31. Oktober 2009

Zitat des Tages: "Präsident Obama muß eine Entscheidung treffen". Ein Präsident beim on-the-job-training

Before he can determine troop levels, his advisers have said, he must decide whether to embrace a strategy focused heavily on counterinsurgency, which would require additional forces to protect population centers, or one that makes counterterrorism the main focus of U.S. efforts in the country, which would rely on relatively fewer American troops.

(Bevor er den Umfang der Truppen festlegen kann, muß er laut seinen Beratern eine Entscheidung treffen zwischen einer Strategie, die sich wesentlich auf counterinsurgency konzentriert und die zusätzliche Truppen zum Schutz von Bevölkerungszentren verlangen würde, und einem hauptsächlichen Schwerpunkt der US-Anstrengungen in diesem Land beim counterterrorism, wofür eine relativ geringere Zahl amerikanischer Soldaten benötigt werden würde).

Anne E. Kornblut and Greg Jaffe heute in der Washington Post über die militärischen Entscheidungen, die Präsident in Bezug auf Afghanistan treffen muß.


Kommentar: Leser dieses Blogs werden sich daran erinnern, daß Präsident Obama erst Ende März dieses Jahres eine "umfassende, neue Strategie" für Afganistan verkündet hatte, als "Abschluß einer sorgfältigen Überprüfung der Politik" gegenüber Afghanistan und Pakistan; siehe Präsident Obamas verwirrende Strategie für Afghanistan; ZR vom 31. 3. 2009.

Ich habe damals, mich stützend auf eine Analyse von Fred Kaplan, darauf aufmerksam gemacht, daß Obamas angeblich umfassende und neue Strategie vor allem eine unklare Strategie war; eine Strategie nämlich, welche die Entscheidung zwischen counterinsurgency und counterterrorism vermied (zur Definition dieser Strategien siehe den damaligen Artikel sowie Was wollen wir eigentlich in Afghanistan? Sie werden staunen: Präsident Obama läßt jetzt darüber nachdenken; ZR vom 23. 9. 2009).

Seit Wochen wird im Weißen Haus nun nachgedacht. Und welches Mäuslein gebiert der kreißende Berg? Seine Berater klären den Präsidenten darüber auf, daß er sich zwischen counterinsurgency und counterterrorism entscheiden muß!

Ginge es nicht um Menschenleben und um den Kampf gegen den Terrorismus, dann könnte man lachen. So kann man nur bitter konstatieren, daß es vielleicht doch keine gute Idee der amerikanischen Wähler war, einen unerfahrenen jungen Mann zum on-the-job-training ins Weiße Haus zu schicken.



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Zum Reformationstag: D. Martin Luther, der deutscheste aller deutschen Denker. Nebst Anmerkungen zum Deutschen Michel

Es hat eine gewisse Tradition, daß ich zum Reformationstag über Martin Luther schreibe. Im Jahr 2006 waren das sehr persönliche Erinnerungen an den Reformator als Gegenstand religiöser Unterweisung. Ein Jahr später habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß ausweislich der TV-Programme der 31. Oktober im Bewußtsein der Deutschen Halloween ist; Luther kam mit Ausnahme des MDR, sozusagen seines Heimatsenders, so gut wie nicht mehr vor.

Und doch ist Luther allgegenwärtig in Deutschland. Kein Denker hat uns so geprägt; unser deutsches Selbstverständnis so bestimmt, wohl auch unsere Wahrnehmung durch andere.



Im, wie man so sagt, Volk der Dichter und Denker sind die herausragenden Dichter im allgemeinen Bewußtsein präsent. Goethe und Schiller weiß auch der Begriffsstutzigste mindestens zu nennen. Für die großen Denker gilt das keineswegs. Ganz anders als in Frankreich, wo jeder Abiturient Descartes und Bergson nicht nur gründlich kennt, sondern vieles von ihrem Denken auch in sich aufgenommen hat.

In Deutschland hingegen: Zum Namen des ersten ganz großen deutschen Philosophen der Neuzeit, Gottfried Wilhelm Leibniz, fallen den meisten Deutschen vermutlich Kekse ein. Sein zugleich wissenschaftliches und hochspekulatives Denken steht demjenigen der Franzosen, in deren Sprache er meist geschrieben hat, viel näher als der deutschen Befindlichkeit.

Kants skeptische Erkenntnistheorie hat kaum ihre Spuren hinterlassen; seine Ethik reduziert sich in der allgemeinen Wahrnehmung auf den kategorischen Imperativ, der als eine etwas andere Formulierung des Paragraphen 1 der StVO verstanden wird. Das Preußen, das er in der Tat geprägt hatte, ist untergegangen.

Auf die Aufforderung: "Nennen Sie spontan einen deutschen Philosophen" würde - vermute ich; man sollte den Test einmal machen - eine repräsentative Stichprobe von Deutschen, sofern sie nicht schweigen, "Nietzsche" sagen. Der ist verrückt geworden, wie es sich für einen Philosophen gehört.

Luther hingegen ist nicht nur jedem bekannt; sondern er hat das deutsche Wesen tief geprägt. Er ist für uns das, was René Descartes für die Franzosen ist und was Adam Smith und David Hume den Briten bedeuten.



Luther ist im Bewußtsein von uns Deutschen - wieweit das dem historischen Luther gerecht wird, sei dahingestellt - der ehrliche, tapfere Mann, der sich gegen die Machenschaften von Finsterlingen, vorwiegend welschen, zur Wehr setzt.

Er war, als er Rom besuchte, entsetzt von der dortigen Libertinage. Diese Kirche, diese verkommene Kirche, wollte er reformieren, also wieder auf den rechten Weg führen. Daß aus der Reformation am Ende eine Abspaltung wurde, hatte er nicht gewollt, der aufrechte Mann.

Er trat dem Ablaßhandel entgegen, diesem Schachern mit der Angst vor der Hölle. Der Name Tetzel allein löst noch jetzt bei mir tiefe Abscheu aus, ich werde da nicht allein sein. Ein Name, der dieser niedrigen Krämerseele wie auf den Leib geschrieben ist; der Teufel steckt als Etym darin, auch der Tatzelwurm. Wolfgang Menge mag mit diesen Assoziationen gespielt haben, als er dem Ekel Alfred den Namen Tetzlaff gab.

Mannhaft und ja, bieder, war er, der D. Martin Luther. Er stellte sich nicht nur dem Reichstag in Worms; er stellte sich vor ihn hin und sprach, so wurde es in der Überlieferung verkürzt, das "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun, sagte man später.

Redlich, ohne Schnörkel und wuchtig war auch seine Sprache. Jene Sprache, die für uns seither die Sprache der Bibel ist; in der Luther aber auch Derbes geäußert hat wie das bekannte und immer gern zitierte "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz".



Die Reformation war für Jahrhunderte die letzte große geistige Umwälzung in Europa, die ihren Ursprung in Deutschland hatte. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts fiel das sich politisch auflösende Deutschland auch kulturell zurück hinter Frankeich, hinter England; bis zum Wiederaufstieg von der Mitte des 18. Jahrhunderts an.

Das mag einer der Gründe dafür sein, daß Luther so ungeheuer prägend für das deutsche Selbstverständnis ist; prägend wie dann erst wieder die Weimarer Klassik. Und wie das so ist - Kulturgüter sinken ab; sie werden zum Volksbesitz, sie werden trivialisiert.

Das Bild von Luther, das in unseren deutschen Köpfen steckt, hat sein triviales, sein nachgerade karikaturhaftes Gegenstück im deutschen Michel. Diese Gestalt mag in der Tat schon in der Lutherzeit, vielleicht schon etwas früher entstanden sein. Und zwar als Gegentypus zum Verfeinerten, Ausländischen, Welschen. Lange Zeit war der Begriff herabsetzend gemeint; aber nach und nach haben wir uns doch mit diesem Michel zu identifizieren gelernt, wir Deutschen. Diesem biederen, ein wenig langweiligen, aber grundanständigen Kerl.

Es ist mit diesem Selbstbild eine Gefahr verbunden, die es mit vielen Autostereotypen teilt: Sie gewinnt ihr Leben, ihre plastische Konkretheit erst vor dem Hintergrund von Fremdstereotypen. Je mehr wir Deutschen uns als bieder und ehrlich verstehen, umso mehr tendieren wir dazu, bei den anderen Hinterlist und Verstellung zu wittern.

Da ist dann das Ressentiment nicht mehr weit. Von Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein zeugt es jedenfalls nicht unbedingt, wenn ein Volk sich in einem schlafmützigen, einem jedenfalls schlafbemützten, Biedermann wiedererkennt.

Da sollten wir uns doch wieder eher an Luther erinnern, diesen Kerl von einem Mann, von dem Goethe geschrieben hat: "Das einzige, was uns an der Reformation interessiert, ist Luthers Charakter, und er ist auch das einzige, was der Menge wirklich imponiert hat". Dieses Zitat setzt Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" über das Kapitel, das sich mit der Reformation befaßt. Überschrieben ist es mit "Die deutsche Religion".



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Martin Luther, gemalt von Lucas Cranach d.Ä.

30. Oktober 2009

Kurioses, kurz kommentiert: "Europa legt 40 Milliarden jährlich auf den Tisch".

Als "Klimakanzlerin" wurde sie einst gefeiert, als wichtigste Vorkämpferin für den Umweltschutz in der internationalen Politik. Jetzt könnte es ausgerechnet Angela Merkel sein, die globalen Klimaverhandlungen den Todesstoß versetzt - durch einen kurzsichtigen Kurs in der EU. (...)

In der kommenden Woche ist Angela Merkel in Washington zu Gast. Ihr wird eine seltene Ehre zuteil, sie darf zu beiden Kammern des US-Kongresses sprechen. Es wäre der ideale Moment, um zu sagen: Präsident Obama, Europa legt 40 Milliarden Euro jährlich für Klimaprojekte in Entwicklungsländern auf den Tisch (...).


Christian Schwägerl, politischer Redakteur im Hauptstadt- Büro des gedruckten "Spiegel", heute in "Spiegel- Online" über die Klimapolitik der Kanzlerin.


Kommentar: Kurios, nicht wahr? Gerade eben noch hörten wir von allen Seiten - am lautesten, wie anders, von links und "linksliberal" -, daß kein Geld für noch so bescheidene Steuersenkungen da sei. Und just diejenigen, die das verkünden, kritisieren die Kanzlerin nun dafür, daß sie nicht für die Zusage von Milliardentransfers aus Europa an Länder wie China und Indien eintritt, damit diese sich eventuell bereitfinden, ihre C02-Emissionen zu senken. Eine Zusage, die gemacht werden soll, bevor diese Länder sich ihrerseits auf irgendwelche Maßnahmen festgelegt haben.

Schwägerl steht da keineswegs allein. In "Zeit- Online" schlägt Claas Tatje in dieselbe Kerbe (Vorspann: "Die Bundeskanzlerin blockiert in Brüssel klare Zusagen beim Klimaschutz. Das schadet ihrem eigenen Profil und schwächt ihre Glaubwürdigkeit in Washington"). Und natürlich melden sich auch die Finanzspezialisten von Greenpeace zu Wort:
Die Umweltorganisation Greenpeace machte auch die Bundesregierung als Bremser aus. "Deutschland spielt hier eine sehr unrühmliche Rolle", sagte Stefan Krug, Leiter der politischen Vertretung von Greenpeace in Berlin, der Nachrichtenagentur dpa. "Sie sind alles andere als ein Motor, sondern ein Blockierer." Der EU drohe "ein großer Glaubwürdigkeitsverlust".
Ein Gaubwürdigkeitsverlust, so scheint mir, droht vor allem denen, für welche die Bundeskasse leer ist, wenn es um die Entlastung des deutschen Steuerzahlers geht, aber wohlgefüllt, wenn Milliardensummen für Transferleistungen in sogenannte Entwicklungsländer zugesagt werden sollen.



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29. Oktober 2009

... aber der Barack, der läßt sie nicht verkommen. Wie der Saubermann Obama seine Unterstützer im Wahlkampf jetzt belohnt

Zu dem Bild vom strahlenden Helden, das Barack Obama von sich im Wahlkampf entwarf, gehörte der Kampf gegen "Washingon" - die Chiffre für Lobbyismus, Kungelei und Vetternwirtschaft. Mit dem Morast ("muddy waters") wolle er aufräumen, hatte er versprochen, der Herkules Obama.

Knapp ein Jahr nach seinem Wahlsieg zeichnet sich jetzt ab, daß kein US-Präsident seit Menschengedenken so skrupellos wie Obama darin war, diejenigen, die ihm mit Geldspenden geholfen haben, mit Wohltaten zu bedenken und mit Ämtern zu versorgen. Dazu ist heute in USA Today ein Artikel erschienen, der das bestätigt und ergänzt, was gestern in der Washington Times zu lesen gewesen war. Aufmerksam geworden bin ich auf beide Artikel durch das Internet- Magazin The Slatest.

Obama hatte, wir erinnern uns, im Vorwahlkampf gegen seine demokratischen Mitbewerber und im Wahlkampf gegen John McCain mehr Geld zur Verfügung gehabt als irgendein Konkurrent. Das verdankte er seinem Charisma und der konsequenten Nutzung des Internet; vor allem aber verdankte er es denjenigen, die für ihn kleine Spenden gesammelt und sie ihm gebündelt überwiesen hatten, den sogenannten bundlers (Bündlern).

Diese erhalten jetzt ihre Belohnungen, und zwar je nach der Größe ihres Verdienstes auf einer von zwei Ebenen: Sie werden entweder mit Privilegien ausgestattet, den sogenannten perks, oder sie bekommen einen schönen Posten.



Privilegien für eifrige Spender sind in Washington nichts Neues. Aber Obama, der Saubermann, hat sie auf eine neue Höhe geführt.

Sie umfassen, wie Matthew Mosk in der Washington Times schreibt, "VIP access to the White House, private briefings with administration advisers and invitations to important speeches and town- hall meetings" - VIP-Zugang zum Weißen Haus, private Hintergrund- Gespräche mit hochrangigen Beamten der Regierung und Einladungen zu wichtigen Reden und Bürger- Versammlungen.

Ein Spender wurde zu seinem Geburtstag ins Weiße Haus eingeladen. Ein anderer durfte mit seiner Familie die Bowling- Anlage des Weißen Hauses benutzen. Bündler durften gemeinsam mit dem Präsidenten einer Vorführung im Kino des Weißen Hauses beiwohnen. Wer sehr viel gebündelt hatte, wie der Geschäftsmann Robert Wolf, der wurde auch schon einmal zum Golfspiel mit dem Präsidenten an dessen Urlaubsort Martha's Vineyard eingeladen.

Nun gut, Peanuts. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Oder sagen wir: Serenissimus gewährt seine Huld je nach Verdienst. Auch nach in Aussicht gestelltem Verdienst. Ebenfalls laut Washington Times wurde künftigen Spendern für die Wahlen 2010 schon jetzt ein privilegierter Zugang zu Beamten des Weißen Hauses versprochen.



Nicht mehr unter "Peanuts" zu subsumieren aber ist die Verteilung von Posten an diejenigen, die dem Kandidaten Obama gefällig gewesen waren. In USA Today nennt Fredreka Schouten dazu beeindruckende Zahlen:
  • Von den 47 Bündlern, die für Obama mehr als jeweils 500.000 Dollar gesammelt hatten, sind 20 inzwischen in durchweg hohe Regierungsämter berufen worden.

  • Insgesamt sind von den rund 600 Bündlern bisher 54 in der Regierung untergekommen - von Ministerämtern über Führungspositionen im Regierungsapparat bis hin zur Aufnahme in Gremien wie etwa die Kommission, die das Land aus der Rezession führen soll.

  • Am eindrucksvollsten aber ist, in welchem Umfang Obama seine Getreuen mit Posten als Botschafter belohnt hat.
  • Daß ein Teil der Botschafter sich nicht aus dem diplomatischen Corps rekrutiert, hat in den USA Tradition. Wenn allerdings jemand zum Botschafter berufen wird, der erkennbare persönliche Beziehungen zum Präsidenten hat oder sich um dessen Wahl verdient gemacht hat, dann galt das bisher als anrüchig und wurde in der Presse regelmäßig kritisiert.

    Die folgenden Personen haben für Obama mehr als 500.000 Dollar gebündelt:

    Nicole Avant, jetzt Botschafterin auf den Bahamas; Matthew Barzun, jetzt Botschafter in Schweden; Don Beyer, jetzt Botschafter in der Schweiz und Liechtenstein; Jeff Bleich, als Botschafter in Australien nominiert; William Eacho, jetzt Botschafter in Österreich; Donald Gips, jetzt Botschafter in Südafrika; Howard Gutman, jetzt Botschafter in Belgien; William Kennard, als Botschafter bei der EU nominiert; Bruce Oreck, jetzt Botschafter in Finnland; Charles Rivkin, jetzt Botschafter in Frankreich und Monaco; John Roos, jetzt Botschafter in Japan; Alan Solomont, als Botschfter in Spanien und Andorra nominiert; Cynthia Stroum, als Botschafterin in Luxemburg nominiert. - Bei den Nominierten steht die Bestätigung durch den Senat noch aus.

    Wer weniger als 500.000 Dollar gesammelt hat, der muß in der Regel auch mit einer weniger hochrangigen Position vorliebnehmen.

    In dieser weit kopfstärkeren Gruppe finden sich nur noch sieben Botschafter: Samuel Kaplan, jetzt Botschafter in Marokko; Louis Susman, jetzt Botschafter in Großbritannien; Barry White, jetzt Botschafter in Norwegen; Laurie Fulton, jetzt Botschafterin in Dänemark; Vinai Thummalapally, jetzt Botschafter in Belize; David Jacobson, jetzt Botschafter in Kanada und Susan Rice, jetzt Botschafterin bei den Vereinten Nationen.

    Die meisten in dieser Gruppe der weniger erfolgreichen Bündler mußten sich mit Regierungsämtern minderen Rangs begnügen. A. Marisa Chun (Sammlerin in der Kategorie von 200.000 bis 500.000 Dollar) wurde zum Beispiel Deputy associate attorney general (ungefähr: Unterstaatssekretärin im Justizministerium); Fred Hochberg (100.000 bis 200.000 Dollar) wurde Präsident der US- Import- und Exportbank, und Rocco Landesman (50.000 bis 100.000 Dollar) steht jetzt der Nationalen Kunststiftung vor.

    Nicht immer hat sich der Präsident allerdings streng an Verdienst und Würdigkeit gehalten. Eric Holder (50.000 bis 100.000 Dollar) hat deutlich weniger gesammelt als A. Marisa Chun (200.000 bis 500.000 Dollar). Dennoch ist er als Justizminister jetzt ihr Vorgesetzer.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Titelvignette zeigt das offizielle Foto von Präsident Obama. Es wurde wenige Stunden vor seinem Amtsantritt von Peter Souza aufgenommen und ist unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported License freigegeben.

    Zettels Meckerecke: Weg mit der Quotitis! Nebst einem Lob für die Kanzlerin

    In einem der Interviews, die Angela Merkel gestern gegeben hat, - in der Sendung "Was nun, Frau Merkel?" des ZDF - wurde ihr vorgehalten, daß in ihrem Kabinett außer ihr selbst keine Ostdeutschen vertreten seien. Sie versuchte zuerst auszuweichen, indem sie auf Thomas de Maizière hinwies; Angehöriger der sächsischen CDU und dort langjähriger Minister und zuletzt Spitzenkandidat, aber freilich nur ein Beutesachse westdeutscher Herkunft.

    Als ihr das entgegengehalten wurde, sagte die Kanzlerin trotzig: "Wir haben nicht nur nach dem Regionalproporz geguckt".

    Wie Recht sie hat, die Kanzlerin! Welch eine Unvernunft liegt darin, zu glauben, ein gutes Kabinett sei eines, in dem Männer und Frauen, Nord- und Süddeutsche, Ost- und Westdeutsche, vielleicht gar noch Junge und Alte in ausgewogenen Proportionen vertreten sind!

    Aber es wird gefordert; und wenn derlei Forderungen nicht erfüllt werden, dann rächen sich die Übergangenen. So taten es offenbar - jedenfalls zitiert "Spiegel- Online" entsprechende Äußerungen - ostdeutsche Abgeordnete der CDU, die der Kanzlerin gestern ihre Stimme verweigerten, weil eben keiner der Ihren mit einem Ministeramt bedacht worden war.

    Schön immerhin, daß nicht auch die Nichtakademiker der Kanzlerin ihre Stimmen verweigerten, weil sie im neuen Kabinett kraß unterrepräsentiert sind; siehe ein Kabinett der Doktoren, der Christen: ZR vom 28. 10. 2009. Grund dazu hätten sie haben können. Schließlich werden Quotierungen zugunsten von Frauen meist damit begründet, daß sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Das gilt auch für Nichtakademiker.



    Unter Konrad Adenauer gab es keine Quoten. Sondern es gab den Proporz, und das war dasselbe.

    Niemand dachte damals freilich an eine Frauenquote respektive einen Frauenproporz. Der wichtigste Proporz war der konfessionelle; ungefähr wie heute im Irak.

    Da der Kanzler katholisch war, mußte der Bundespräsident evangelisch sein. Auch im Kabinett, auch bei der Besetzung anderer Ämter wurde auf den Proporz der Konfessionen geachtet. Von jedem Minister wußte man, ob er katholisch oder evangelisch war, auch wenn man sonst kaum etwas über ihn wußte.

    Einen Proporz gab es in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren auch in Österreich. Dort teilten sich die Roten und die Schwarzen friedlich die Macht; nachdem sie noch wenige Jahrzehnte zuvor gar nicht sehr friedlich miteinander umgegangen waren. Der Politologe Gerhard Lehmbruch nannte das 1967 die Proporz- Demokratie. Aber als er das schrieb, war es damit gerade vorbei. Ab 1966 regierte die ÖVP mit absoluter Mehrheit; später dann auch die SPÖ unter Bruno Kreisky.

    Wenn zwei Parteien miteinander regieren, macht der Proporz zwischen ihnen noch einen gewissen Sinn; denn schließlich geht es dabei um politische Positionen, die entsprechend der Stärke der Partner zu besetzen sind. (Daß das, wie es die Fama behauptet, in Österreich gelegentlich bis zum Pförtner und zum Briefboten ging, mag stimmen oder auch nicht).

    Aber für die Politik macht es keinen Unterschied, ob jemand männlich oder weiblich ist, ob er aus Schwaben oder aus Sachsen kommt. Sind in einem Koalitions- Kabinett die Ressorts nach einem parteipolitischen Schlüssel verteilt, dann sollte für das weitere Verfahren der Besetzung allein die Qualifikation bestimmend sein.

    Indem sie Ostdeutsche schnöde nicht berücksichtigte, hat Angela Merkel so gehandelt und damit einen wichtigen und richtigen Schritt zur Bekämpfung der Quotitis getan. Glückwunsch, Kanzlerin!



    Zu den dummen Vorwürfen, die seit Tagen auf diese noch gar nicht amtierende Regierung niederprasseln, gehört die Kritik, sie betreibe Klientelpolitik. So, als hätten die Sozialdemokraten, als sie an der Regierung waren, nicht mit den Gewerkschaften am selben Strang gezogen, und als hätten die Grünen nicht alles getan, damit es den Herstellern von Windrädern und von Sonnenkollektoren gut ging.

    Jede Regierung hat das Gemeinwohl im Auge zu behalten; aber in diesem Rahmen wird sie immer auch diejenigen besonders berücksichtigen, denen sie die Regierungsmacht verdankt. Das ist legitim; und es ist so, seit in Athen und Rom die ersten Demokratien erprobt wurden.

    Aber das bedeutet doch nicht, daß diese Wählergruppen sozusagen physisch mit am Kabinettstisch sitzen müssen. Wer sich um die Kranken kümmert, darf selbst durchaus gesund sein. Wer die Interessen der Alten vertritt, braucht kein Greis zu sein. Wer für die Raumfahrt zuständig ist, der muß nicht selbst im All gewesen sein. Und nicht nur Ostdeutsche sind in der Lage, eine vernünftige Politik zu machen, die hilft, in den Ländern, die einmal die DDR waren, die schlimmen Hinterlassenschaften des Kommunismus zu überwinden.



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    28. Oktober 2009

    Marginalie: Ein Kabinett der Doktoren, der Christen

    Dies ist wirklich nur eine Marginalie, eine Randbemerkung. Aber eine solche scheint mir der Sachverhalt schon wert zu sein:

    Alle Minister, die soeben vereidigt wurden, haben den Eid mit dem "so wahr mir Gott helfe" geleistet. Man wird weit in die Geschichte der Bundesrepublik zurückgehen müssen, um die letzte Vereidigung eines Bundeskabinetts zu finden, bei der das so war.

    Die zweite Auffälligkeit ist, daß eine große Mehrheit der Minister promoviert ist.

    Früher einmal war es üblich, in Nachrichtensendungen und dergleichen den Doktorgrad zu erwähnen; jeder kannte den "Doktor Helmut Kohl"; sogar den "Doktor Franz Josef Strauß", auch wenn dieser nur Doktor honoris causa war.

    Heute wird das selten so gehandhabt. Von einigen - z.B. Dr. Franz Josef Jung und Dr. Peter Ramsauer - habe ich erst bei dieser Vereidigung erfahren, daß sie promoviert sind. Nur fünf Minister dieses Kabinetts tragen keinen Doktorgrad; davon haben vier (der Diplom- Volkswirt Brüderle, der Diplom- Verwaltungswirt Niebel und die Juristen Leutheusser- Schnarrenberger und Pofalla) aber ebenfalls ein Studium abgeschlossen.

    Die einzige "Nichtstudierte" in diesem Kabinett ist Ilse Aigner. Dafür hat sie einen für eine Frau ungewöhnlichen Beruf: Sie ist staatlich geprüfte Elektrotechnikerin und war zuletzt mit der Konstruktion der Systemelektronik von Hubschraubern befaßt. Ich könnte mir denken, daß das mehr Intelligenz und Wissen erfordert als manches Studium.



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    27. Oktober 2009

    Zitat des Tages: "Es geht um die Klassenfrage". Dietmar Bartsch im "Neuen Deutschland" über Strategie und Taktik der deutschen Kommunisten

    Ein Mitte-Links-Bündnis kann nur aus der Gesellschaft wachsen – über Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände. Es entsteht zu einem erheblichen Teil auf Straßen und Plätzen, nicht in den Parlamenten. (...)

    Wir legen an Mitgliedern zu, wie keine andere Partei. Denjenigen, die neu hinzukommen, müssen wir etwas bieten, sie müssen auch selbstbestimmt agieren können. Deswegen bin ich dafür, dass die Partei die Hoheit in zentralen politischen Fragen behält und der Maßstab nicht nur das Parlament ist. (...)

    Wir kommen vermutlich sehr schnell überein, die jetzige Gesellschaft zu beschreiben. Und ich bin zuversichtlich, dass wir die Beschreibung unserer Visionen auch gut hinbekommen. Die Schwierigkeit ist der Weg dorthin. Da geht es um Kernbegriffe wie Emanzipation und Demokratie, um Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus, um die Klassenfrage ... (...)

    Für mich ist die Rückgewinnung des Öffentlichen die zentrale Frage, z. B. Belegschaftsbeteiligungen, genossenschaftliches Eigentum, kommunales Eigentum und öffentliche Daseinsvorsorge. Neben Eigentumsfragen kommt der Emanzipation, eigene Interessen in die Hände zu nehmen, besondere Bedeutung zu.


    Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer der Partei "Die Linke" und als Kandidat für deren Vorsitz gehandelt, heute in einem Interview mit der sozialistischen Tageszeitung "Neues Deutschland".


    Kommentar: Diese Zitate zeigen, daß sich an der kommunistischen Strategie und Taktik seit der Zeit der KPD und der DKP nichts Grundsätzliches geändert hat. Man paßt sie nur an die bestehenden Machtverhältnisse an.

    Die Strategie ist es nach wie vor, durch politische Mitarbeit innerhalb des Kapitalismus diesen zu Fall zu bringen und ihn durch ein sozialistisches System zu ersetzten.

    Die Taktik besteht nach wie vor darin, dabei zweigleisig zu fahren:

    Einerseits erobert man Parlamentssitze und wenn irgend möglich Regierungsbeteiligungen, um auf diesem Weg ein Stück Macht innerhalb des Kapitalismus zu bekommen, das man für die Weichenstellung in Richtung Sozialismus braucht. Andererseits wird aber die parlamentarische Arbeit nicht als das Entscheidende gesehen, sondern die Infiltration von gesellschaftlichen Organisationen - "Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände", wie Bartsch sagt.

    Das Ziel ist in der verklausulierten Sprache der Kommunisten die "Emanzipation, eigene Interessen in die Hände zu nehmen". Übersetzt heißt das: Aufbau von Gegenstrukturen, die benötigt werden, um die jetzigen politischen Strukturen, wenn die Zeit dafür gekommen ist, auszuhebeln.

    Sie haben sich kein bißchen verändert, die Kommunisten. Es geht ihnen wie eh und je um "die Klassenfrage"; also um die Machtfrage. Den Sozialismus können sie nur aufbauen, wenn die Macht der jetzigen herrschenden Klasse gebrochen ist. "Wer wen?" hat das Lenin bündig zusammengefaßt.



    Die Partei "Die Linke" ist, wie alle kommunistischen Parteien, die in der "Europäischen Linken" zusammengeschlossen sind (siehe Lothar Bisky, Vorsitzender von zwei Parteien; ZR vom 1. 9. 2008), keine Partei wie alle anderen. Diese anderen wollen innerhalb des bestehenden politischen und sozialen Systems bestimmte Positionen durchsetzen. Die Kommunisten wollen dieses bestehende soziale und politische System durch ein anderes ersetzen.

    Frei heraus sagen sie das nicht. Aber wenn der Spitzen- "Linke" Bartsch seinen Genossen Gabriele Oertel und Jürgen Reents ein Interview für das einstige Zentralorgan der SED gibt, dann kann er schon einmal etwas deutlicher werden.

    Deutlich genug jedenfalls, daß seine Genossen, die es gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen, es schon richtig verstehen.



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    26. Oktober 2009

    Gedanken zu Frankreich (32): Ein Minister für nationale Identität startet eine Debatte über nationale Identität. Nebst Anmerkungen zum Patriotismus der Franzosen.

    Eric Besson ist ein Minister, wie es ihn in Deutschland nicht geben könnte: Erstens gehört er als langjähriger Sozialist der Regierung des Konservativen François Fillon unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy an. Zweitens leitet Besson ein Ministerium, dessen Bezeichnung allein für sich schon ausreichen würde, um in Deutschland einen Aufschrei der Empörung auszulösen: Das Ministère de l'immigration, de l'integration, de l'identité nationale de du developpement solidaire, das Ministerium für Einwanderung, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung.

    Seine Zuständigkeit für die nationale Identität der Franzosen nun hat den Minister Besson veranlaßt, eine Initiative zu starten, die - so zeichnet sich bereits im Lauf des Tages ab - zu heftigen Debatten führen wird. Nachdem Besson diese Initiative gestern schon im Fernsehen angekündigt hatte, lieferte heute sein Ministerium die formale Ankündigung:

    Eric BESSON lance un grand débat sur l’identité nationale

    Eric BESSON, Ministre de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du développement solidaire a décidé l’ouverture le 2 novembre 2009 d’un grand débat sur l’identité nationale. Ce débat sera décliné dans chacune des 100 préfectures de département et des 350 sous-préfectures d’arrondissement, où les réunions seront animées par le corps préfectoral et les parlementaires nationaux et européens. Ces réunions associeront l’ensemble des forces vives de la Nation : mouvements associatifs, enseignants, élèves et parents d’élèves de l’enseignement primaire, secondaire et supérieur, organisations syndicales, représentants des chefs d’entreprises, élus locaux, représentants des anciens combattants et des associations patriotiques.

    Eric BESSON initiiert eine große Debatte zur nationalen Identität


    Der Minister für Einwanderung, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung Eric BESSON hat angeordnet, daß am 2. November eine große Debatte über die nationale Identität eröffnet wird. Diese Debatte wird im einzelnen in jeder Präfektur der Départements und in jeder Unter- Präfektur der Bezirke durchgeführt werden. Die dortigen Versammlungen werden von den Beamten der Präfektur sowie von nationalen und europäischen Parlamentariern moderiert werden. Sie werden die Gesamtheit der lebendigen Kräfte der Nation zusammenführen: Verbände, Lehrende, Schüler und ihre Eltern aus den Grundschulen, den weiterführenden Schulen, den Universitäten, Gewerkschaften, Vertreter der Leitungen von Unternehmen, Lokalpolitiker, Vertreter der Veteranenverbände und patriotischer Vereinigungen.

    Worum es gehen soll, wird dann im einzelnen erläutert. Es seien zwei große Fragen zu besprechen, schreibt der Minister: Was bedeutet es für Sie heute, Franzose zu sein? Zweitens: Wie können wir es besser erreichen, daß diejenigen, die in unser Land kommen und hier bleiben, diese Werte übernehmen?



    Nicht wahr, wer als Minister dergleichen in Deutschland unternehmen würde, der wäre am nächsten Tag weg vom Fenster. Oder vielmehr: So würde sich eben kein deutscher Minister heraushängen, aus dem Fenster. Keiner jedenfalls, der nicht den politischen Suizid plant.

    In dem Land, in dem schon jemand wie Thilo Sarrazin für eine beherzte Darstellung der Verhältnisse, wie sie nun einmal sind, einem Ostrakismos unterworfen wurde, als hätte er die heiligsten Werte der Demokratie besudelt, wird kein Minister es wagen, den Begriff "nationale Identität" auch nur in den Mund zu nehmen; geschweige denn, daß ein Ministerium diese Bezeichnung trägt und ein Minister die damit bezeichnete Aufgabe ernst nimmt, indem er eine öffentliche Debatte über die nationale Identität in die Wege leitet.

    Auch in Frankreich gab es im Lauf des heutigen Tages heftige Reaktionen. Aber niemand hat Besson bisher vorgeworfen, daß er ein Rechtsextremist sei; daß es nicht angehe, Einwanderer zu französisieren oder dergleichen mehr von dem, was in Deutschland unvermeidlich wäre.

    Vorgeworfen wird Besson vielmehr - so kann man aktuell zum Beispiel im Nouvel Observateur lesen, - daß er von der Ausweisung afghanischer Flüchtlinge ablenken wolle (die sozialistische Abgeordnete Elisbath Guigou) oder von der Wirtschaftskrise (der sozialistische Abgeordnete Christian Paul); oder daß er den Patriotismus nicht mit den richtigen Methoden fördere. Man müsse die jungen Franzosen dazu bringen, Frankreich und seine Werte zu lieben, meinte zum Beispiel der sozialistische Europa- Abgeordnete Vincent Peillon, aber nicht durch eine solche Debatte.




    Patriotismus und nationale Identität sind für die Franzosen etwas ganz anderes als für uns Deutsche. In Frankreich ist die nationale Identität ein Wert, der über das gesamte politische Spektrum hinweg hochgehalten wird.

    Niemand käme auf den Gedanken, im Patriotismus etwas politisch Rechtes oder gar Rechtsextremes zu sehen. Schließlich ist die Nationalhymne zugleich das Lied der Revolution gewesen. Das "marchons, marchons!" in der Marseillaise - marschieren wir, marschieren wir! - ist nicht der Aufruf, gegen die Schlösser der Aristokraten zu marschieren, sondern das Vaterland gegen fremde Eindringlinge zu verteidigen, deren "Blut unsere Äcker düngen möge".


    Patrioten sind sie alle, die Franzosen. Für die Assimilation der Einwanderer treten sie fast alle ein, von rechts bis links. Verschiedenheit ja, aber innerhalb der gemeinsamen nationalen Identität.

    Und so haben denn auch die Kommunisten dem Minister Besson wegen seiner Initiative nicht etwa Nationalismus vorgeworfen, sondern eine "Rückkehr des widerwärtigsten Pétainismus". Pétain wird bekanntlich als das Gegenteil eines Patrioten angesehen; er war der Präsident des mit den deutschen Besatzern kollaborierenden Frankreich.


    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt.

    25. Oktober 2009

    Zitat des Tages: "Der Koalitionsvertrag ist nur eine Absichtserklärung". - Ja, was denn sonst?

    Eigentlich ist das ganze doch ein Koalitionsvertrag des dreifachen Vorbehaltes. Einmal unter dem der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, dem des Verschiebens in Kommissionen und schließlich noch dem der angespannten Haushaltslage. So gesehen ist die Koalitionsvereinbarung deshalb auch gar kein richtiger Vertrag. Ein Vertrag muss ja rechtsgültige und nachprüfbare Positionen haben. Hier haben wir es mehr mit einem Scheingebilde zu tun, das mehr den Charakter einer Absichtserklärung hat.

    Wolfgang Schroeder, Professor für Politik an der Universität Kassel, gestern gegenüber der Tagesschau zum Koalitionsvertrag.

    Kommentar: Der Professor aus Kassel steht mit seiner Kritik nicht allein. Von der taz genannten "Tageszeitung" ("vage Absichtserklärungen") bis zu "Bild" ("vage formulierte Absichtserklärung") findet man diesen Vorwurf in den Reaktionen auf den Koalitionsvertrag.

    Es stimmt, der Koalitionsvertrag enthält Absichtserklärungen. Oft sind sie allgemein gehalten; wenn man so will, sind sie vage. Auch das stimmt.

    Zum Glück stimmt es. Denn das, was man so "Koalitionsvertrag" nennt, ist kein Vertrag. Wie sollte er es auch sein?

    Das Grundgesetz kennt weder einen Koalitionsvertrag noch einen Koalitionsausschuß. Beides gab es auch in der Bundesrepublik zunächst nicht; bis zu den Wahlen zur Vierten Legislaturperiode 1961.

    Damals hatte die FDP unter Erich Mende mit dem Versprechen Wahlkampf gemacht, sie wolle mit der Union koalieren, aber nicht unter Adenauer (der seit 1957 mit absoluter Mehrheit regiert hatte). Adenauers Verzicht auf das Kanzleramt konnte sie aber in den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen; denn Adenauer brachte schlitzohrig die Möglichkeit ins Spiel, er könne ja auch mit der SPD koalieren.

    Mende mußte den Kanzler Adenauer akzeptieren, wollte er überhaupt mitregieren. Um nach diesem "Umfallen", das der FDP bis heute anhängt, nicht vollends von Adenauer über den Tisch gezogen zu werden, beharrte Mende darauf, Adenauers Zusagen zur Politik der neuen Regierung schriftlich zu fixieren.

    Wie chaotisch es dabei zuging - wie zum Beispiel Adenauer in einer Phase die Verbindlichkeit des Papiers schlicht in Abrede stellte ("Dat is ne FDP-Papier, ein schlechtes Papier") - , das kann man im "Spiegel" vom 1. 11. 1961 nachlesen. Sehr amüsant.

    Der Koalitionsvertrag war damals als ein internes Papier gedacht; ein Ergebnisprotokoll der Verhandlungen. Angefertigt wurde es aufgrund von handschriftlichen Protokollnotizen und anderen Materialen vom damaligen Fraktionsanwalt der FDP, einem gewissen Hans-Dietrich Genscher; danach mehrfach überarbeitet, bis auch die Union es akzeptierte.

    Daß dies der Keim zu den mehr als hundert Seiten umfassenden "Verträgen" sein würde, wie sie heute wochenlang ausgehandelt und anschließend triumphierend der Öffentlichkeit übergeben werden, das konnte sich damals vermutlich niemand vorstellen.

    Am Charakter eines solchen Protokolls, das eben nur dieses ist und kein Vertrag, hat sich damit aber nichts geändert. Gesetze werden - man muß wohl daran erinnern, daß das Grundgesetz es so vorsieht - vom Bundestag beschlossen, unter Mitwirkung des Bundesrats.

    Niemand kann die frei gewählten Abgeordneten verpflichten, gar vertraglich verpflichten, auch nur eines der in dem Koalitionsvertrag genannten Ziele in Gesetzesform zu gießen. Die Führungen der beteiligten Parteien haben in dem Protokoll festgehalten, was sie in den kommenden vier Jahren anstreben; sie haben Absichtserklärungen abgegeben. Mehr nicht.

    Jetzt konstituiert sich erst einmal der Bundestag, und dann wählt er den Kanzler, der eine Kanzlerin sein wird. Die Kanzlerin wird dann eine Regierungserklärung abgeben. Diese legt fest, welche Ziele die Regierung unter der Richtlinienkompetenz dieser Kanzlerin in dieser Legislaturperiode verfolgen wird. Und nicht das Verhandlungsprotokoll, das den irreführenden Namen "Koalitionsvertrag" trägt.



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    24. Oktober 2009

    Marginalie: Wie kommt es zu einem tödlichen Verlauf der Schweinegrippe? Warum sind davon vor allem Jüngere betroffen?

    Die Schweinegrippe verläuft bisher meist glimpflich.

    Die Epidemie, die in Deutschland nach dem ersten Infektionen im Juni und dann wieder nach der Rückkehr infizierter Urlauber im Sommer befürchtet worden war, ist ausgeblieben.

    Wir Deutschen gehören nach einer internationalen Umfrage zu denjenigen, die weltweit am wenigsten Angst vor der Schweinegrippe haben; siehe German angst? Das war einmal. La peur française! Wer fürchtet sich vor der Schweinegrippe?, ZR vom 18. 7. 2009.

    Kein Wunder, daß jetzt die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, nicht sehr hoch ist. Dazu heute "Welt- Online"
    :... kurz vor Beginn der Impfung gegen die Schweinegrippe sinkt in der Bevölkerung die Bereitschaft, sich überhaupt impfen zu lassen. Die öffentliche Diskussion über die Sicherheit der Impfstoffe hat die Menschen verunsichert und dazu geführt, dass zwei von drei Bundesbürgern eine Impfung kategorisch ablehnen. 85 Prozent der Bevölkerung halten die Gefahr durch die Schweinegrippe mittlerweile sogar für übertrieben, wie eine aktuelle Emnid-Umfrage zeigt. (...) In Berlin weigern sich Ärzte, ihre Patienten zu impfen, weil ihnen diese Leistung mit nur 5,50 Euro vergütet werden soll. Sie fordern 7,10 Euro.
    Es kann gut sein, daß diese Sorglosigkeit zu keinen schlimmen Folgen führen wird. Nur ist sie ein Vabanquespiel. Die Wissenschaft kann bei solchen komplexen, von vielen Faktoren und vom Zufall abhängenden Prozessen wie der Ausbreitung und der Veränderung eines Virus keine sichere Vorhersagen machen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten angeben; siehe Vogelgrippe, Schweinegrippe. Anmerkung zu Leistungen und Grenzen wissenschaftlicher Vorhersagen; ZR vom 29. 4. 2009.

    Auf sichererem Grund bewegen sich die Wissenschaftler bei der Beantwortung der Frage, warum man eigentlich an einer Infektion mit H1N1 sterben kann. Über die aktuelle Forschung dazu berichtet jetzt Nathan Seppa im Wissenschaftsmagazin Science News (Bd. 176, Nr. 10, 7. November 2009, S. 13).

    Drei neue Untersuchungen, die in den vergangenen Monaten in Kanada, Mexiko, Australien und Neuseeland durchgeführt wurden, kommen in zwei Punkten zu übereinstimmenden Ergebnissen:

    Erstens sterben an der Schweinegrippe überwiegend nicht alte Menschen oder Kinder, sondern Erwachsene im Alter von um 30 bis 50 Jahren.

    Zweitens ist die Todesursache eine Einschränkung der Lungenfunktion, die zu einem Absinken des Sauerstoffs im Blut führt. Als Folge davon werden alle Organe mit Sauerstoff unterversorgt. Der Patient stirbt an Schock oder allgemeinem Organversagen.



    Der Krankheitsverlauf beginnt in diesen schweren Fällen mit einer Lungenentzündung, die durch die Ansammlung von Flüssigkeit im Blut und in den Atemwegen, teils auch durch Lungenblutungen, dazu führt, daß die Lunge immer weniger von dem eingeatmeten Sauerstoff in die Blutbahn abgeben kann. "Der Patient kann noch atmen, aber das Atmen bleibt wirkungslos", formulierte es einer der beteiligten Wissenschaftler.

    Durch mechanische Beatmung kann ein Teil der Patienten gerettet werden. Auch Künstliche Lungen werden, sofern verfügbar, eingesetzt, die in den Blutkreislauf eingeschaltet werden und das Blut anstelle der Lunge mit Sauerstoff anreichern.

    Die Daten aus allen drei Untersuchungen sind sehr ähnlich: Die kanadische Untersuchung umfaßte 168 schwer erkrankte Patienten mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren, von denen 17 Prozent starben. In der Untersuchung, die in Australien und Neuseeland durchgeführt wurde, starben 21 Prozent der 68 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 34 Jahren. In der Untersuchung in Mexiko lag die Sterblichkeit in der Gruppe von 58 schwer an der Schweinegrippe erkrankten Patienten bei 41 Prozent; das Durchschnittsalter war hier 44 Jahre.

    Wie kommt es, daß ein solcher schwerer, bei einem Teil der Patienten tödlicher Verlauf sich vor allem in dieser eher jüngeren Altersgruppe findet? Vermutet wird, daß ältere Menschen von früheren Infektionen her eine Rest- Immunität haben, die sich auch auf den H1N1-Virus auswirkt. Warum auch bei Kindern ein schwerer Verlauf seltener ist als in der Gruppe der Hauptbetroffenen, ist noch unbekannt.

    Was folgt aus diesen Untersuchungen für die Praxis? Einer der beteiligter Wissenschaftler, Robert Fowler von der Universität Toronto, der die kanadische Untersuchung leitete, meinte dazu gegenüber dem Autor Nathan Seppa:
    These papers teach us that in the subset of patients with critical illness due to H1N1, the patients can deteriorate very quickly. But with early recognition of the disease, prompt treatment and capacity for aggressive life-support and rescue therapies for oxygenation failure, mortality can be limited.

    Diese Veröffentlichungen sagen uns, daß in der Teilgruppe der Patienten, die durch H1N1 lebensgefährlich erkranken, sich der Zustand sehr schnell verschlechtern kann. Aber bei einer frühen Erkennung der Erkrankung, schneller Behandlung und der Verfügbarkeit von aggressiven Therapien, die beim Versagen der Sauerstoffversorgung lebenserhaltend und lebensrettend eingesetzt werden können, kann die Sterblichkeit in Grenzen gehalten werden.
    Ein tödlicher Verlauf ist seltener (etwa im Verhältnis 1:7), wenn der Patient rechtzeitig mit Tamiflu behandelt worden war. Und natürlich kann man die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines tödlichen Verlaufs einer H1N1- Infektion zu werden, drastisch senken, indem man sich impfen läßt.

    Zwei Drittel der Deutschen scheinen aber, jedenfalls im Augenblick, das Vabanque- Spiel vorzuziehen.



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    23. Oktober 2009

    Marginale: Das zweite Kabinett Merkel trägt ihre Handschrift: Ohne Glanz, aber auch ohne Patzer

    Vor einer Stunde, um 18.20 Uhr, hat dpa das gemeldet, was wohl die tatsächliche Kabinettsliste sein wird.

    Sie trägt die Handschrift der Kanzlerin: Ohne Glanz, aber auch ohne einen erkennbaren Patzer. Jedem traue ich das Ressort zu, das er jetzt also bekommen wird.

    Das ist keineswegs selbstverständlich. Daß - um nur zwei Beispiele zu nennen - im anfänglichen schwarzroten Kabinett Michael Glos als Wirtschaftsminister ebenso überfordert sein würde wie der Winzer Franz Josef Jung mit dem Verteidigungsministerium, war abzusehen gewesen. Ebenso, daß altgediente Linksaußen wie Heidemarie Wieczorek- Zeul und Ulla Schmidt eine ideologisch bestimmte Amtsführung pflegen würden.

    Nichts dergleichen jetzt. Einige Entscheidungen der Kanzlerin sind geradezu ein Aha-Erlebnis: Ja, natürlich, das paßt!

    Der sture Konservative Schäuble, ein Mann auch mit einem Hintergrund als Finanzfachmann: Kein Finanzminister seit Adenauers Fritz Schäffer (der mit dem Juliusturm) wird so beharrlich auf Sparsamkeit dringen und sich auch durchzusetzen wissen.

    Guttenberg im Verteidigungsministerium: Ein Mann, der sich auf dem internationalen Parkett bewegen kann; und Verteidigungspolitik ist ja heute zu einem erheblichen Teil Internationale Politik. Einer auch, dem man es zutraut, die nötige Modernisierung der Bundeswehr hinzubekommen.

    Brüderle als Nachfolger Guttenbergs im Ministerium für Wirtschaft: Gewiß ein Mann ohne dessen Glamour; wie er sich auf der internationalen Ebene bewährt, wird man sehen müssen. Aber seine Berufung ist ein klares Signal, daß die Wirtschaftspolitik nicht nur darin besteht, den Interessen von Gewerkschaften und Großindustrie Genüge zu tun; daß der Mittelstand endlich die Förderung bekommen wird, die er dringend braucht.

    De Maizère Innenminister: Ausgezeichnet. Liberaler als Schäuble, aber als bisheriger Koordinator der Geheimdienste zugleich bestens mit den Anforderungen der Sicherheitspolitik vertraut.

    Philip Rösler: Der Shooting Star der FDP wird gleich mit dem schwierigen Amt des Gesundheitsministers betraut. Vom Fach her maßgeschneidert für den Mediziner. Ob er es schafft, sich im Haifischbecken der Interessengruppen durchzusetzen, wird er zeigen müssen. Wenn er es kann, ist er für jedes Amt gut.



    Sodann rückten Politiker ins Kabinett vor, die schon lange als ministrabel feststanden: Peter Ramsauer (Verkehr), Norbert Röttgen (Umwelt), Ronald Pofalla (Kanzleramt). Und es erhielten Diejenigen ihr Ressort, die schon gesetzt waren: Westerwelle für das Auswärtige Amt, Leutheuser- Schnarrenberger für das Justizministerium.

    Nur drei Minister behielten ihr Ressort: Schavan für Wissenschaft; von der Leyen für Familie, aber um die Zuständigkeit für Soziales erweitert; Aigner für Landwirtschaft. Daß sie sich dort jeweils ungewöhnlich gut bewährt hätten, wird man nicht sagen können. Eher dürften hier Proporz, persönliche Nähe zur Kanzlerin und natürlich auch die unausgesprochene Frauenquote eine Rolle gespielt haben.

    Bleiben noch zwei Ressorts zu erwähnen:

    Franz Josef Jung wird Arbeitsminister, aber mit einem verkleinerten Ressort. Ob das eine glückliche Wahl ist, weiß ich nicht. Der Arbeitsminister soll die Interessen der Arbeitnehmer am Kabinettstisch vertreten. Das war so, seit Adenauers Arbeitsminister der Gewerkschafter Anton Storch war. Ein Mittelständler wird es in diesem Amt nicht leicht haben. Hatten denn die CDU- Sozialausschüsse niemanden anzubieten?

    Für mich die größte Überraschung war, daß Dirk Niebel Minister für Entwicklungshilfe wird. Ich hätte ihn gern weiter als Generalsekretär der FDP gesehen. Dort hatte er ein wichtiges Amt. Daß die Übernahme eines überflüssigen Ressorts für ihn ein Aufstieg ist, kann ich nicht sehen.



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    Zitat des Tages: Thilo Sarrazin und ein Käfig voller Feiglinge. Peter Sloterdijk und der Zeitgeist

    Denken wir an den entlarvenden Vorgang, der sich vor wenigen Wochen anlässlich einiger kantiger Formulierungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin entwickelt hat: Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandende Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen, ging die ganze Szene der deutschen Berufsempörer auf die Barrikaden, um ihm zu signalisieren: Solche Deutlichkeiten sind unerwünscht. Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer- Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen.

    Peter Sloterdijk im November- Heft von "Cicero", auszugsweise zitiert in "Cicero- Online".

    Kommentar: Bemerkenswert ist nicht das, was in dieser Passage gesagt wird. Viele haben es so oder ähnlich gesagt; einige dieser Stimmen - die von Hans-Olaf Henkel, Fatina Keilani, Bettina Röhl und Volker Zastrow - habe ich hier vor drei Wochen zusammengestellt (Der "Fall" Thilo Sarrazin: Einige Fakten und Materialien. Über die Freiheit des Wortes und die Liberalität unserer Gesellschaft; ZR. vom 6. 10. 2009).

    Bemerkenswert erscheint mir aber, daß es Peter Sloterdijk ist, der das sagt. Kaum jemand hat so ein feines Gespür für den Zeitgeist, für Stimmungen und Trends wie Peter Sloterdijk.

    Ich hatte schon in der akuten Phase der Sarrazin- Debatte zunehmend den Eindruck, daß die, wie Sloterdijk sie nennt, "Szene der deutschen Berufsempörer" es nicht mehr so recht fertigbrachte, Andersdenkende mittels dafür geeigneter Etikettierungen hinaus aus dem öffentlichen Diskurs zu befördern.

    Wenn jetzt Sloterdijk, der Mann mit dem feinen Sensorium, sich gegen die Sarrazin- Kritiker stellt, dann deutet das wohl wirklich auf einen Wandel des Zeitgeists hin.

    Vielleicht war es doch eine List der Vernunft, daß wir uns gerade jetzt eine liberalkonservative Regierung gewählt haben.



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    22. Oktober 2009

    Marginalie: Beginn mit einer Bauchlandung? Der schlechte Start von Schwarzgelb

    Über die Koalitionsverhandlungen, über die täglichen Wasserstandsmeldungen zum Stand der Beratungen, über die Spekulationen dazu, wer im neuen Kabinett was werden will, werden wird, nicht werden darf - darüber stand in diesem Blog in den vergangenen Wochen nichts.

    Ich bin der Meinung, daß man erst einmal abwarten soll, worauf sich die Partner denn einigen. Was im Lauf von Verhandlungen an die Presse lanciert, was vertrauten Journalisten in Hintergrund- Gesprächen off the record zugesteckt wird - das dient in der Regel ja ohnehin mehr der Stärkung der eigenen Verhandlungsposition als der Information der Öffentlichkeit.

    Aber daß diese neue Regierung keinen guten Start hingelegt hat, das zeichnete sich doch in diesen nun schon fast vier Wochen seit dem Wahlsieg ab. Aus allen den Details, die herausdrangen und die durchsickerten, lassen sich beim besten Willen nicht die Konturen eines stimmigen, eines überzeugenden Neuanfangs formen.



    Wenn bisher eine neue Koalition ihre Arbeit aufnahm (und wenn es nicht nur eine Übergangskoalition war wie die beiden Großen Koalitionen), dann war man bemüht, von Anfang an Profil zu zeigen: Willy Brandts "mehr Demokratie wagen" in seiner Regierungserklärung; Helmut Kohls "geistig- moralische Wende"; die vollmundig verkündete "ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft", als Rotgrün an die Macht gekommen war.

    Nichts dergleichen hören wir diesmal. Nichts ist bisher da von der Aufbruchsstimmung, wie sie herrschte, als Brandt, Kohl und Schröder die Kanzlerschaft übernahmen. Fast hat man den Eindruck, es habe sich kaum etwas geändert. Business as usual, nur in einer neuen Konstellation.

    Alles läuft wie gewohnt: Vor allem auch, was das schlechte Bild in der Öffentlichkeit angeht. Nichts wäre für die neue Regierung so dringlich gewesen wie eine schonungslos ehrliche Eröffnungsbilanz. Nichts wäre notwendiger gewesen, als daß man auf diese Weise entschlossen und überzeugend der sich ausbreitenden Meinung entgegentritt, die Regierenden würden tricksen und trügen.

    Und dann das: Wie jetzt gemeldet wird, haben Juristen des Kanzleramts Zweifel daran zu Protokoll gegeben, daß der geplante Schattenhaushalt, über den die Defizite der Sozialsysteme auf Pump finanziert werden sollten, überhaupt grundgesetzkonform ist.

    Dicker kann es kaum noch kommen. "Wir wollen nicht mit einer Bauchlandung die Regierungsarbeit starten", sagte ein ungenannter FDP- Unterhändler laut "Welt". Eine Bauchlandung ist es vielleicht noch nicht; aber daß man problemlos von der Rollbahn abhebt, ist auch nicht zu erkennen.

    Man kann nur hoffen, daß die neue Mannschaft ihren schlechten Start schnell hinter sich läßt. Streng genommen ist man - um in der Metapher vom Flughafen zum Fußballstadion zu wechseln - ja noch beim Warmlaufen; die erste Halbzeit hat noch gar nicht begonnen.



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    Marginalie: Henryk M. Broder als Präsident des Zentralrats der Juden? Das wäre eine schöne Fehlbesetzung!

    Daß Henryk M. Broder der nächste Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland werden wird, halte ich für ungefähr so wahrscheinlich, wie daß Angela Merkel demnächst das Training der deutschen Fußball- Nationalmannschaft der Frauen übernimmt.

    Es ist wahr, Broder hat gestern seine Kippa in den Ring geworfen, wie er es formuliert. Er will, schreibt er, Präsident des ZdJ werden.

    Es ist auch wahr, daß Broder ein ausgezeichneter Journalist ist; nach meinem Dafürhalten einer der besten in Deutschland. Ein Mann der treffenden, der oft entlarvenden Ironie. Das hat er mit Karl Kraus gemeinsam, wie auch die meisterliche Beherrschung der deutschen Sprache.

    Noch dazu ein Journalist, den der Zeitgeist nicht kümmert. Oder sagen wir: der ihn mehr selbst geprägt hat, also daß er ihm hinterherlaufen würde. Das Wort von den Gutmenschen hat er populär gemacht, vielleicht sogar erfunden. Kaum einer hat mehr zur Entlarvung des Links- Philistertums beigetragen; kaum jemand hat uns mehr dazu verholfen, einen realistischen Blick auf den Konflikt im Nahen Osten zu gewinnen.

    Auch was er gestern zur Begründung seiner Kandidatur über ZdJ geschrieben hat, finde ich ausgezeichnet. Lesen Sie es! Lesen Sie, was Broder zu der lächerlichen Attacke Kramers auf Sarrazin schreibt, zu der Neigung des ZdJ unter seiner heutigen Leitung, "sich als das gute Gewissen Deutschlands aufzuführen". Ausgezeichnet.



    Nur - macht das Broder geeignet, einen Verband zu führen? Wäre er wirklich der richtige Nachfolger von Werner Nachmann, Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Paul Spiegel; sie alle Männer des Ausgleichs? Leise, sich selbst zurücknehmende Männer, die diese nicht eben sehr homogene Gemeinschaft von ungefähr 120.000 Menschen zusammenzuhalten, die sie nach Außen hin mit Würde und Zurückhaltung zu vertreten wußten.

    Glaubt Henryk M.Broder wirklich, daß er selbst - der geborene Maverick, ein Feuerkopf und manchmal ein Hitzkopf, ein Individualist kat exhochen, ein begnadeter Polemiker vor dem Herrn - daß so jemand der Richtige ist, um diese Aufgaben wahrzunehmen?

    Ich kann das nicht glauben. Viel eher denke ich, daß Broder, dieser alte Medienfuchs, einmal einige Wahrheiten unter die Leute bringen wollte; und zwar so, daß sie auch gehört werden.

    Hätte er einfach nur einen Artikel im "Tagesspiegel" geschrieben, dann wäre seine Kritik vermutlich auf allenfalls moderaten Widerhall gestoßen. Indem er den Text mit der Ankündigung seiner Kandidatur verband, hat er eine Nachricht produziert, die jetzt durch die Agenturen geht, die überall gemeldet werden wird.

    Und wenn sie ihn dann am Ende wirklich wählen sollten, den Broder - dann kann er sich ja immer noch überlegen, ob er es machen will.

    Er hätte intellektuell das Zeug zum Chefredakteur einer erstklassigen Zeitschrift gehabt; er ist beim "Spiegel" nicht einmal Ressortleiter geworden. Ich nehme an, weil ihn das Nichtjournalistische, das Administrative, der ganze Wust an Routine, der mit solchen Funktionen verbunden ist, nicht interessierte.

    Und da soll er ernsthaft vorhaben, sich ins Büro im Leo- Baeck- Haus in Berlin zu setzen und über Etatberatungen zu präsidieren, Streitigkeiten zu schlichten, Mittel einzuwerben, Besucher zu empfangen, Ausstellungen zu eröffnen, auf dieser und jener Veranstaltung die jüdischen Gemeinden zu repräsentieren und die Honneurs zu machen?

    Ich kann's mir nicht vorstellen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Calimero.

    21. Oktober 2009

    Kurioses, kurz kommentiert: "Das Anthroposystem ist ein dualistisches Holon". Über gedrechseltes Öko-Geschwätz

    Auch die Menschheit mit allen ihren Institutionen und Aktivitäten, nennen wir sie Anthroposystem, ist ein dualistisches Holon. Zugegeben eines, welchem durch einzigartiges und extrem beschleunigtes Wachstum außergewöhnliche Veränderungen gelungen sind. Es hat wahrhaftig Grenzen durchbrochen bzw. verschoben. Vor der kulturellen Evolution war der Mensch als "normales Tier" Teil eines lokalen bzw. regionalen ostafrikanischen Ökosystems.

    Doch haben sich die Vorfahren des heutigen Menschen im Zeitalter des Pleistozäns mit Hilfe immer vielfältigerer Technologie und letztlich dem Kunstgriff der Benutzung fossiler Energieträger von den Fesseln jener Savannensysteme befreit und sich in Stoff- und Energieflüsse praktisch aller Ökosysteme der Erde eingeklinkt. Durch Wachstum, Komplexifizierung und Globalisierung des dabei entstehenden Anthroposystems und vieler in ihm immerzu neu entstehenden Teilsysteme, wie etwa Staaten, Staatenverbünde, Finanz- und Wirtschafts- oder Informationssysteme, ist der Menschheit einiges abhanden gekommen: vor allem das Gespür für die Abhängigkeit von Systemen höherer Ordnung sowie für die Grenzen des Wachstums.


    Aus einem Artikel von Pierre Ibisch und Lars Schmidt, der vorgestern in "Zeit- Online" erschien.

    Kommentar: Haben Sie das verstanden? Wenn nicht, dann bemühen Sie sich nicht; es lohnt die Mühe nicht. Die Autoren wollen, so scheint es mir jedenfalls, mit diesen aufgeplusterten Sätzen sagen: Der Mensch ist kein Tier mehr. Er ist ein Kulturwesen; und die menschliche Kultur hat sich über den ganzen Erdball ausgebreitet. Diese Ausbreitung hat zu Problemen geführt.

    Ja, so ist es. Jeder weiß es, der, sagen wir, den Hauptschulabschluß geschafft hat. Die beiden Autoren - der eine laut Vorspann Professor an der Fachhochschule Eberswalde und der andere Mitarbeiter des "Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik" - sagen es aber derart, daß vermutlich Viele mit Hochschulabschluß es nicht auf Anhieb verstehen.

    Ist das Imponiergehabe? Ist es das Unvermögen, sich verständlich auszudrücken? Vielleicht beides. Je weniger jemand mitzuteilen hat, umso mehr mag er dazu neigen, seine gedanklichen Blößen mit sprachlichem Zierat zu bedecken.

    Nur - und das scheint mir das Kuriose zu sein -: Früher erschien solches gedrechseltes Geschwätz auf der Seite "Interessantes und Besinnliches" in der Wochenendausgabe des Kreisblatts oder des Lokalanzeigers. Heute findet man es im Internetauftritt des Wochenblatts, das einmal das intellektuell führende in Deutschland war.



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    20. Oktober 2009

    "Entwicklungshilfe begünstigt die Unterentwicklung". Die provokanten Thesen von Dambisa Moyo

    Dambisa Moyo ist eine bemerkenswerte Frau. Sie wurde in Sambia geboren und ist dort aufgewachsen. Studiert hat sie in Oxford und dort ihr Studium der Volkswirtschaft mit der Promotion abgeschlossen; in Harvard, wo sie einen Mastergrad erwarb; und in Washington, wo sie einen weiteren Master in Ökonomie machte, und noch dazu den Bachelor in Chemie.

    So ausgebildet, arbeitete sie bei der Weltbank und sieben Jahre im Bankhaus Goldman Sachs. Das freilich hätte nicht dafür ausgereicht, daß sie vom Time Magazine in diesem Jahr unter die hundert einflußreichsten Menschen der Welt gewählt wurde.

    Das verdankt sie einem Buch, das in diesem Frühjahr erschien und schnell zu einem Bestseller wurde: Dead Aid ("Tote Hilfe"; eine Übersetzung ins Deutsche ist bisher nicht erschienen). Darin vertritt Moyo eine ebenso simple wie provokative These: Entwicklungshilfe ist nicht nur nicht hilfreich, sondern sie ist schädlich.

    Aufmerksam geworden bin ich auf Dambisa Moyo erst jetzt, und zwar durch ein Interview im aktuellen Nouvel Observateur (Nr. 2345 vom 15. Oktober 2009). Mir scheint, daß ihre Thesen es zumindest verdienen, ernst genommen und diskutiert zu werden.

    Moyos Ausgangspunkt ist ein empirischer: Sie notiert nüchtern, daß es in Afrika in dem Maß bergab ging, in dem es mit Entwicklungshilfe überhäuft wurde:
    ... l'octroi à l'Afrique de milliards de dollars chaque année aggrave la pauvreté - entre 1970 et 1998, quand le flux de l'aide était à son maximum, le taux de pauvreté sur le continent africain est passé de 10 à 66% - et favorise le sous- développement par bien des aspects.

    ... das Aufdrängen von Milliarden von Dollar jedes Jahr verschlimmert die Armut - zwischen 1970 und 1998, als der Fluß der Hilfe sein Maximum erreichte, ist die Armutsrate auf dem afrikanischen Kontinent von 10 auf 66 Prozent gestiegen - und begünstigt die Unterentwicklung in einer Reihe von Hinsichten
    Nun besagt eine Korrelation für sich genommen noch nichts über die Richtung der Kausalität. Wenn Entwicklungshilfe mit wachsender Armut einhergeht, dann könnte es ja auch so sein, daß mehr Armut mehr Entwicklungshilfe verlangte; diese aber nicht ausreichend war. Kevin Watkins von der UNO meinte, Moyos Argumentation sei so, als würde man den Löschzug für das Feuer verantwortlich machen, weil er sich nah bei diesem aufhält.

    Aber diese Kritik greift zu kurz. Moyo weist nicht nur auf den Sachverhalt hin, daß Jahrzehnte massiver Entwicklungshilfe Afrika keinen Schritt aus der Armut herausgebracht haben, sondern sie nennt auch plausible Gründe, warum das so ist:
    L'aide encourage la corruption, génère de l'inflation, crée une dette massive et retarde la croissance. Elle accroît l'instabilité politique dans des pays où des factions rivales se battent pour prendre le pouvoir et ainsi accéder à cette manne financière.

    Die Hilfe lädt zur Korruption ein, erzeugt Inflation, schafft massive Schulden und verlangsamt das Wachstum. Sie verstärkt die politische Instabilität in Ländern, in denen rivalisierende Fraktionen einander bekämpfen, um an die Macht zu gelangen und damit Zugang zu diesem finanziellen Manna zu erlangen.
    Das sei, sagt Moyo, den Fachleuten bei der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond und in den internationalen Organisationen wohlbekannt. Aber niemand traue sich, es auszusprechen.

    Warum drängen die reichen Länder dennoch den Ländern Afrikas diese für sie nur schädliche Entwicklungshilfe auf? Moyo nennt zwei Gründe: Zum einen sei das für die reichen Länder günstiger, als ihre Märkte für afrikanische Agrarprodukte zu öffnen, was die Landwirtschaften der Reichen gefährden würde. Und zweitens sei die Entwicklungshilfe ein Anliegen wohlmeinender linker Wähler, dem die Regierungen nachgeben würden.



    Was also tun? Moyo lehnt keineswegs Hilfen pauschal ab. Zum einen ist sie, was sich versteht, nicht gegen humanitäre Hilfe bei Katastrophen, Hungersnöten, bei der Bekämpfung von AIDS und dergleichen. Dies ist ja etwas anderes als Entwicklungshilfe.

    Zweitens hält sie auch wirtschaftliche Hilfe für nicht grundsätzlich kontraproduktiv. Aber es müßten zeitlich begrenzte, zielgerichtete Hilfen sein, deren Funktion es ist, die Infrastruktur zu verbessern und die Wirtschaft in Gang zu bringen; in der Art des Marshallplans.

    Eine einmalig gegebene Spritze also; nicht ein Tropf, an dem der Patient auf unbestimmte Zeit hängt. Entscheidend ist, meint Moyo, daß der Empfänger weiß, wann es mit der Hilfe vorbei sein wird. Entweder er hat sie dann genutzt, um sich selbst zu helfen, oder er muß die Folgen seiner Untätigkeit tragen.

    Solche punktuellen Hilfen können nützlich sein. Als entscheidend aber sieht Dambisa Moyo es an, daß die Bedingungen für Investitionen und für den Handel in Afrika verbessert werden. Es fehlen mit wenigen Ausnahmen (Südafrika zum Beispiel) große Wirtschaftsräume. Viele Kleinstaaten (ihr eigenes Land Sambia hat zehn Millionen Einwohner) existieren abgeschottet nebeneinander, mit jeweils eigenen Währungen und hohen Zollschranken; mit Visapflicht, wenn man von einem Land ins andere reisen will.

    Am ehesten seien die Chinesen bereit, trotz dieser widrigen Rahmenbedingungen in Afrika zu investieren. Und umgekehrt sei China für Afrikas Exporte interessant, weil es - anders als die USA und Europa - keine Landwirtschaft hat, die eine Selbstversorgung ermöglicht und die ein Interesse daran hat, sich der afrikanischen Konkurrenz zu entziehen.



    Mir leuchten Moyos Thesen ein, weil sie am Beispiel der Entwicklungshilfe für Afrika etwas benennen, was ja ein allgemeines, übergreifendes Phänomen ist: Wenn man jederzeit auf Hilfe rechnen kann, statt sich selbst anzustrengen, dann fehlt der Anreiz zur Anstrengung.

    Das ist beim einzelnen Bürger, der in der sozialen Hängematte ruht, nicht anders als bei ganzen Staaten und Gesellschaften. Die Geschicklichkeit wird dann daran gewendet, die Hilfe weiter fließen zu lassen und möglichst viel davon zu ergattern; nicht darauf, sich auf eigene Beine zu stellen und damit die Hilfe überflüssig zu machen.

    Ein instruktives Beispiel hat Thilo Sarrazin gegeben; siehe Der "Fall" Thilo Sarrazin: Einige Fakten und Materialien; ZR vom 6. 10. 2009:
    In den USA müssen Einwanderer arbeiten, weil sie kein Geld bekommen, und werden deshalb viel besser integriert. Man hat Studien zu arabischen Ausländergruppen aus demselben Clan gemacht; ein Teil geht nach Schweden mit unserem Sozialsystem, ein anderer Teil geht nach Chicago. Dieselbe Sippe ist nach zwanzig Jahren in Schweden immer noch frustriert und arbeitslos, in Chicago hingegen integriert. Der Druck des Arbeitsmarktes, der Zwang des Broterwerbs sorgen dafür.
    So ist es bei Individuen; so ist es bei Staaten. Die wohlmeinenden Helfer erreichen als einzig Positives, daß sie selbst sich gut und selbstlos fühlen dürfen. Den Empfängern ihrer Wohltaten schaden sie.

    In meiner am Wahlsonntag skizzierten schwarzgelben Kabinettsliste (ZR vom 27. 9. 2009) gibt es kein Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe; dessen Aufgaben können gut zwischen dem Außen- und dem Wirtschaftsministerium aufgeteilt werden. Im Außenministerium hätte man zu prüfen, die Förderung welcher Länder im deutschen außenpolitischen Interesse liegt. Die Fachleute des Wirtschaftsministeriums hätten zu befinden, mit welchen gezielten und zeitlich begrenzten Maßnahmen die Wirtschaft dieser Länder am besten vorangebracht werden kann.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Public Domain, durch Wikimedia OTRS bestätigt.

    19. Oktober 2009

    Zettels Meckerecke: Wallraff der Lügner, zum zweiten

    Bei "Zeit- Online" steht im Augenblick auf Platz eins in der Liste der meistgelesenen Artikel ein Beitrag aus dem aktuellen "Zeit- Magazin": "In fremder Haut" von Günter Wallraff.

    In diesem Artikel schildert Wallraff, wie er sich von einer Maskenbildnerin eine schwarze Haut hatte verpassen lassen (nicht überall; aber dort, wo die Haut aus den Kleidern guckt) und wie er dann als "Schwarzer" in Deutschland umherfuhr. Ein ganzes Jahr lang tat er das. Warum?

    Wer Wallraff kennt - mir ist er erstmals als Autor von "Pardon" begegnet, in den siebziger Jahren -, der wird eine starke Vermutung haben: Er war unterwegs, um zu zeigen, wie schlecht Schwarze in Deutschland behandelt werden.

    Denn wann immer Wallraff bisher in, wie man so sagt, "eine Rolle schlüpfte", war das Ergebnis ein Artikel oder ein Buch über die Schlechtigkeit der Welt; speziell im Kapitalismus. Man muß nicht sehr kühn extrapolieren, um vorherzusagen, daß er auch in dieser neuen Rolle des Schwarzen nur Schlimmes erlebt hat.

    Er selbst sieht das freilich anders. Nein, er recherchierte, weil er eine Frage hatte:
    Ich will herausfinden, wie es sich als Schwarzer in Deutschland lebt, ob die Vorstellung vom unverbesserlich fremdenfeindlichen deutschen Wesen nur noch ein Klischee ist – oder ob das von der Boulevardpresse gepflegte Schreckbild vom Schwarzen als Dealer, Asylbetrüger und Kriminellen die Stimmung im Lande kennzeichnet.
    Gelacht hätte ich ja, wenn als Ergebnis des einjährigen Feldversuchs herausgekommen wäre, daß alles in allem die Deutschen mit schwarzen Mitbürgern genauso umgehen wie mit anderen Mitbürgern auch.

    Aber bei Wallraff gibt es nichts zu lachen. Natürlich reiht er einen Fall von Diskriminierung an den anderen, nur leicht aufgelockert durch eine Episode ausgerechnet im bayerischen Rosenheim. Er, der schwarz angemalte Wallraff, ist in einer Kneipe und ist von einem Betrunkenen geschubst worden. Und dann:
    Jetzt geschieht etwas, womit ich nicht mehr gerechnet habe: Ein Kneipenbesucher weist den Schubser zurecht, und ein zweiter Gast blafft den anderen Krakeeler an, er solle jetzt Ruhe geben, "aber ganz schnell!" – und dann ist tatsächlich Ruhe. Zivilcourage am Tresen.
    Toll! Allerdings ist der Mann mit Zivilcourage, wir ahnen es, ein Zugereister. Die Welt, die böse Welt Wallraffs, bleibt in Ordnung.

    Er hatte Pech, der Wallraff: In einem ganzen Jahr als "Somalier" ist er kein einziges Mal tätlich angegriffen oder gar zusammengeschlagen worden. Zum Schlimmsten, was ihm als "Schwarzer" widerfuhr, gehört, daß man ihn für den Kellner hielt oder daß er Probleme auf einem Campingplatz hatte.

    Wenn er denn die Wahrheit schreibt.



    Wallraff ist ein Lügner. Er brüstet sich dieses Umstands.

    Er belügt die Menschen, mit denen er bei seinen Aktionen Umgang hat. Er belügt sie - wie jeder Hochstapler - über seine Identität, über seine Absichten. Er belügt nicht nur diejenigen, die er als Ausbeuter, Rassisten usw. ansieht. Er belog beispielsweise auch in seiner Verkleidung als der "Türke Ali" die türkischen Kollegen, die sich darüber wunderten, daß er kaum Türkisch sprach. Er stamme aus einer auslandstürkischen Familie in Griechenland, sagte er ihnen.

    Das habe ich damals gelesen, in dem Buch "Ganz unten", das ich 1985 wie sehr viele andere so schnell gekauft habe, wie ich konnte; denn es hieß, es würde demnächst verboten oder zensiert werden. Einer der größten deutschen Bestseller wurde es, dieses Buch.

    Heute frage ich mich, wie jemand darauf kommen kann, dem Lügner Wallraff auch nur ein einziges Wort zu glauben. Er belügt diejenigen, die während seiner Aktionen mit ihm Umgang haben. Warum sollte er seinen Lesern gegenüber ehrlicher sein?

    An diesem Autor ist alles falsch, ist alles unredlich; siehe Zettels Meckerecke: Lügt Wallraff?; ZR vom 30. 4. 2008.

    Seit fast vierzig Jahren hat er eine einzige Masche: Er belügt Menschen, um dadurch angeblich etwas zu erfahren, was man sonst nicht erfahren kann. Was natürlich albern ist; denn jeder ehrliche Journalist braucht ja nur - im jetzigen Beispiel - in Deutschland lebende Schwarze zu befragen, um herauszufinden, welche Erfahrungen sie mit Deutschen gemacht haben. Er bekommt dann ein weit authentischeres und differenzierteres Bild als der angemalte Wallraff auf seiner Suche nach Diskriminierung.

    Seine angeblichen Reportagen sind keine, denn jeder weiß, was - um mit Helmut Kohl zu sprechen - "hinten herauskommt". Parteilicher, einseitiger, selektiver kann ein Journalist nicht sein.

    Woher also der Erfolg? Mir scheint, daß Wallraff zwei tiefsitzende Bedürfnisse bedient:

    Erstens ein voyeuristisches. Seine "Reportagen" sind zwar das Gegenteil informativer Berichterstattung; aber dem Leser wird suggeriert, endlich einmal "Einblicke" zu bekommen, die ihm sonst verwehrt sind. Das Schlüsselloch wird gewissermaßen ganz weit geöffnet. Dem Lügner wird geglaubt, daß er eine Authentizität vermittelt, an die man sonst nicht herankommt.

    Zweitens bedient Wallraff das Bedürfnis, sich zu empören. Was viele vor allem im linken Spektrum immer schon zu wissen vermeinten - daß Türken in Deutschland menschenunwürdig behandelt würden, daß es bei der "Bild"- Zeitung zugehe wie bei der Mafia, daß bei McDonalds alles ganz schlimm sei und die Deutschen immer noch Rassisten - dieses ganze Gruselkabinett linker Vorurteile wird von Wallraff ausstaffiert. Mit angeblichen Reportagen, die doch in Wahrheit nur Agitprop sind.

    Daß dieser Mann, dieser erbärmlich schlechte Journalist, in Deutschland eine solche Prominenz genießt, sagt viel über Deutschland. Und daß er ausgerechnet bei der einst seriösen "Zeit" anheuern durfte, besagt sehr viel über den sogenannten Linksliberalismus bei uns.



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    18. Oktober 2009

    Zitat des Tages: "Die Politik der SPD hat die Linkspartei gestärkt". Stephan Hilsberg wird dem neuen Bundestag nicht mehr angehören

    Das ist ein schwerer Fehler, weil sie [die Annäherung der SPD an die Linkspartei; Zettel] dazu beiträgt, daß die Linkspartei hoffähig wird. Und wenn wir heute feststellen müssen, daß die SPD so schwach geworden ist, wie sie sich darstellt, die Linkspartei aber deutlich zugelegt hat und auch die Westausdehnung gelungen ist, so hat das auch ursächlich mit der Etablierungspolitik zu tun, die die SPD gegenüber der ehemaligen PDS gefahren hat.

    Der (noch) SPD-Bundestagsabgeordnete und frühere DDR- Bürgerrechtler Stephan Hilsberg gegenüber "Spiegel- Online".


    Kommentar: Das Video, dem das Zitat entnommen ist, begleitet einen Artikel von Stefan Berg über den ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mann Axel Henschke, der unter anderem in einem Stasi- Gefängnis Häftlinge bewachte und der heute Abgeordneter der Partei "Die Linke" im brandenburgischen Landtag ist. Am Anfang des Videos kommt er zu Wort.

    Henschke sagt, er bereue das, was er damals getan hat. Das mag man ihm abnehmen oder auch nicht. Nur - wenn jemand sich so fundamental geirrt hat, wie Henschke es von sich behauptet, was hat der Betreffende dann in der Politik eines demokratischen Staatswesens verloren?

    Er mag beruflich machen, was immer er will. Aber bitte doch nicht wieder Politik.



    Stephan Hilsberg, Sprecher der Ostgruppe in der Bundestagsfraktion der SPD, ist einer der wenigen aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die es noch bei der SPD aushalten.

    Er war ein führendes Gründungsmitglied der SDP in der DDR, die sich dann der SPD anschloß. In den Bundestag war er stets direkt gewählt worden. Für die diesjährigen Wahlen zum 17. Deutschen Bundestag wurde er von der SPD nicht mehr als Direktkandidat aufgestellt und auch nicht auf einen sicheren Listenplatz gesetzt. Er gehört in der kommenden Legislaturperiode dem Bundestag nicht mehr an.

    Die DDR-Bürgerrechtler werden in der SPD an den Rand gedrängt. Mit den Kommunisten arbeitet man zusammen, einschließlich ehemaliger Stasi- Spitzel und hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS. Damit ist der gegenwärtige Zustand der SPD gekennzeichnet.



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    17. Oktober 2009

    Ab Montag wird der Kindle nach Deutschland ausgeliefert. Interessant wird er nur für diejenigen sein, die amerikanische Literatur lesen möchten

    Vom kommenden Montag an wird Amazons Kindle nach Deutschland ausgeliefert; vorbestellen konnte man ihn schon seit einiger Zeit. Vorerst gibt es allerdings nur den Kindle 2 zum Preis von $ 279,00; zwanzig Dollar mehr als das entsprechende Gerät mit der Ausstattung für die USA. Der Kindle DX mit einem größeren Display und einer deutlich höheren Speicherkapazität (ca 3500 stat 1500 Bücher) wird vorerst weiter nur in den USA angeboten.

    Ob die 279 Dollar der Endpreis für den deutschen Besteller sind, ist derzeit nicht ganz klar. Die Geräte werden direkt aus den USA versandt, und es könnten Fracht- und Zollgebühren hinzukommen; siehe den kürzlichen Artikel und vor allem die Kommentare dazu in "Spiegel-Online".

    Für dieses Geld bekommt man ein beeindruckendes Gerät; ich habe schon recht enthusiastisch darüber geschrieben, als vor zwei Jahren in den USA der Kindle 1 auf den Markt kam (Amazons Kindle - besser als Bücher aus Papier?; ZR vom 20. 9. 2007).

    Nicht nur kann man E-Bücher und Zeitungen herunterladen (in den USA über ein eigenes Funknetz von Amazon; in Deutschland über einen Roaming- Partner; die Karte der Versorgungsgebiete ist hier einsehbar). Sondern der Kindle ist auch ein Webbrowser, der die Wikipedia zur Verfügung stellt und der sich auch für das Ansehen anderer Angebote im Web verwenden läßt, sofern sie überwiegend aus Text bestehen. (Diese Funktion ist allerdings derzeit in Deutschland nicht freigeschaltet).

    Hörbücher kann man ebenfalls herunterladen; und in der aktuellen Version gibt es sogar die (wie es heißt, "experimentelle") Option, sich jedes Buch und jede Zeitschrift vorlesen zu lassen, sofern dem keine Copyright- Bedingungen entgegenstehen.

    Dazu gibt es die Möglichkeit, über die eingebaute Tastatur in den Texten nach Stichwörtern zu suchen und eigene Notizen und Randbemerkungen zu erstellen; diese können exportiert werden.



    Soweit ist das alles sehr schön. Nun kommt aber der Haken: der Preis für das Herunterladen von Büchern. Hier sind die Bedingungen in Deutschland von denen in den USA so radikal verschieden, daß es auf absehbare Zeit wohl nur attraktiv sein wird, den Kindle zum Lesen und Anhören amerikanischer Literatur zu verwenden; für Zeitungen wie die FAZ, die Amazon bereits anbietet, gilt das allerdings nicht.

    Warum stellen Verlage eigentlich ihre Bücher, sogar Neuerscheinungen und Bestseller, Amazon zur Verbreitung zur Verfügung? Schaden sie damit nicht dem Absatz ihrer gedruckten Bücher?

    Sehr wahrscheinlich ja. Aber das kann den Verlagen gleichgültig sein. Amazon zahlt ihnen nämlich für jedes heruntergeladene Buch exakt so viel, wie sie vom Grossisten für ein gedrucktes Buch bekommen. Dies und andere Details können Sie im Internet- Magazin Slate nachlesen.

    Nicht die Verlage leiden also potentiell unter der Verbreitung von E-Büchern via Amazon, sondern die Grossisten und die Buchhändler. Die Verlage machen sogar ein glänzendes Geschäft, denn wenn sie ein Buch an Amazon statt an den Grossisten oder direkt an den Buchhändler verkaufen, sparen sie ja dessen Produktionskosten.

    Der Betrag, den die Verlage üblicherweise für ein Buch erlösen, entspricht ziemlich genau der Hälfte des Ladenpreises; in den USA wie in Deutschland. Eine so hohe Handelsspanne ist erforderlich, weil Bücher, von aktuellen Bestsellern abgesehen, sehr langsam umgeschlagen werden; anders als zum Beispiel die Lebensmittel und die Kurzzeit- Angebote bei Aldi, für die eine viel geringere Handelsspanne hochprofitabel ist.

    Wenn Amazon in den USA den Verlagen die Hälfte des Ladenpreises zahlt, dann kann das allerdings ein Verlustgeschäft sein, denn dem Kunden stellt Amazon maximal $9,99 in Rechnung. Bei dicken Büchern ist das unter Umständen deutlich weniger als das, was Amazon dem Verlag bezahlen muß. Das wird einerseits durch Bücher mit niedrigem Ladenpreis kompensiert; vor allem aber auch durch den Verkauf der Geräte, an denen Amazon hauptsächlich verdient.



    Für den Kunden ist es attraktiv, ein E-Buch zur Hälfte des Ladenpreises oder für noch weniger zu lesen; das ist ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Kindle in den USA. In Deutschland aber ist das aufgrund der Gesetzeslage nicht möglich.

    Der Buchhandel ist einer der letzten Bereiche, in denen eine gesetzliche Preisbindung der zweiten Hand gilt. Früher einmal war eine solche Preisbindung ubiquitär - einen Fernseher, ein Auto, ja sogar eine Marken- Schrankwand oder einen Beutel Tütensuppe bekam man überall zu genau demselben Preis; im kleinen Laden auf dem Land wie auch im Großkaufhaus. Heute kann in fast allen Bereichen der Einzelhändler seine Preise selbst gestalten und sogar mit dem Käufer individuell aushandeln; nur eben nicht bei Büchern.

    Nicht in Deutschland bei Büchern. In anderen EU-Ländern ist auch dieser Rest Preisbindung bereits aufgehoben. In Deutschland aber gilt - vielleicht ja zu Recht - das Argument, daß das Buch ein Kulturgut ist, das einen solchen Schutz verdient. Oder genauer: Daß der kleine Buchhändler, der ohne Preisbindung nicht mit den großen Ketten konkurrieren könnte, so geschützt werden soll.

    Das gilt nun auch für E-Bücher. Kein E-Buch darf in Deutschland billiger angeboten werden als die jeweils billigste gedruckte Version.

    Das Herunterladen eines aktuellen Bestsellers auf den Kindle müßte also in Deutschland bis zu vierzig Euro kosten. Das wird kaum jemand für ein virtuelles Buch bezahlen wollen. Allenfalls dann, wenn eine Taschenbuchausgabe erschienen ist - wenn also das Buch nicht mehr aktuell ist -, könnte es interessant sein, die E-Buch- Version zu kaufen.

    Wir sind es gewöhnt, für digitale Literatur ungleich weniger zu bezahlen als für Bücher aus Papier und Leinen. Bei Zweitausendeins kann man zum Beispiel derzeit "1.755.000 Seiten Weltliteratur, Sachbücher, Großlexika" und dazu noch Filme und Tondokumente für ganze 39,99 Euro auf DVD kaufen. Solange deutsche E-Bücher preislich nicht wenigstens ein bißchen in die Nähe solcher Angebote kommen, werden sie für einen Anbieter für Amazon, der auf niedrige Preise setzt, unattraktiv sein.

    Aber es gibt ja in Deutschland genug potentielle Käufer, die Englisch lesen und die mit dem Kindle die Möglichkeit haben, statt teurer Import- Bücher englischsprachige Literatur nun günstig zu bekommen; mit allen weiteren Vorteilen des Kindle.

    Und wer weiß, vielleicht entschließt sich ja unsere neue, liberalkonservative Regierung dazu, die Preisbindung für Bücher aufzuheben. Ob das gut wäre, weiß ich nicht. Das Für und Wider dazu wäre ein anderes Thema. Eine Ausnahme für E-Bücher könnte ich mir jedenfalls gut vorstellen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Der Kindle 1. Vom Autor Tsgreer in die Public Domain gestellt. - Mit Dank an Rayson für den Hinweis darauf, daß der Webbrowser derzeit in Deutschland nicht zur Verfügung steht, sowie an Florian für einen Hinweis zur terminologischen Präzisierung.

    16. Oktober 2009

    Zitate des Tages: Das Spiel zwischen Teheran, Washington und Moskau. Da braut sich etwas zusammen

    First, previous assumptions on time frames on Iran are no longer valid, and worst- case assumptions must now be assumed. The Iranians are in fact moving rapidly toward a weapon; have been extremely effective at deceiving U.S. intelligence (read, they deceived the Bush administration, but the Obama administration has figured it out); and therefore, we are moving toward a decisive moment with Iran.

    Second, this situation is the direct responsibility of Russian nuclear expertise. Whether this expertise came from former employees of the Russian nuclear establishment now looking for work, Russian officials assigned to Iran or unemployed scientists sent to Iran by the Russians is immaterial. The Israelis — and the Obama administration — must hold the Russians responsible for the current state of Iran’s weapons program, and by extension, Moscow bears responsibility for any actions that Israel or the United States might take to solve the problem.


    (Erstens sind die früheren Annahmen über den Zeitrahmen des Iran nicht mehr gültig, und man muß jetzt vom schlimmsten Fall ausgehen. Die Iraner bewegen sich tatsächlich schnell auf eine [nukleare; Zettel] Waffe zu; sie waren extrem erfolgreich damit, die US-Geheimdienste zu täuschen (d.h. sie täuschten die Regierung Bush, die Regierung Obama aber weiß es jetzt); und folglich nähern wir uns einem kritischen Moment in Bezug auf den Iran.

    Zweitens tragen für diese Situation die nuklearen Fachkenntnisse Rußlands die unmittelbare Verantwortung. Ob diese Fachkenntnisse von früheren Beschäftigten des russischen nuklearen Komplexes stammen, die jetzt auf Arbeitssuche sind, ob sie von russischen Staatsangestellten stammen, die in den Iran entsandt wurden oder von arbeitslosen Wissenschaftlern, die man in den Iran geschickt hat, ist unwesentlich. Die Israelis - und die Regierung Obama - müssen die Russen für den jetzigen Stand des iranischen Waffenprogramms verantwortlich machen. Und allgemein trägt Moskau die Verantwortung für jede Aktion, die Israel oder die Vereinigten Staaten unternehmen könnten, um das Problem zu lösen.)

    George Friedman in dem auf Geheimdienst- Informationen spezialisierten Nachrichtendienst Stratfor am 5. Oktober.


    Surely we got something in return for selling out our friends. Some brilliant secret trade-off to get strong Russian support for stopping Iran from going nuclear before it's too late? Just wait and see, said administration officials, who then gleefully played up an oblique statement by President Dmitry Medvedev a week later as vindication of the missile defense betrayal.

    The Russian statement was so equivocal that such a claim seemed a ridiculous stretch at the time. Well, Clinton went to Moscow this week to nail down the deal. What did she get? "Russia Not Budging on Iran Sanctions; Clinton Unable to Sway Counterpart." Such was The Post headline's succinct summary of the debacle.

    Note how thoroughly Clinton was rebuffed. Russian Foreign Minister Sergei Lavrov declared that "threats, sanctions and threats of pressure" are "counterproductive." Note: It's not just sanctions that are worse than useless, but even the threat of mere pressure.


    (Gewiß erhielten wir doch eine Gegenleistung dafür, daß wir unsere Freunde fallengelassen haben [d.h. keine Raketenabwehr in Polen und Tschechien stationieren werden; Zettel]? Ein glänzendes geheimes Tauschgeschäft, um starke russische Unterstützung zu erhalten, damit, bevor es zu spät ist, der Iran daran gehindert werden kann, die Atombombe zu besitzen? Warten Sie doch ab, sagten Beamte der Regierung, die anschließend zur Rechtfertigung des Verrats bei der Raketenabwehr mit fröhlichem Stolz eine schwammige Aussage von Präsident Dmitri Medwedew hochspielten.

    Die russische Stellungnahme war so vieldeutig, daß eine derartige Behauptung damals als eine lächerliche Übertreibung erschien. Nun, diese Woche reiste Clinton nach Moskau, um die Vereinbarung festzuklopfen. Was bekam sie? "Rußland bewegt sich nicht bei den Sanktionen gegen den Iran; Clinton kann ihren Amtskollegen nicht umstimmen". Mit dieser Schlagzeile faßte die [Washington] Post das Debakel bündig zusammen.

    Man achte darauf, wie gründlich Clinton abgewiesen wurde. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte, "Drohungen, Sanktionen und die Androhung von Druck" seien "kontraproduktiv". Man beachte: Nicht nur Sanktionen sind schlimmer als nutzlos, sondern schon die Androhung von nichts als Druck.)

    Charles Krauthammer am heutigen 16.10.2009 in der Washington Post.


    Kommentar: Die beiden Zitate kommentieren sich gegenseitig.

    Der Iran ist mit der Bombe viel weiter, als man bisher dachte; und zwar dank massiver Hilfe durch russische Wissenschaftler und Techniker. Nur Druck auf Moskau könnte die Russen dazu bewegen, ihrerseits Druck auf den Iran auszuüben, indem sie Schluß machen mit der Unterstützung des iranischen Atomprogramms.

    Die Regierung Obama aber hat in Nettigkeiten geschwelgt. Sie hat ohne Gegenleistung auf die Raketenabwehr verzichtet. Offenbar hatten der visionäre Präsident und seine Außenministerin - bis zu ihrer Berufung in dieses Amt Sozial- und Gesundheitspolitikerin - sich vorgestellt, so viel Freundlichkeit würde doch von den Russen honoriert werden müssen. Eine ausgestreckte Hand ergreift man doch.

    Im russischen Außenministerium sitzen aber keine Visionäre und keine Sozialpolitiker, sondern hartgesottene Diplomaten aus der Schule von Molotow und Gromyko.

    Jetzt wird die Lage wirklich gefährlich. Ganz offensichtlich glauben sowohl die Iraner als auch die Russen, daß sie machen können, was sie wollen, weil der nobel- zertifizierte Friedensmensch in Washington ohnehin alles zulassen wird.

    Das könnte Obama in eine Situation bringen, wo er gar nicht mehr anders handeln kann, als Härte zu zeigen. Unkalkulierbar für seine Gegner, mit möglicherweise verheerenden Folgen.

    Kaum jemand ist gefährlicher als ein Friedfertiger, der sich in die Ecke manövriert sieht und unversehens zuschlägt. Da braut sich etwas zusammen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.