Mendig, der Heimatort von Andrea Nahles, liegt nicht allzu weit entfernt von jenem Echternach in Luxemburg, nah der deutschen Grenze, dessen
Springprozession sprichwörtlich ist: Drei Schritte vor, zwei zurück; jedenfalls in der klassischen Variante wurde so gesprungen.
Andrea Nahles ist jetzt fast 38 Jahre und noch immer Studentin. Seit 2004 schreibt sie an ihrer Dissertation. Außer daß sie Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten war, hat sie nie einen Beruf ausgeübt. Ähnlich wie ihren linken Mitstreiter
Niels Annen, der - glaubt man der Wikipedia - seit 1994 studiert, also seit knapp dreißig Semstern, würde man sie dem Typus des klassischen ewigen Studenten zuordnen.
Würde. Denn damit täte man Leuten wie Annen und Nahles Unrecht. Sie sind ewige Studenten eines neuen Typus.
Sie gehören nicht zu jenen oft liebenswerten, aber lebensuntüchtigen Menschen, die früher einmal jede Universitätsstadt als "bemooste Häupter" bevölkerten. Die dort als Originale, oft auch als Faktotum des einen oder anderen Universitäts- Instituts, stadtbekannt waren. Dies studierend, Jenes studierend, oft immens belesen. Nur unfähig zur Tat, zur Selbstverantwortung, zur Gestaltung eines Berufslebens.
Nein, zur Tat sind sie fähig, diese neuen ewigen Studenten. Ob sie nun ihr Studium irgendwann noch abschließen oder es schließlich abbrechen - es ist nicht eine liebenswerte Weltfremdheit, die sie darin hindert, nach beendetem Studium berufstätig zu werden. Sondern es ist im Gegenteil sozusagen ein Überschuß an Tatkraft.
Sie betreiben die Politik zunächst neben dem Studium. Irgendwann wird das Politisieren für sie zur Haupt- und das Studium zur Nebensache.
Und wenn sie Glück und Geschick haben, wie Nahles und Annen, dann gelangen sie - nicht selten über die Schiene der Jugendorganisation der jeweiligen Partei - in den Bundestag und vertreten dort das Volk, ohne auch nur einen Berufsabschluß zu haben, jedenfalls ohne jemals einen ordentlichen Beruf ausgeübt zu haben (Nahles hat immerhin den M.A. geschafft). Wie man an Josef Fischer sieht, kann eine solche Karriere sogar bis in die höchsten Ämter führen.
Es liegt auf der Hand, daß solche Menschen einen anderen Blick auf die Gesellschaft, auf die Politik haben als diejenigen, die das Leben auch einmal außerhalb der Politik kennengelernt hatten, bevor sie zu Berufspolitikern wurden. Menschen wie Annen und Nahles kennen keine andere Art von Leistung als die, "Mehrheiten zu Organisieren", Abstimmungen zu gewinnen, Mandate und Ämter zu ergattern. Das ist ihre Welt; in einer anderen haben sie als Erwachsene nie gelebt.
Sie sind in der Politik die Profis schlechthin; die Formel-1-Politiker, diejenigen unter ihren Kollegen, die in der politischen
Premier League spielen.
Zumal, wenn sie, wie Andrea Nahles, nur Parlamentarier sind und nicht noch ein Ministeramt haben oder gar Ministerpräsident eines Bundeslandes sind. Dann stechen sie mit ihrer Professionalität, mit ihrer souveränen Beherrschung aller Geschäftsordnungstricks, mit ihrer intimen Kenntnis ihrer Partei jeden Konkurrenten aus, der auch noch ein Ministerium zu leiten hat. Zumal, wenn, wie im aktuellen Parteivorstand der SPD, die beiden Stellvertreter Steinmeier und Steinbrück just
nicht jener Typus des ausgebufften Parteipolitikers sind.
Der Aufstieg der Andrea Nahles ist also nicht ganz so erstaunlich; auch wenn, wie es heute das
"Handelsblatt" beschreibt, der Sachverhalt allen erst jetzt plötzlich bewußt wird: Hallo! Da ist ja eine, die sich nach oben gearbeitet hat und die jetzt die Strippen zieht!
Ja, das tut sie offenbar, und nicht erst seit heute. Sie tut es in einem für sie sehr bezeichnenden Stil, eben jenem der Echternacher Springprozession: Sie stößt vor, erkundet, wie weit sei gehen kann, und rudert dann gegebenenfalls zurück. Nur nicht ganz bis zu dem Punkt, an dem der Vorstoß begonnen hatte. So kommt sie voran; drei Schritte vor, zwei zurück.
So hat sie es gemacht, als sie 2005 im Vorstand der SPD ihre Nominierung zur Generalsekretärin der SPD organisierte; gegen den vom Vorsitzenden Müntefering gewünschten Kandidaten Kajo Wasserhövel.
Die Abstimmung hätte eigentlich eine Formalität sein sollen, denn es gehört in der SPD zu den Vorrechten jedes Vorsitzenden, sich den Generalsekretär selbst auszusuchen. Nahles aber probte erfolgreich den Putsch gegen Müntefering - drei Schritte vor. Als Müntefering daraufhin den Vorsitz hinwarf, zeigte sie öffentliche Reue und verzichtete auf das Amt - zwei Schritte zurück.
Aber eben nur zwei Schritte. Denn sie hatte ihren Rückhalt im Parteivorstand unter Beweis gestellt, und nur anderthalb Jahre nach dem Putschversuch wurde sie für den Posten einer stellvertretenden Vorsitzenden nominiert, auf den sie im Oktober vergangenen Jahres denn auch gewählt wurde. Drei Schritte vor.
Vielmehr nicht ganz. Denn das "zwei Schritte zurück" erfolgte diesmal sozusagen parallel zu diesem Sprung nach vorn. Zugleich wurden nämlich die beiden Minister Steinmeier und Steinbrück, nicht eben Freunde des linken Parteiflügels, zu weiteren Stellvertretern gewählt, und zwar beide mit einem besseren Stimmenergebnis als Nahles.
Ein Dämpfer für die Ambitionen von Andrea Nahles? Man hat sich damals gefragt,warum die beiden auch mit den Stimmen des von Nahles angeführten linken Flügels gewählt worden waren. Heute ist klar, wie geschickt Nahles das eingefädelt hatte; wie sehr die beiden Schritte zurück nur den nächsten drei Schritten nach vorn dienten.
Denn in einer Führungsspitze aus Beck, Steinmeier, Steinbrück und Nahles spielt nur Nahles in der
Premier League der Politiker. Nur sie hat die Zeit, nur sie kennt die Partei so gründlich, beherrscht alle Tricks und Winkelzüge so perfekt, kann sich ihrer linken Seilschaften so sicher sein, daß sie Entscheidungen im Vorfeld vorbereiten, daß sie im Hintergrund die Weichen stellen und die anderen überrumpeln kann.
Das hat sie bei der Nominierung von Gesine Schwan glänzend unter Beweis gestellt. Beck, Steinmeier, Steinbrück und auch der Fraktionsvorsitzende Struck hatten signalisiert, Köhler wählen zu wollen. Nahles brachte nicht nur Schwan durch, sondern bekam es sogar hin, daß die anderen das unterstützten. Drei Schritte vor.
Aber so erfolgreich sie mit der Durchsetzung dieser Kandidatur war - in den vergangenen Tagen erkannte Nahles offenbar, daß ihr Ziel, damit zugleich die Weichen für die Volksfront 2009 zu stellen, nicht ebenso leicht zu erreichen sein würde.
Denn dank Ypsilanti und Beck ist die Öffentlichkeit hellhörig geworden. Müntefering hatte aufgepaßt und brachte das Thema in die öffentliche Diskussion. Und dann platzte auch noch die Affäre Gysi dazwischen, die vielen in der SPD vor Augen führte, mit wem sie sich für eine Volksfront einlassen müßten.
Nahles hat darauf blitzschnell reagiert und der Forderung Münteferings, ein Zusammengehen mit "Die Linke" für 2009 formal auszuschließen, am Mittwoch überraschend zugestimmt, nachdem sie das zuvor brüsk abgelehnt hatte. Zwei Schritte zurück.
Wenn die Volksfront auf 2013 verschoben werden würde, brauchte Nahles sich nicht zu grämen. Die nächsten drei Schritte nach vorn dürften auch dann nicht schwer werden.
Beck und Müntefering werden in fünf Jahren sehr wahrscheinlich aus dem Spiel sein. Zeit für einen Generationswechsel in der SPD.
Nahles wird, wenn 2013 gewählt wird, 43 Jahre alt sein. Barack Obama ist jetzt 46.