesem Thema geäußert. Er sei, meint Krauthammer, gar nicht auf die Frage vorbereitet gewesen und habe einfach spontan "ja" gesagt.

    Nun verfolgt ihn das. Nun wachsen die Metastasen. Obama erklärte Kritik an seiner Ankündigung für "lächerlich". Er rechtfertigte sie damit, daß auch andere Präsidenten sich mit Feinden der USA getroffen hätten. Und je mehr er argumentiert und begründet, umso mehr zeigt er damit, wie wenig Ahnung er von Außenpolitik, wie wenig Ahnung er auch von der Geschichte der Vereinigten Staaten hat.

    Das weist Krauthammer in dem jetzigen Kommentar nach; und er tut das, wie immer, indem er auf die Fakten verweist.

    Gipfeltreffen, so belehrt er Obama, finden nicht statt, um Ergebnisse zu erzielen, sondern diese werden im Vorfeld durch die Arbeit der Dipomaten weitgehend vorgefertigt und beim Treffen der Chefs nur noch mit dem letzten Schliff versehen.

    Gipfeltreffen, so merkt Krauthammer an, finden zwischen verfeindeten Nationen mit gutem Grund nur selten statt, denn sie wecken Hoffnungen, die oft nicht erfüllbar sind. Sie sind nicht erfüllbar, weil keine Seite bereit ist, in für sie fundamentalen Fragen nachzugeben.

    Kurzum, Krauthammer macht deutlich, mit welcher Hypothek ein Präsident Obama in seine erste Amtszeit gehen wird:

    Entweder wird er eine Serie diplomatischer Niederlagen einstecken, wenn er innerhalb eines Jahres Ahmadinedschad, Castro den Zweiten, Assad, Kim und Chávez trifft. Oder seine Amtszeit damit beginnen, daß er eines seiner am öftesten bekräftigten Versprechen bricht.



    Soviel zur Zukunft. Auch zur Vergangenheit hat Krauthammer Anmerkungen. Obama hatte sich nämlich darauf berufen, daß auch Roosevelt und Truman sich mit Feinden der USA getroffen hätten. Sarkastisch meint Krauthammer, da müsse Obama wohl die Bilder der Konferenzen von Jalta und Potsdam vor Augen gehabt haben, als sich Roosevelt und dann Truman mit Stalin trafen.

    Vermutlich sei Obama entgangen, daß Stalin damals kein Feind, sondern ein Verbündeter der USA war.

    Ach ja, und das Treffen Kennedys mit Chruschtschow in Wien nennt Obama auch noch als sein Vorbild. Jenes Treffens also, bei dem Chruschtschow den jungen Mann im Weißen Haus "das Fürchten lehrte" und den Eindruck gewann, er könne gegen diesen Kennedy in der Berlinfrage und mittels Aufstellung von Raketen auf Cuba obsiegen.

    Das hätte damals fast zu einem Weltkrieg geführt.



    Die Aussicht auf einen Präsidenten Obama kann einen wirklich so das Fürchten lehren, wie Chruschtschow das in Wien im Junie 1961 mit Kennedy versucht hatte. Aus meiner Sicht ist das freilich nur eine der Gefahren, die von einem solchen Präsidenten ausgehen würde; oder sagen wir, es ist ein konkretes Beispiel für eine allgemeine Gefahr.

    Obama kündigt an, er werde die Amerikaner einen, ob schwarz oder weiß, ob arm oder reich, ob Republikaner oder Demokraten. Er kündigt den berühmten "Wechsel" zu einer völlig neuen Art von Politik an. Ja, er kündigt an, er wolle die Welt verändern ("change the world").

    Er weckt riesige Hoffnungen, vor allem bei seinen jungen Anhängern, die ihm zujubeln, als sei er Jesus und Leonardo DiCaprio in einer Person.

    Natürlich wird er weder die Politik in Washington ändern noch die Welt. Er wird das so wenig tun, wie er durch ein Treffen mit Ahmadinedschad diesen zu einem Freund Israels und durch ein Treffen mit Kim diesen zu einem Politiker machen wird, dem der Machterhalt seines Regimes egal ist.

    Er wird, wenn er realisiert, was er jetzt vollmundig verspricht, von einem Desaster ins nächste stolpern.

    Oder er wird, wenn er eines seiner Versprechen nach dem anderen bricht, das Vertrauen in die Politik, das gerade er mit seinem "Yes we can"- Wahlkampf neu zu begründen versucht hat, ein weiteres Mal enttäuschen.



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    Kurioses, kurz kommentiert: Up ewig ungedeelt

    Wir sind an diesem Tag besonders die Partei von Gregor Gysi.

    Der Vorsitzende von "Die Linke", Oskar Lafontaine, gestern auf deren Parteitag.

    Kommentar: Nicht nur an diesem Tag.



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    25. Mai 2008

    Zitat des Tages: "Wir sind ja so dankbar"

    We're just so grateful that there's some good people who want to do right and get these children back with their parents.

    (Wir sind ja so dankbar, daß es gute Menschen gibt, die das Rechte tun wollen und diese Kinder ihren Eltern zurückgeben.)

    Gloria Jessop, Großmutter von Kindern der mormonischen, Polygamie praktizierenden Sekte Yearning for Zion Ranch, die ihren Eltern von der State Protection Agency (Kinderschutzbehörde) des Staates Texas weggenommen worden waren. Aufgrund einer richterlichen Anordnung sollen sie jetzt zurückgegeben werden.

    Kommentar: In CNN hat gestern Larry King einige der betroffenen Mütter und einen Vater zu Wort kommen lassen. Sie berichteten, daß teilweise ihre Kinder auf Heime in weit auseinanderliegenden Teilen von Texas verteilt worden waren, so daß sie fast ständig auf Achse waren, um sie zu besuchen.

    Konkrete Vorwürfe gegen die Eltern dieser Kinder, die eine Wegnahme ihrer Kinder rechtfertigen würden, hatten der Aktion gegen die Sekte nicht zugrundgelegen, bei der - CNN zeigt noch einmal die Bilder - die Yearning for Zion Ranch mit gepanzerten Fahrzeugen und Polizisten mit Gewehr im Anschlag regelrecht gestürmt worden war.

    Nachdem ich die Berichterstattung bei Larry King gesehen habe, kann ich die Reaktion eines Sprechers der Sekte verstehen: "It was more harmful to the children than anything that could conceivably happen to them in 20 30 40 years" Daß man sie ihren Eltern weggenommen habe, hätte den Kindern mehr angetan, als alles Denkbare, was ihnen in 20, 30 oder 40 Jahren hätte widerfahren können.



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    24. Mai 2008

    Deutschland im Öko-Würgegriff (7): Sie sagen Öko und meinen Mammon. Nebst einem Exkurs über rote und grüne Linke

    In B.L.O.G. hat kürzlich Rayson auf den Zusammenhang zwischen Verkehrsgesetzgebung und den Einnahmen hingewiesen, die dem Staat aus Bußgeldern erwachsen.

    "Sie sagen Gott und meinen Mammon" sagte man früher, als noch die Religion zur Bemäntelung materieller Interessen diente. Heute nimmt der Staat dafür beispielsweise die Verkehrspolitik. Vor allem aber ist das Zauberwort "Öko" ein Sesam-öffne-dich für den Geldbeutel des Bürgers.

    Nicht genug mit der Ökosteuer, mit den uns auferlegten Zwangssubventionen für Windräder und Solaranlagen. Auch die Abgas- Politik eignet sich trefflich, dem Bürger Geld aus der Tasche zu ziehen.

    Die naheliegende Idee besteht darin, umweltschädliche Autos höher zu besteuern. Das nützt, nicht wahr, der gebeutelten Umwelt. Vor allem aber nützt es dem Staatssäckel.

    Dieser für den Staat erfreuliche Nebeneffekt ist zwar umweltpolitisch nicht im Geringsten zu rechtfertigen. Denn selbst wenn man mit "Steuern steuern" möchte, kann man das ja aufkommensneutral tun. Man kann umweltfreundliche Automobile um soviel entlasten, wie man Autos mit unerwünscht hohen Emissionen stärker belastet. Der Käufer kann das in seine Kaufentscheidung einbeziehen.

    Aber das wäre ein schöner Finanzminister, der es sich entgehen lassen würde, bei dieser Gelegenheit gleich auch die Steuerlast zu erhöhen.

    Also wollte das Finanzministerium, so stand es gestern in der "Süddeutschen Zeitung", nicht nur Neuwagen statt nach Hubraum künftig nach Emissionswerten besteuern, sondern auch bereits zugelassene Wagen mit einem CO2-Zuschlag belasten.

    Nun werden diese schon auf den Straßen rollenden Autos ja nicht umweltfreundlicher, wenn ihre Halter höhere Steuern zahlen müssen. Und wer ein solches Auto fährt, der wird auch nicht aufgrund einer höheren Besteuerung einen Neuwagen kaufen, den er sich nicht leisten kann.

    Es handelte sich also um den dreisten Versuch, bei Gelegenheit dieser geplanten Umstellung gleich die Finanzen des Bundes ein wenig zu verbessern.

    Um den Versuch. Jedenfalls vorläufig. Denn laut der Meldung der SZ wurde dieses "Klima- und Energiepaket", über das das Bundeskabinett auf seiner Sitzung am kommenden Dienstag hatte beschließen sollen, von der Tagesordnung abgesetzt.

    Der Hintergrund ist, laut SZ, eine Intervention aus dem CSU-geführten Wirtschaftsministerium, das darauf beharrt, "den Fahrzeugbestand von Steuererhöhungen zu verschonen".

    Vielleicht setzt sich Michael Glos ja in diesem Punkt endgültig durch. Dann haben wir wieder einmal davon profitiert, daß das Kabinett noch zur Hälfte aus nichtsozialistischen Ministern besteht. Wie eine solche Entscheidung ausfallen würde, wenn schon Sozialdemokraten, Grüne und Kommunisten regierten, das kann sich jeder ausmalen.



    Diese Verquickung von Umweltpolitik und dem Versuch, heimlich die Steuern zu erhöhen, ist nur ein kleines Beispiel für einen weit allgemeineren Sachverhalt:

    Die Umweltpolitik wird zu einem Hebel, mit dessen Hilfe der Staat nachgerade beliebig seine Einnahmen steigern, seine Macht ausbauen, seine Bürger zu unmündigen Untertanen machen kann, die als Objekt staatlicher Erziehungsversuche dienen sollen.

    Vergangenen Donnerstag ist in der Washington Post dazu eine Kolumne von George F. Will erschienen, die diese Neigung des Staats, die Ökologie zu Mehrung seiner Macht und seiner Einnahmen zu nutzen, trefflich beschreibt. Auszüge:
    What Friedrich Hayek called the "fatal conceit" -- the idea that government can know the future's possibilities and can and should control the future's unfolding -- is the left's agenda. The left exists to enlarge the state's supervision of life, narrowing individual choices in the name of collective goods. Hence the left's hostility to markets. And to automobiles -- people going wherever they want whenever they want.

    Today's "green left" is the old "red left" revised. Marx, a short-term pessimist but a long-term optimist, prophesied deepening class conflict but thought that history's violent dialectic would culminate in a revolution that would usher in material abundance and such spontaneous cooperation that the state would wither away.

    The green left preaches pessimism: Ineluctable scarcities (of energy, food, animal habitat, humans' living space) will require a perpetual regime of comprehensive rationing. The green left understands that the direct route to government control of almost everything is to stigmatize, as a planetary menace, something involved in almost everything -- carbon.

    Das, was Friedrich Hayek die "fatale Einbildung" nannte - die Vorstellung, daß die Regierung die Möglichkeiten der Zukunft kennen kann und die Entfaltung der Zukunft kontrollieren kann und sollte - , ist die Agenda der Linken. Die Linke existiert, um die staatliche Überwachung des Lebens zu mehren und dabei die Wahlen, die dem Einzelnen bleiben, im Namen kollektiver Güter einzuengen. Von daher die Feindseligkeit der Linken gegenüber Märkten. Und gegenüber Automobilen - Menschen begeben sich, wann immer sie wollen, dorthin, wo immer sie wollen.

    Die heutige "grüne Linke" ist eine neue Variante der alten "roten Linken". Marx, auf kurze Sicht ein Pessimist, aber auf lange Sicht ein Optimist, prophezeite sich verschärfende Klassenkämpfe, meinte aber, daß die Dialektik dieser geschichtlichen Gewalt in einer Revolution gipfeln würde, die materiellen Überfluß und eine spontane Zusammenarbeit der Art hervorbringen werde, daß der Staat abstirbt.

    Die grüne Linke predigt Pessimismus: Unvermeidbare Knappheiten (von Energie, Nahrungsmitteln, dem Lebensraum für Tiere und Menschen) werden ein dauerhaftes Regime umfassender Rationierung erfordern. Die grüne Linke hat verstanden, daß der direkte Weg hin zu einer staatlichen Kontrolle von so gut wie allem darin besteht, etwas als eine globale Bedrohung zu stigmatisieren, das in fast allem enthalten ist - Kohlenstoff.
    Wohl wahr. Wobei zumindest in Europa ja, angesichts des real existierenden Sozialismus, den roten Linken die Utopie vom Absterben des Staats ebenfalls schon lange abhanden gekommen ist.

    Ein Exponent dieser roten Linken, Wolfgang Harich, ist so etwas wie das Bindeglied zur grünen Linken.

    Er war auch in DDR-Haft ein Anhänger des diktatorisch regierenden Sozialismus geblieben, war aber intelligent genug, zu erkennen, daß für dieses System angesichts der Realitäten nicht mehr gut mit dem Versprechen geworben werden konnte, daß seine Bürger besser und freier leben würden als im Kapitalismus.

    Also ersann er 1975 eine neue Rechtfertigung für die Diktatur: Angesichts der künftigen ökologischen Probleme bedürfe es "autoritärer Strukturen" wie in der damaligen DDR:
    Wobei es dann selektiv zu unterscheiden gilt zwischen solchen Bedürfnissen, die beizubehalten, als Kulturerbe zu pflegen, ja gegebenenfalls erst zu erwecken bzw. noch zu steigern sind, und anderen, die den Menschen abzugewöhnen sein werden - soweit möglich, mittels Umerziehung und aufklärender Überzeugung, doch, falls nötig, auch durch rigorose Unterdrückungsmaßnahmen, etwa durch Stillegung ganzer Produktionszweige, begleitet von gesetzlich verfügten Massen- Entziehungskuren.
    Das waren die Kontrollphantasien eines überzeugten Anhängers der DDR. Sie könnten heute als Grundlage für ein linkes Regierungsprogramms verwendet werden.

    Wäre es nicht an der Zeit, Wolfgang Harich endlich als den anzuerkennen, der er war - der erste große Theoretiker des real existierenden Ökologismus, so wie er sich gegenwärtig entwickelt?



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    Zitat des Tages: Russen und Chinesen

    Russen und Chinesen finden bei vielen globalen Fragen sofort eine gemeinsame Sprache, oder sie stören sich nicht gegenseitig bei ihren Aktivitäten in Afrika oder Lateinamerika.

    Rainer Rupp in der kommunistischen "Jungen Welt" über den Besuch von Präsident Medwedew in China.

    Kommentar: Fein beobachtet. Beispielsweise bei ihren Aktivitäten in Bezug auf Venezuela stören sich Rußland und China gegenseitig überhaupt nicht.



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    23. Mai 2008

    Marginalie: "Wer, wenn nicht sie?"

    Die Medienkampagne für die Wahl Gesine Schwans nimmt Fahrt auf.

    Daß in der TAZ Christian Semler, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der KPD/AO, sich für Schwan ausspricht, ist keine Überraschung:
    Gesine Schwan ist eine brillante Intellektuelle, in der französischen wie der polnischen Kultur zu Hause, offen, verständigungsbemüht, dem breiten Publikum zugewandt. Es bedurfte schon des selbstzerstörerischen Furors in der SPD, um sogar den unverdienten Glücksfall einer solchen möglichen Kandidatur ins Zwielicht zu rücken. (...)
    Gewundert habe ich mich aber doch über das, was heute in der FAZ zu lesen ist. Dort schreibt unter der Überschrift: "Wer, wenn nicht sie?" Christian Geyer:
    Eine politisch denkende Philosophin, die sie im Herzen ist und immer war; eine geschmeidige Nonkonformistin, die (da hatte Gerhard Schröder ganz recht, als er sie empfahl) die Herzen im Sturm erobert; eine Unerschrockene, die es mit leichter Hand versteht, die politischen Kategorien auf ihre humane Substanz hin zu öffnen, statt sie im kleingeistigen Taktieren vor die Hunde gehen zu lassen - eine solche Person im höchsten Staatsamt wäre ein Segen fürs Land.
    In diesem Stil einer Eloge ist der ganze Artikel abgefaßt; und wie es sich in einem beginnenden Wahlkampf gehört, bekommt der Gegenkandidat sein Fett weg:
    Der Bürger hat zur Kenntnis genommen, dass es Köhler darum geht, "notfalls unbequem" zu sein. Warum bloß hat diese seine Lieblingswendung in ihrem ausgreifenden Widerstandspathos so etwas eigentümlich Ungelenkes? Vielleicht deshalb, weil die Welt, die Köhler zu reformieren aufruft - mal mit Ruck, mal ohne - dann doch immer die Wirtschaftswelt bleibt.
    Da ist es doch ganz anders, wenn - das schreibt Geyer tatsächlich - "sie zu uns spricht", die Gesine Schwan.

    Sie finden, das klingt ein wenig nach "Wort zum Sonntag"? Vielleicht ist das kein Zufall, denn der Feuilletonredakteur Geyer hat sich bisher überwiegend mit kirchlichen Themen befaßt.

    Und dabei vielleicht auch nicht mitbekommen, daß die Sache mit dem Ruck von Roman Herzog ist, und nicht von Horst Köhler.



    Gut, das steht heute im Feuilleton der FAZ und nicht im politischen Teil. Dort wird man hoffentlich auch noch Anderes über die beiden Kandidaten lesen können.

    Aber daß selbst in der liberalkonservativen FAZ nicht der liberalkonservative Präsident Köhler, sondern die voraussichtliche Kandidatin der vereinigten Linken Schwan unterstützt wird, zeigt doch, wie dominant heutzutage in den deutschen Medien diejenigen sind, die nicht nur - was ihnen ja gegönnt sein möge - einen Narren an der charmanten Gesine Schwan gefressen haben, sondern die auch gezielt darauf hinarbeiten, mit ihrer Kandidatur die Weichen für eine Volksfront - Regierung nach den Wahlen 2009 zu stellen.



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    Kurioses, kurz kommentiert: Infam? Eine unfreiwillige Wahrheit

    Dass man ausgerechnet bei Frau Schwan ein enges Bündnis mit der Linkspartei konstruiert, ist infam. Wenn jemand in den letzten Jahrzehnten beim Thema autoritärer Kommunismus entschieden Flagge gezeigt hat, dann sie.

    Der niedersächsische SPD-Vorsitzende Wolfgang Jüttner im Gespräch mit der "Braunschweiger Zeitung".

    Kommentar: Das erinnert mich an den Witz von dem Mann, der bei einem Festbankett neben der Tochter des Hauses sitzt, und die Festgans wird aufgetragen, direkt da, wo er sitzt. Er freut sich: "Fein, daß ich bei der Gans sitze". Dann bemerkt er den Fauxpas und schiebt nach: "Ich meine natürlich die gebratene".

    Jüttner also meint, daß es bei Frau Schwan kein "enges Bündnis mit der Linkspartei" gebe, weil diese ja "beim Thema autoritärer Kommunismus" entschieden Flagge gezeigt habe.

    So deutlich hat selten jemand aus der SPD auf die Identität zwischen "Die Linke" und autoritären Kommunisten aufmerksam gemacht.

    Nur wollte Jüttner die Tochter des Hauses natürlich nicht eine Gans nennen.



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    Zitate des Tages: Forscher wußten schon vor dreißig Jahren von einem bevorstehenden Klimawandel. Allerdings ...

    At this point, the world's climatologists are agreed on only two things: That we do not have tens of thousands of years to prepare for the next ice age, and that how carefully we monitor our atmospheric pollution will have direct bearing on the arrival and nature of this weather crises. The sooner man confronts these facts (...) the safer he'll be.

    (Gegenwärtig stimmen die Klimatologen der Welt nur über zwei Dinge überein: Daß wir nicht Zehntausende von Jahren haben, um uns auf die nächste Eiszeit vorzubereiten, und daß es sich auf das Eintreten und den Charakter dieser Wetterkrise unmittelbar auswirken wird, wie sorgfältig wir die Verunreinigung unserer Atmosphäre überwachen. Je früher sich der Mensch diesen Tatsachen stellt, (...) umso sicherer wird er sein.)

    Aus einem Artikel von Douglas Collins im Science Digest, Februar 1973. Überschrift: "Brace yourself for another ice age" (Machen Sie sich auf eine neue Eiszeit gefaßt).



    The world's climate is changing. (...) Sooner or later a major cooling of the climate is widely considered inevitable. Hints that it may already have begun are evident.

    (Das Weltklima ändert sich. (...) Daß es früher oder später zu einer bedeutenden Abkühlung des Klimas kommt, wird weithin als unvermeidlich betrachtet. Die Anzeichen dafür, daß sie schon begonnen haben dürfte, sind offenkundig.)

    Aus einem Artikel in der New York Times vom 21. Mai 1975. Überschrift: "Scientists ask why world climate is changing; major cooling may be ahead" (Wissenschaftler werfen die Frage auf, warum sich das Weltklima ändert; eine ausgeprägte Abkühlung dürfte bevorstehen).



    The central fact is that after three quarters of a century of extraordinarily mild conditions,the earth's climate seems to be cooling down. (...) Climatologists are pessimistic that political leaders will take any positive action to compensate for the climate change, or even to allay its effects. (...) The longer the planners delay, the more difficult will they find it to cope with climate change once the results become grim reality.

    Der zentrale Sachverhalt ist, daß nach einem Dreiviertel Jahrhundert außerordentlich milder Klimabedingungen das Weltklima sich abzukühlen scheint. (...) Die Klimatologen sind pessimistisch, daß die politischen Führungen irgendwelche konkreten Aktionen unternehmen werden, um den Klimawandel auszugleichen oder wenigstens seine Auswirkungen zu mildern. (...) Je länger die Planer zögern, umso schwieriger werden sie es finden, mit dem Klimawandel fertigzuwerden, wenn seine Resultate erst einmal grauenvolle Wirklichkeit geworden sind.)

    Aus einem Artikel in Newsweek vom 28. April 1975. Überschrift: "The cooling world" (Die sich abkühlende Welt).



    Die Links zu diesen Artikeln verdanke ich dem Blog von Claudia Rosett.



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    22. Mai 2008

    Zitat des Tages: Reyhan Sahin und der Bildungsauftrag des öffentlich - rechtlichen Rundfunks

    Das kann sich ein öffentlich - rechtlicher Rundfunk, der auch einen Bildungsauftrag hat, nicht leisten

    Therese Wieland, frühere Ordinariatsrätin und jetzt Mitglied des Rundfunkrats des Süddeutschen Rundfunks, laut "Süddeutscher Zeitung" über den Auftritt der Rapperin Reyhan Sahin bei "Schmidt & Pocher" am 24. April.

    Kommentar: Mir war bisher nicht bewußt, daß die ARD die Sendung "Schmidt & Pocher" in Wahrnehmung ihres Bildungsauftrags ausstrahlt.

    Schön wäre es ja, wenn das öffentlich - rechtliche Fernsehen auf einen Bildungsauftrag reduziert und aus Steuermitteln finanziert werden würde. Dafür plädiere ich seit langem.

    Aber solange wir horrende Gebühren für die wenige Zeit zahlen, in der viele von uns noch einen der öffentlich - rechtlichen Sender einschalten, haben wir doch wohl auch ein Recht auf Sendungen ohne Bildungsauftrag.



    Mir übrigens hat der Auftritt von Reyhan Sahin gefallen. In der türkischen Kultur, der sie entstammt, gibt es offenbar noch das, was sie perfekt spielt und bei ihrem Auftritt in Schmidts und Pochers Show witzig ironisiert hat: Die hemmungslose, ordinäre Schlampe. Den Gegentyp zur züchtigen Maid mit Kopftuch und gesenktem Blick.

    Wie Reyhan Sahin diese Figur - man könnte vielleicht sagen: diesen Archetypen - gibt, das kommt mir erheblich ehrlicher und gekonnter vor als die ständigen Auftritte der Autorin Charlotte Roche, in denen sie für ein Buch mit offenbar ähnlicher Thematik wirbt.

    Für ein Buch, das ich, zugegeben, nicht gelesen habe und wohl auch nicht lesen werde. Von dem ich aber ahne, daß es sich zu den Darbietungen von Reyhan Sahin ungefähr so verhält wie ein vegetarischer Gemüsebratling zu einem Porterhouse Steak.



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    Marginalie: Köhler will's versuchen. Das Mönchlein macht sich auf zu einem schweren Gang

    Vor einer halben Stunde hat es "Spiegel Online" gemeldet: Horst Köhler werde heute Mittag bekanntgeben, daß er sich um eine Wiederwahl bewirbt.

    Meinen Kommentar dazu habe ich vorgestern in Zettels kleinem Zimmer geschrieben. Hier ein Auszug als, sagen wir, Eilkommentar zur Eilmeldung von "Spiegel Online":
    Köhler könnte jetzt nur noch die Flucht nach vorn versuchen.

    Er könnte, entgegen aller Tradition, auf einer Kandidatur beharren, von der er weiß, daß es eine Kampfkandidatur sein würde.

    Dafür könnte sprechen, daß Köhler, diesem eigenwilligen und mutigen Mann, ein solcher Schritt zuzutrauen wäre.

    Charakterlich. Aber die politische Vernunft wird ihm wohl sagen, daß ein Präsident, der - falls er es überhaupt schaffen würde - vermutlich erst im dritten Wahlgang, mit einer vermutlichen knappen Mehrheit, gewählt wurde, mit einer von vornherein angeschlagenen Autorität in eine zweite Amtszeit gehen würde.
    Köhlers Charakter hat also über derartige Vernunfterwägung gesiegt. So jedenfalls würde ich die heutige Entscheidung zusammenfassen.

    Oder kürzer mit dem Satz, der Martin Luther, auch so einem charakterstarken und mutigen Mann, auf dem Reichstag in Worms 1521 mit auf den Weg gegeben wurde: "Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang"!



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    21. Mai 2008

    Marginalie: Die Medienkampagne für die Wahl Gesine Schwans ist eröffnet

    Die Kandidatur von Gesine Schwan für das Amt des Bundespräsidenten wird ein Selbstläufer. Wer daran noch Zweifel hatte, der lese, was Claus Christian Malzahn in "Spiegel Online" heute Nachmittag unter der Überschrift "Warum Deutschland Gesine Schwan braucht" geschrieben hat. Vorspann:
    Eine brillante Denkerin, moralisch integer: Die Kandidatur von Gesine Schwan für das Präsidentenamt wäre weit mehr als ein Befreiungsschlag für die kranke SPD. Schwan braucht das höchste Staatsamt nicht - aber Deutschland braucht eine Präsidentin wie Schwan.
    Das ist Schritt zwei einer Kampagne, die damit begann, daß im gedruckten "Spiegel" dieser Woche der Chef des Hauptstadtbüros, Dirk Kurbjuweit, einen Verriß der Amtsführung von Horst Köhler verfaßt hatte.

    Das Leitmedium hat gesprochen: Daumen runter für Köhler, Daumen rauf für Schwan.

    Schon gestern hatte in "Zeit Online" Ludwig Greven unter der Überschrift "Eine Frau an die Spitze!" die Richtung vorgegeben:
    Wenn die SPD (...) unter Beweis stellen möchte, dass sie trotz aller Probleme und Schwächen eigene Alternativen durchzusetzen versucht, dann nominiert sie eine eigene Kandidatin. Gesine Schwan wäre dafür prädestiniert wie kaum eine andere.
    Wie Malzahn, wie auch schon Heribert Prantl am Montag in der "Süddeutschen Zeitung" weist Greven natürlich darauf hin, daß Gesine Schwan alles andere als eine Sympathisantin des Kommunismus ist.

    Das werden auch die Kommentatoren der ARD tun, die uns in den nächsten Tagen erklären werden, daß Deutschland dringend eine Frau als Bundespräsidentin braucht, daß Gesine Schwan die ideale Kandidatin für den Dialog mit Polen ist, daß kein Bundespräsident, auch nicht Horst Köhler, einen Anspruch auf Wiederwahl habe.

    Was ja alles stimmt. Nur ein Gesichtspunkt wird, fürchte ich, in dieser Kampagne, die in jetzt angelaufen ist, nicht oder nur am Rande erwähnt werden: Daß eine Wahl von Gesine Schwan mit den vereinten Stimmen der SPD und von "Die Linke" ebenso eine Weichenstellung für die Volksfront im Herbst 2009 wäre, wie
  • die Wiederwahl Lübkes 1964 nach dem Willen Herbert Wehners das Signal für eine Große Koalition sein sollte,

  • die Wahl Gustav Heinemanns 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP die Weichen für die sozialliberale Koalition stellte,

  • die Wahl von Karl Carstens 1979 ein Vorbote der Wende von 1981 war,

  • und wie die Wahl Horst Köhlers 2004 das Ende von Rotgrün ankündigte.
  • Wir werden in der bevorstehenden Kampagne für die Wahl Gesine Schwans immer wieder hören und lesen, daß das nichts zu bedeuten habe. Daß es ja schließlich keine magische Beziehung zwischen den beiden Entscheidungen gebe. Daß gerade die ausgewiesen Gegnerin des Kommunismus Gesine Schwan ... usw., siehe oben.

    Nur werden innerhalb der SPD, nachdem man sich für den dritten Wahlgang (für den ersten dürften die Kommunisten wohl selbst jemanden aufstellen) mit "Die Linke" verbündet hat, diejenigen einen schweren Stand haben, die dann noch argumentieren, mit den Kommunisten dürfe es grundsätzlich keine Zusammenarbeit geben.

    Denn die hat es ja dann gegeben. Und es wird sie, wenn das Wahlergebnis es erlaubt, nach diesem Probelauf auch im Herbst 2009 geben.



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    20. Mai 2008

    Zitat des Tages: Grüße des Genossen Honecker an den Rechtsanwalt Gysi

    "Im Ergebnis hätte Gen. Honecker die juristisch konsequente Verteidigung von Rechtsanwalt Gysi begrüßt" und "an Rechtsanwalt Gysi Grüße mit der Empfehlung übermitteln lassen, ein Vertrauensverhältnis zu Havemann herzustellen mit dem Ziel, dass dieser seine Außenpropaganda einstellt."

    Aus einem "Bericht über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi am 10.7.1979", aufgefunden in den Stasi- Akten über den DDR- Dissidenten Robert Havemann. Wie Peter Wensierski gestern in "Spiegel Online" berichtete, wurden diese Akten jetzt aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung an den "Spiegel" herausgegeben.

    Kommentar: Ich finde dieses Zitat aus zwei Gründen interessant.

    Erstens, weil es vielleicht, zusammen mit dem Inhalt der anderen jetzt freigegebenen Akten, doch noch zu einem klareren Bild von der Tätigkeit Gysis als Rechtsanwalt in der DDR führen wird.

    Zum zweiten, weil es einen Umstand verdeutlicht, der meines Erachtens in der bisherigen Diskussion über Verbindungen Gysis zum MfS oft übersehen wird:

    Gregor Gysi war ja nicht irgend ein kleiner Rechtsanwalt, den die Stasi möglicherweise zu Spitzeldiensten benutzte. Gregor Gysi gehörte zur Spitze der Nomenklatura in der DDR. Ein Mann, dessen Tätigkeit der Genosse Honecker begrüßt, dem er freundliche Grüße übermitteln läßt, zusammen mit einer "Empfehlung".

    Ein Mann also, der ganz andere Möglichkeiten hatte, mit den Mächtigen der DDR zu kommunizieren, als diejenige, als ein IM wie jeder andere zu arbeiten.



    Gregor Gysi ist bekanntlich der Sohn des Altkommunisten und SED- Funktionärs Klaus Gysi. Hier sind, nach den Angaben in der Wikipedia, die wichtigsten Stationen von dessen politischer Biographie; ich zähle sie auf, weil sie ein Licht auf den persönlichen Hintergrund werfen, vor dem Gregor Gysi im Dienst der DDR tätig war:
  • Mitglied der KPD seit 1931, ab 1939 Mitglied der Studienleitung der KPD in Paris, dann illegal für die KPD im Nazireich tätig.

  • Von 1945 bis 1948 Chefredakteur des "Aufbau". Von 1945 bis 1977 Mitglied des Präsidialrates, Bundessekretär und schließlich Mitglied des Präsidiums des Kulturbundes der DDR. Von 1949 bis 1954 und von 1967 bis zum Ende der DDR Abgeordneter der Volkskammer. Von 1957 bis 1966 Leiter des "Aufbau"- Verlags, eines der wichtigsten Verlage der DDR.

  • Seit 1963 Mitglied der Westkommission des Politbüros des ZK der SED. Von 1966 bis 1973 Minister für Kultur. Mitglied des Ministerrates der DDR und der Kulturkommission des Politbüros des ZK der SED.

  • 1973 bis 1978 Botschafter der DDR in Italien, im Vatikan und in Malta. 1979 bis 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen.
  • Als Sohn dieses Mannes trat Gysi 1967, mit neunzehn Jahren, in die SED ein.

    Das Vertrauen der Führung der SED in ihn wer so groß, daß ihm nicht nur die für einen Rechtsanwalt überhaupt heikelste politische Aufgabe, die Verteidigung von Dissidenten, übertragen wurde; sondern 1988 - da war er gerade einmal vierzig Jahre - machte man ihn zum Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin und zugleich Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR, also zum obersten der Rechtsanwälte der DDR.

    Eine angemessene Karriere für einen Mann aus einer solchen Familie, hochbegabt wie sein Vater und offenkundig ein ebenso treuer Kommunist; jedenfalls von den Herrschenden der DDR so beurteilt.



    Daß jemand mit einem solchen Hintergrund und solchen Funktionen bei seiner Tätigkeit nicht mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wäre erstaunlicher, als wenn sich Erich Honecker als Agent des CIA entpuppt hätte.

    Aber andererseits dürfte auch kaum ein MfS-Offizier solch einen Mann, der in der DDR-Hierarchie weit über ihm stand, als einen gewöhnlichen Informanten betrachtet haben. Sondern als einen Kollegen, mit dem gemeinsam - hie MfS, dort der Rechtsanwalt - man das ausführte, was den Interessen der DDR dienlich war.

    Wie diese Zusammenarbeit aussah, darüber gibt zum Beispiel dieser Bericht über ein geführtes Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Gysi des MfS-Oberst Lohr von der HA XX/OG vom 7. Dezember 1978 Auskunft ("Alle anderen Forderungen Bahros wird er mit uns abstimmen, bevor er diesbezügliche Schritte einleitet").

    Überhaupt galt ja für die Rechtspflege in der DDR, was jemand, der es aus eigener Erfahrung weiß, so beschrieben hat:
    Laut dem Selbstverständnis der SED gab es keine unabhängige Justiz, die Justiz war "der verlängerte Arm der Partei." Es gab also in diesem Sinne keine "Rechtsanwälte" wie wir das heute verstehen. Vor allem bei Verfahren mit politischem Hintergrund.

    Der "Rechtsanwalt" war dort immer der Abgesandte der Staatsanwaltschaft etwa nach dem Motto "Guter Polizist - Böser Polizist". Beide, Staatsanwalt und Rechtsanwalt waren Erfüllungsgehilfen der jeweiligen Parteileitung. Die Ergebnisse und der Ablauf von Prozessen in politischen Verfahren wurden vorher festgelegt, alles lief exakt nach Drehbuch.
    Ich habe diese Passage einem Beitrag von "Hanfried" aus Jena entnommen, der das vor nun fast schon sieben Jahren in einem von zwei parallelen Threads des "Politikforum" schrieb, in denen über Gysi diskutiert wurde.

    Ich habe damals unter meinem alten Nick "DK" dort mitdiskutiert und unter anderem auf einen Text aufmerksam gemacht, auf den man alle, die sich für Gysis Tätigkeit als DDR-Rechtsanwalt interessieren, nicht nachdrücklich genug hinweisen kann: Die Drucksache 13/10893 des Deutschen Bundestags, 13. Wahlperiode, vom 29. 05. 1998.

    Das ist - so der vollständige Titel - der
    Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) zu dem Überprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44 b Abs. 2 Abgeordnetengesetz (Überprüfung auf eine Tätigkeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/ Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik)
    Wenn Sie die Zeit erübrigen können - lesen Sie bitte diesen Bericht. Lesen Sie vor allem auch sorgfältig die Stellungnahme des Abgeordneten Dr. Gysi (S. 51ff des Berichts), und bilden Sie sich dann Ihre Meinung. Und wenn Sie wissen wollen, was es alles an Dokumenten aus dem Kontext dieses Berichts gibt, dann finden Sie hier eine sehr sorgfältige Zusammenstellung.



    Ich habe mir meine Meinung gebildet. Es ist eine Meinung, die zu äußern man vorsichtig sein sollte, wenn man nicht von dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi in einen Rechtsstreit verwickelt werden will.

    Es ist allerdings eine Meinung, die auch mein Urteil über die heutige politische Arbeit des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und mein Urteil über die Absichten der Partei bestimmt, deren Fraktionsvorsitzender er gegenwärtig ist.



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