31. Januar 2010

Zettels Meckerecke: Der Finanzminister als Hehler? Wie der Staat (vielleicht) aus Habgier das Rechtsbewußtsein (noch ein wenig mehr) zerstört

Der Knacker-Kalle hat einen Bruch gemacht. Jetzt hockt er auf dem erbeuteten Schmuck und versucht ihn zu versilbern. Im Kietz, gleich neben dem Puff, in dem die Polacken-Wanja arbeitet, ist der "An- und Verkauf" vom Schlitzohr-Hotte, von dem jeder weiß, daß man bei ihm heiße Ware vertickern kann. Also macht der Kalle dem Hotte ein Angebot.

Man schachert. Am Ende hat der Hotte die Klunker und der Kalle sein Geld und kann zur Wanja.

Glück haben sie aber beide nicht. Die Schmiere bekommt Wind. Inzwischen sitzen sie einträchtig in Santa Fu, der Kalle und der Hotte. Der Kalle wegen Einbruchdiebstahl, der Hotte wegen Hehlerei.



Solch eine Gaunergeschichte entfaltet sich - vielleicht - in diesen Tagen vor den Augen der staunenden Deutschen; und die Rolle von Schlitzohr-Hotte spielt der deutsche Staat.

Da hat jemand in der Schweiz Daten gestohlen und bietet sie nun dem deutschen Fiskus (wohl nicht dem Finanzminister, sondern zuständigen Landesbehörden) so an, wie der Knacker-Kalle dem Schlitzohr-Hotte seine Ware anbietet. Und dieser Staat - man sollte es nicht für möglich halten - weist das nicht etwa so empört von sich, wie das ein ehrlicher Händler tut, wenn ihm gestohlene Ware angeboten wird.

Sondern er überlegt, dieser Staat, ob er nicht zum Hehler werden soll. Schließlich würde es sich lohnen; so, wie sich für Schlitzohr-Hotte die Hehlerei lohnt, weil er die Sore zu einem vielfachen des Preises loswerden kann, den er dem Knacker-Kalle gezahlt hat.

Ja, leben wir denn in einer Bananenrepublik? Ist denn hier Afghanistan? Was muß eigentlich der Staat noch tun, um den Bürger davon zu überzeugen, daß er, der Staat, sich einen Dreck um Recht und Gesetz schert, wenn es nur seinem Vorteil dient?

Braucht sich irgendwer zu wundern, daß das allgemeine Rechtsbewußtsein gegen Null tendiert, wenn der Staat selbst zumindest überlegt, ob er nicht als Hehler tätig werden soll?



Ich spreche vom allgemeinen Rechtsbewußtsein. Juristisch ist natürlich alles, wie immer, viel komplizierter. Dazu Melanie Amann, Rainer Hank und Konrad Mrusek heute in der F.A.S. unter der Überschrift "Ein unmoralisches Angebot" zunächst über die Argumente von Strafverteidigern:
Der Staat setze sich mit dem Datendieb an einen Tisch. Er belohnt für das Delikt, erzeugt einen ganzen Markt krimineller Datensammler und macht sich nebenbei auch noch selbst zum Datenhehler. Kurz gesagt: Um eine mittelschwere Straftat (Steuerbetrug) zu verfolgen, begehen Organe des Rechtsstaats selbst Straftaten (Hehlerei, Begünstigung, Beihilfe zur strafbaren Verwertung von Geschäftsgeheimnissen, Hehlerei). Ein rechtswidrig handelnder Staat habe jede Legitimation verloren, die Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Aber natürlich kann man das juristisch auch ganz anders sehen. Weiter die F.A.S.:
Lang und breit können Straf- und Steuerjuristen fachsimpeln, ob und welche Gesetze nun der einzelne BND-Schlapphut, Finanzbeamte, Staatsanwalt oder Minister konkret bricht, wenn er eine Daten-CD kauft. Ist es eine "Bereicherung", wenn der Staatsdiener doch nur das Staatssäckel füllen will? Spielt es eine Rolle, ob man eine Datenkopie kauft oder ob die Daten frisch vom Bankenrechner kommen?
Der Bürger versteht solche Feinheiten nicht, und sie dürften ihn auch nicht interessieren. Was er versteht, mit seinem Verstand als schlichter Bürger, das ist, daß der Staat etwas zu tun erwägt, was ihn, den Bürger, vor den Kadi und vermutlich in den Knast bringen würde.



Noch ist unklar, ob der deutsche Staat sich wirklich auf den Ankauf gestohlener Daten einläßt, die laut den Autoren der F.A.S. jeder "Richter, der die gekauften Beweise begutachtet, ... irgendwie schmuddelig finden" würde. Aber klar - und wenig verwunderlich - ist die Reaktion der üblichen Verdächtigen. "Spiegel- Online" vor knapp zwei Stunden:
Eindeutig äußerte sich ... SPD-Chef Sigmar Gabriel: Er trat für den Kauf ein. Es sei "skandalös, dass hier jeder Parksünder verfolgt wird, aber nicht die Leute, die bis zu 200 Millionen Euro Steuern hinterziehen", sagte er dem "Hamburger Abendblatt". Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte der "Frankfurter Rundschau", wer Krokodilstränen darüber vergieße, dass der Staat sich mit Kriminellen auf einen Handel einlasse, dem gehe es in Wahrheit nur darum, Rücksicht auf seine Wählerklientel zu nehmen.
Und unerreicht ist natürlich ein weiteres Mal der furchtbar linksliberale Jurist und Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" Heribert Prantl, der sich im Schweiz- Bashing übt:
Der ungeschriebene Artikel 1 des schweizerischen Verfassung lautet: "Die Würde des Geldes ist unantastbar. Sie zu schützen ist das oberste Ziel aller staatlichen Gewalt." Also verweigern die schweizerischen Behörden Auskünfte über die Steuerflüchtlinge und sorgen so dafür, dass der deutsche Staat die Straftaten nicht ermitteln kann.

Es handelt sich um eine Art Strafvereitelung - und um ein bewusstes und ein gewolltes Zusammenwirken der schweizerischen Banken und des schweizerischen Staates mit deutschen Straftätern. Der Vorteil, also die Beute, wird geteilt.
Nachdem er derart das, was auch einmal in Deutschland selbstverständlich war - nämlich Schutz des Bankgeheimnisses durch den Staat - kriminalisiert hat, dreht der Jurist Prantl das Recht so, daß der Nichtjurist nur, um in Prantls Idiom zu reden, mit den Ohr'n schlackeln kann:
Man kann das Geld, das der Staat für die Bankdaten bezahlt, als eine Belohnung betrachten. Belohnungen "für sachdienliche Hinweise", juristisch handelt es sich um eine "Auslobung", sind seit jeher ein anerkanntes Mittel der Aufklärung von Straftaten.
Ja, klar, der Schlitzohr-Hotte hat dem Knacker-Kalle ja auch nur eine Belohnung dafür gezahlt, daß er ihm die Sore überließ, damit er sie wieder, löblicherweise, in den Kreislauf der Wirtschaft einbringen konnte.



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Kleines Klima-Kaleidoskop (5): Bergführer und Kletterer

Unlängst stellte sich heraus, dass die Vorhersage des IPCC, die Himalayagletscher könnten bis 2035 abschmelzen, auf eher wackligen Grundlagen beruhte. Seitdem kommen immer mehr peinliche Details über die Arbeitsweise des IPCC und der beteiligten Wissenschaftler sowie den Stand der Klimawissenschaft ans Licht.

Nun hat sich der Sunday Telegraph die Mühe gemacht, den Quellen nachzugehen, denen folgend der Fourth Assessment Report des IPCC erklärte, in den Alpen, in den Anden und in Afrika seien aufgrund des Klimawandels seit 1900 Gletscher abgeschmolzen. Mittlerweile überrascht es ja nicht mehr, dass diese Quellen keine wissenschaftlichen Fachartikel waren, die dem Peer Review-Prozess standgehalten hatten. Statt dessen berief sich das IPCC seinerzeit auf einen Artikel in Climbing, einem Magazin für Kletterer, sowie auf eine Diplomarbeit an der Universität Bern im Fach Geographie. Beide Veröffentlichungen beruhten wiederum ausschließlich auf Interviews mit Bergführern und Kletterern.

Nichts gegen Bergführer und Kletterer. Aber Anekdoten sind keine Wissenschaft und sollten nicht die Grundlage für so weitreichende Entscheidungen sein, wie sie mit den IPCC-Berichten begründet werden. Und inwieweit man aus Interviews mit heute lebenden Bergfexen auf die Entwicklung von Gletschern seit 1900 schließen kann, wird mir wohl ein Rätsel bleiben.

Steter Tropfen höhlt den Stein. Die IPCC-Berichte entpuppen sich immer mehr als eher weniger solide: Watte statt Stein. Bleibt zu hoffen, dass alles Substanzlose bald weggetropft ist und nur noch der harte Kern solider Klimawissenschaft übrigbleibt.



© Gorgasal. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Drei Bilder, die sich durch das Schütteln eines Kaleidoskops ergeben. Fotografiert und in die Public Domain gestellt von rnbc.

Zitat des Tages: "Der Kapitalismus wird gemeinsame Werte schaffen". Vali Nasr über die Entwicklung des Islam

Spiegel: Mr. Nasr, in Europa tobt eine Debatte darüber, wie Muslime in die westliche Gesellschaft integriert werden können und wie viel Toleranz ein modernes Gemeinwesen ihnen gegenüber aufbringen muss. (...)

Nasr: In der Geschichte haben sich Veränderungen immer graduell vollzogen, und sie hingen mit der Industrialisierung und den technischen und ökonomischen Kräften zusammen, die daraus entstanden. Im Kern geht es nicht um die Frage der Toleranz, sondern darum, wie Muslime und der Westen zu gemeinsamen Werten kommen. Und da ist die Antwort eindeutig: Der Kapitalismus, die Ausweitung der Märkte, also die Globalisierung, werden dafür sorgen. Toleranz ist eine moralische Kategorie, gemeinsame wirtschaftliche Interessen aber schaffen Bande, die weit darüber hinausgehen. Statt Toleranz zu predigen, ziehe ich es vor, auf historische Kräfte zu setzen, die den Westen und die Muslime zu gemeinsamen Interessen und Werten bringen werden.


Aus einem "Spiegel"- Interview, das Bernhard Zand mit dem amerikanischen Politologen und Islam- Spezialisten Vali Nasr führte, zur Zeit Chefberater des Afghanistan- Beauftragten Richard Holbrooke. Das Gespräch erscheint im gedruckten "Spiegel" der kommenden Woche, S. 124 - 126.


Kommentar: Nasr entwickelt in dem sehr lesenswerten Gespräch einen Gedanken, der so einfach ist, daß man ihn trivial nennen mag: Der Schlüssel zur Entstehung eines modernen, toleranten und also nicht fundamentalistischen Islam sei ein erfolgreicher Kapitalismus in den islamischen Ländern.

Der fundamentalistische Islam, erst recht der militante Islamismus sind ja in der Tat Relikte der vorindustriellen Gesellschaft. Natürlich muß der Westen den aggressiven Islamismus der Dschihadisten bekämpfen, der uns mit Terror bedroht. Aber aus der Welt wird man ihn damit nicht schaffen können. Nasr: "Denn wer wird den Extremismus besiegen? Gewiss nicht wir im Westen, indem wir den Muslimen Lektionen erteilen. Er wird von innen besiegt werden - von dem Teil der Gesellschaft, der weiß, dass der Dschihad dem Geschäft schadet".

Warum gibt es in vielen islamischen Ländern nicht einen stärkeren Widerstand gegen den militanten Islamismus? Auch dafür hat Nasr eine ökonomische Erklärung: Wer im Staatsdienst arbeitet, wer durch Transferleistungen alimentiert wird, der erfährt kaum Nachteile durch die Dschihadisten. Wer hingegen in der Privatwirtschaft sein Geld verdient, wer sich Sorgen macht, ob er seine Waren absetzen kann, der sieht die Welt anders. Er braucht ein günstiges Geschäftsklima; ihn stören die Fanatiker.

Nasr weist auf die wirtschaftlichen Erfolge der islamischen Länder Türkei, Malaysia und Indonesien hin; auch auf die positiven Aussichten von westlich orientierten Ländern wie Jordanien, Tunesien und Marokko.

Auf die Frage, warum andere islamische Länder so weit zurückgeblieben sind, daß in ihnen der Islamismus Fuß fassen konnte, geht Nasr in dem Gespräch nicht ein. Aus meiner Sicht ist ein wesentlicher, oft übersehener Faktor, daß die meisten dieser Länder - Algerien und Ägypten, Libyen, Syrien und der Irak - jahrzehntelang sozialistisch regiert wurden.

Der Aufstieg des Islamismus ab den achtziger Jahren war eine Reaktion auf das totale Versagen dieses Arabischen Sozialismus. Daß diese Spielart des Sozialismus in einem nicht unerheblichen Umfang von einer rückständigen religiösen Ideologie abgelöst wurde und nicht (wie z.B. in Rußland und China) von einer Hinwendung zum Kapitalismus, dürfte wesentlichen mit dem Erbe des Osmanischen Reichs zusammenhängen. Ich habe das im September 2006 in der dreiteiligen Serie "Arabiens Misere" im einzelnen zu analysieren versucht. (1. Wirtschaftlicher Rückstand; 2. Der Arabische Sozialismus; 3. Das Erbe des Osmanischen Reichs).



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30. Januar 2010

Überlegungen zur Freiheit (11): Jakobiner und Liberale. Anmerkungen zu zwei Konzepten von Freiheit

Zwei Meldungen der vergangenen Tage:

Am Dienstag hat in Frankreich eine Enquête- Kommission der Nationalversammlungen ihre Empfehlungen für gesetzliche Bestimmungen vorgelegt, die das Tragen der Burka (eines Gewands, das den Körper einschließlich großer Teile des Gesichts vollständig bedeckt, ähnlich dem Tschador) in der Öffentlichkeit regeln sollen. Nach heftigen Debatten konnte sich die Kommission nicht auf ein generelles Verbot des Tragens der Burka in der Öffentlichkeit einigen. Sie schlägt aber ein Verbot für öffentliche Einrichtungen vor; beispielsweise in Schulen, Behörden, öffentlichen Verkehrsmitteln und Krankenhäusern.

Zweite Meldung: Am Mittwoch wurde bekannt, daß ein Gericht im US-Bundesstaat Tennessee dem Asylantrag der Familie Romeike aus Bissingen stattgegeben hat, die 2008 mit fünf Kindern vor der deutschen Schulpflicht in die USA geflohen war. In seiner Urteilsbegründung erklärte der Einwanderungs- Richter Lawrence O. Burman:
Homeschoolers are a particular social group that the German government is trying to suppress. This family has a well- founded fear of persecution ... therefore, they are eligible for asylum ... and the court will grant asylum.

Familien, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, sind eine besondere soziale Gruppe, welche die deutsche Regierung zu unterdrücken versucht. Diese Familie hat eine wohlbegründete Angst vor Verfolgung ... deshalb hat sie ein Recht auf Asyl ... und das Gericht gewährt Asyl.


Zwei Streitfragen, die offensichtlich dasselbe Thema berühren: Wie weit hat der Staat das Recht, sich in die individuelle Lebensgestaltung des Einzelnen einzumischen? Warum sollte eine Moslemin, die damit ihrem Glauben Ausdruck verleihen möchte, nicht die Burka anlegen dürfen; auch in der Öffentlichkeit, auch wenn wenn sie auf eine Behörde geht oder einen Zug des öffentlichen Nahverkehrs benutzt? Warum sollten Eltern nicht selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder in eine Schule schicken oder sie zu Hause unterrichten?

Das sind Beispiele für eine Thematik, die in freien Gesellschaften immer wieder aufbricht. Drei Fälle aus jüngster Zeit:
  • Darf der Staat sich durch ständige Besuche von Behörden- Mitarbeitern davon überzeugen, daß es einem Neugeborenen in seinem ersten Lebensjahr gut geht?

  • Darf er eine Vierzehnjährige gegen den Willen ihres Vaters daran hindern, zu einer Weltumseglung aufzubrechen (siehe Het zeilmeisje oogt rustig. Lauras Heimkehr; ZR vom 22. 12. 2009)?

  • Darf er - ein Thema, das gerade wieder in Zettels kleinem Zimmer kontrovers diskutiert wird - die Freiheit der Raucher zugunsten von Nichtrauchern und zur Verbesserung der "Volksgesundheit" einschränken?
  • Ist eine Gesellschaft unfrei, dann stellen sich derartige Fragen nicht: Der Staat nimmt sich einfach heraus, seinen Untertanen nach Belieben Vorschriften zu machen. Wenn er eine niedrige Geburtenrate wünscht, dann verbietet er eben seinen Untertanen, mehr als ein Kind pro Familie in die Welt zu setzen. Wenn er Arbeitskräfte braucht, dann hindert er eben seine Untertanen mit Waffengewalt daran, das Land zu verlassen und mauert sie, um das Verbot durchzusetzen, gegebenenfalls ein.

    Aber wo liegen die Grenzen staatlichen Eingreifens in einer freien Gesellschaft? Die Frage ist deshalb brisant, weil in den Antworten zwei Konzepte von "freier Gesellschaft" aufeinandertreffen. Es sind - vereinfacht gesagt - das der französischen und dasjenige der amerikanischen Revolution, das jakobinische und das liberale.

    Beide wollen - dem Anspruch nach - die Freiheit herstellen und sie schützen. Aber die Liberté als eines der Prinzipien der französischen Revolution ist etwas durchaus Anderes als die Liberty der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

    Das wird deutlich, wenn man sich die jeweils beiden anderen Prinzipien ansieht, die der Freiheit zur Seite gestellt werden. In der der französischen Revolution waren das bekanntlich Égalité und Fraternité, Gleichheit und Brüderlicheit. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aber werden als die drei fundamentalen Rechte genannt: "Life, Liberty and the Pursuit of Happiness"; Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

    Das sind drei Rechte des Individuums. Ihm darf nicht das Leben genommen werden; es genießt Freiheit und hat das Recht, sein Glück so anzustreben, wie es das für richtig hält. Gleichheit und Brüderlichkeit sind hingegen keine Rechte des Individuums, sondern Prinzipien der Organisation der Gesellschaft.

    Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1793, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, beginnt nicht wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit den Rechten des Einzelnen; sondern der erste Artikel befaßt sich mit dem Ziel der Gesellschaft ("le but de la societé"). Es wird so definiert:
    Le but de la société est le bonheur commun. Le gouvernement est institué pour garantir à l’homme la jouissance de ses droits naturels et imprescriptibles.

    Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück. Die Regierung ist eingerichtet, um dem Menschen den Genuß seiner natürlichen und unveräußerlichen Rechte zu garantieren.
    Es ist instruktiv, das mit der entsprechenden Passage in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu vergleichen:
    We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed.

    Wir erachten diese Wahrheiten als aus sich selbst heraus evident, daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, wozu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. - Daß zur Sicherung dieser Rechte unter den Menschen Regierungen eingerichtet sind, die ihre gerechtfertigte Macht von der Zustimmung der Regierten ableiten.
    Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen beginnt mit der Gesellschaft, gelangt von dort zur Regierung und dann erst zum Individuum. Die Declaration of Independence beginnt mit dem Individuum und seinen Rechten und gelangt von dort zu den Regierungen und ihrer Rechtfertigung durch die Zustimmung der Regierten.

    Beide Sichtweise prägen bis heute das amerikanische und das französische Verständnis von Freiheit.

    Aus amerikanischer Sicht gehört die Freiheit zum Wesen des Menschen. Der Staat spielt dafür keine Rolle; ihm wird lediglich das Recht zugebilligt, diese Freiheit dort einzuschränken, wo es unbedingt erforderlich ist.

    Es ist zum Beispiel nicht unbedingt erforderlich, Bürgern die Freiheit zu verwehren, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Also muß es erlaubt sein. In den USA käme auch niemand auf den Gedanken, Mosleminnen das Tragen der Burka zu verbieten; möge sich jeder Bürger kleiden, wie immer er mag.

    Aus französischer Sicht ist hingegen die Freiheit etwas, das der Staat herstellen und garantieren muß. Das ist mit dem Adjektiv "républicain" gemeint, dem "republikanisch", das in der französischen politischen Diskussion eine zentrale Rolle spielt.

    Der Freiheit übergeordnet ist die Gleichheit, die als Voraussetzung der Freiheit verstanden wird. In der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen ist, nachdem Artikel 1 das Ziel der Gesellschaft definiert hat und in Artikel 2 die Menschenrechte aufgezählt wurden, bereits in Artikel 3 von der Gleichheit die Rede; aber erst Artikel 6 befaßt sich mit der Freiheit.

    Wenn in Frankreich das Tragen der Burka verboten wird, dann steckt dahinter der Gedanke der Gleichheit: Wer ostentativ seine Religion betont, der stellt die Verschiedenheit der Religionen über die Gleichheit der Bürger. Auch die Schule dient im französischen Verständnis dem Ziel der Gleichheit. Das staatliche Schulsystem, die Schulpflicht sollen sicherstellen, daß alle Kinder die gleichen Chancen haben.



    Und in Deutschland? Wir haben in unserer Geschichte liberale und jakobinische Elemente. Uns Deutschen fehlt die historische Grundlage dafür, das Problem der Freiheit auf die eine oder die andere Art mit Überzeugung, und demgemäß einseitig, zu beurteilen. Mal denken wir eher liberal, mal eher jakobinisch.

    In den letzten Jahrzehnten ist allerdings in Deutschland das Jakobinertum in einem nachgerade stürmischen Vormarsch. Natürlich nicht unter diesem Etikett. Jakobinische Bestrebungen werden heutzutage als Schutz der Umwelt, als Abwehr einer Klimakatastrophe, als Maßnahmen zur Förderung unserer Gesundheit deklariert.

    Mehr Liberalismus wäre dringend vonnöten. Mehr Orientierung an den liberalen USA also als an der jakobinischen Tradition der französischen Revolution.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Die Freiheitsstatue in New York. Vom Autor Derek Jensen (Tysto) in die Public Domain gestellt. Mit Dank an Gorgasal.

    Zitate des Tages: "Als Kriegsverbrecher wurde Tony Blair nicht demaskiert". Deutsche Medien berichten über die Sitzung der britischen Irak-Kommission

    Die Chilcot-Kommission soll nun klären, wer recht hat. Fünf Mitglieder gehören dem Gremium an, vier ältere Herren, eine Baroness. Dutzende von Zeugen haben sie bereits gehört. Der Ton ihrer Fragen ist akademisch, nicht inquisitorisch, und oft war dies beklagenswert. Keiner von ihnen ist Jurist - im Gegensatz zum findigen Blair, der sich bei den Fragen zur Legalität des Krieges mühelos aus der Bedrängnis winden konnte.

    Marco Evers in ""Spiegel- Online" zur gestrigen Aussage von Tony Blair vor der Iraq Inquiry; der sogenannten "Chilcot- Kommission", deren Auftrag es ist, die Hintergründe der britischen Beteiligung am Irakkrieg aufzuklären.


    Als Tony Blair nach sechs Stunden das Gebäude verließ, hatte er noch einmal unter Beweis gestellt, wie sehr dieser so lange allseits geschätzte Premier mit Worten umgehen kann. Mehr aber auch nicht.

    Aus dem Bericht des Heute-Journals des ZDF gestern Abend um 22.00 Uhr zum selben Thema.


    Als Kriegsverbrecher wurde Tony Blair nicht demaskiert. Dazu agierte er zu klug, manche würden sagen zu glatt. Zuversicht hätte er aus der Adresse des Queen Elizabeth Conference Centre schöpfen können: Little Sanctuary, die kleine Freistatt. Nach mittelalterlichem Recht genossen Kriminelle hier Schutz vor dem Zugriff der Staatsgewalt.

    Wolfgang Koydl in der heutigen "Süddeutschen Zeitung" unter der Überschrift "Blut, Schweiß und Lügen" zum selben Thema.


    Kommentar: Der "findige Blair" konnte sich "mühelos aus der Bedrängnis winden". Er hat gezeigt, daß er "mit Worten umgehen kann. Mehr aber auch nicht". Er wurde "als Kriegsverbrecher ... nicht demaskiert", weil er "zu glatt" agitierte; und er kann "Zuversicht" daraus "schöpfen", daß dort, wo er seine Aussage machte, "Kriminelle ... Schutz vor dem Zugriff der Staatsgewalt" genossen.

    So urteilen das "Heute Journal", so urteilt die "linksliberale" SZ, so urteilt das größte Informations- Portal im deutschen Internet, "Spiegel- Online", über die gestrige Aussage von Tony Blair vor der Chilcot- Kommission.

    Die Verhandlungen der Kommission wurden gestern von CNN übertragen. Ich habe von den sechs Stunden ungefähr vier gesehen; die letzte Stunde der Vormittags- Sitzung und alle der Nachmittags- Sitzung; ich habe hier im Blog auf die Übertragung aufmerksam gemacht (Tony Blair zur Vorgeschichte des Irakkriegs. Die große Lüge; ZR vom 29. 1. 2010).

    Ich bezweifle, daß diejenigen, die über Blair so urteilen wie zitiert, auch nur eine Stunde der Verhandlungen gesehen haben.

    Ein vollständiges Video oder ein Wortprotokoll der Sitzung habe ich im Web noch nicht finden können; aber der - sehr Blair- kritische - Blog Iraq Inquiry Digest stellt Kurzprotokolle sowohl der gestrigen Vormittags- Sitzung als auch der Nachmittags- Sitzung zur Verfügung.

    Blair berichtete detailliert über die Einschätzungen so gut wie aller Geheimdienste vor der Invasion, daß Saddam Hussein über biologische und chemische Waffen verfügte und daß er ein Atomwaffenprogramm verfolgte.

    Er schilderte die Überlegungen, die zu den diplomatischen Vorstößen der USA und Englands im Weltsicherheitsrat und zur Entsendung einer Invasionsarmee an die Grenzen des Irak führten. Er ging detailliert auf die Resolutionen des Weltsicherheitsrats ein; insbesondere auf die Frage, inwieweit die Resolution 1441 eine ausreichende juristische Grundlage für die Invasion gewesen war.

    Tony Blair schilderte auch offen, wo nach seinem heutigen Urteil Fehler gemacht wurden: Man habe erwartet, daß nach der Entmachtung Saddams die Verwaltung des Irak weiter funktionieren und für den Aufbau einer Demokratie würde eingesetzt werden können. Das erwies sich, sagte Blair, als ein Irrtum, weil in diesem von der Dikatur zerstörten Staat keine intakten Strukturen mehr vorhanden waren. Er ging auch darauf ein, daß man auf die Herausforderungen nach dem Sieg und auf eine lange Besatzung zu wenig vorbereitet gewesen war.

    Blairs Zeugenaussage war - siehe dazu auch meinen Kommentar zur Vorgeschichte des Kriegs in Zettels kleinem Zimmer - ein Lehrstück in Zeitgeschichte. Blair lieferte überzeugende Begründungen für seine Entscheidungen; vom Vorwurf der Lüge blieb nichts übrig.



    Wie sind dann solche abwegigen Beurteilungen der Aussagen Blairs möglich wie die zitierten? Ich weiß es nicht. Es scheint, daß es ein Maß an Voreingenommenheit gibt, das gegen jede Aufnahme von Information immunisiert; sei es, daß man gar nicht anhört, was der Betreffende vorträgt, sei es, daß man es nicht verstehen will.

    Man mag den Irakkrieg für richtig oder für einen Fehler halten. Der Vorwurf jedenfalls, daß Bush und Blair gar nicht an die Existenz von Massenvernichtungs- Waffen im Irak geglaubt, sondern die Öffentlichkeit darüber belogen hätten, ist ohne Substanz. Es gibt dafür nicht den Schatten eines Belegs.

    Redet also Tony Blair, wenn er die damaligen Kenntnisse und Abläufe schildert, gegen eine mediale Wand? Nicht ganz; noch nicht einmal in Deutschland ist das durchgängig so.

    Es gab gestern nicht nur von politischen Vorurteilen geprägte Berichte und Kommentare von der Art der drei zitierten. Es erschienen auch Artikel, deren Autoren sich um Sachlichkeit bemühten. In der FAZ, wo ich das erwartet hatte. Zu meiner Überraschung aber auch bei "Zeit- Online".

    Dort ist die Überschrift zwar reißerisch ("Blair verweigert jede Reue"; als gäbe es einen Anlaß zur Reue), aber der Text von Jürgen Krönig, freier Journalist mit Sitz in London, ist bemerkenswert sachlich. Er schreibt:
    Vielmehr nutzte Blair die sechs Stunden dauernde Befragung, um immer wieder an Aspekte und Fakten zu erinnern, die in den zumeist hoch emotionalisierten Diskussion über den Irakkrieg häufig vergessen werden. An die Existenz von Saddams Massenvernichtungs- waffen glaubten damals nicht nur die Regierungen in London und Washington, sondern viele, ob Inspektoren der UN oder französische wie deutsche Geheimdienste. (...)

    Blair erinnerte an den Bericht der internationalen Untersuchungskommission, die im Irak nach der Invasion nach Massenvernichtungswaffen gesucht und keine gefunden hatte. Darin hieß es, zwar hätten sich alle Geheimdienste geirrt. Aber das, was sie gefunden hätten, nämlich Pläne für ABC-Waffen, fertig in der Schublade liegend, und das vorhandene Knowhow, sie zu bauen, ließen nur einen Schluss zu: Das Regime sei noch gefährlicher gewesen als angenommen. (...)

    In der vergangenen Woche wurde von der Untersuchungskommisson die Frage der Legalität oder Illegalität des Krieges behandelt. Doch handelt es sich dabei ganz gewiss nicht um die Kernfrage des Konfliktes. Internationales Recht ist nicht in Stein gemeißelt, es wird durch politische Entscheidungen weiter entwickelt. Am Ende geht es um die Bewertung der politischen Entscheidung, in den Krieg zu ziehen; eine Entscheidung, auch das wird gerne vergessen, der im März 2003 das britische Parlament mit großer Mehrheit zugestimmt hatte.
    Krönig hat offenbar die Aussage von Blair angehört, bevor er seinen Bericht schrieb; und er informiert den Leser, statt die immer gleichen unbewiesenen Unterstellungen herzubeten.

    Ich bin gespannt, ob die Redaktion von "Zeit- Online" es bei diesem Bericht beläßt, oder ob sie nicht vielleicht einen Artikel oder Kommentar nachschiebt, der die politisch korrekte "linksliberale" Sicht auf Blair wieder herstellt.



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    29. Januar 2010

    Kleines Klima-Kaleidoskop (4): Zweimal Offenheit

    In Großbritannien wurde unlängst mehr Offenheit seitens der Klimaforscher eingefordert. Durch ungebildete Klimaleugner? Durch konservative Politiker im Sold der Ölindustrie? Durch skrupellose Großverdiener mit Aktien von Energieunternehmen?

    Nein: durch John Beddington, seines Zeichens der wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung, Fellow der Royal Society, Professor für Angewandte Populationsbiologie und Autor diverser Artikel in hochrangigen Fachzeitschriften.

    Er bleibt zwar britisch-höflich ("Certain unqualified statements have been unfortunate." - "Einige uneingeschränkte Aussagen waren unglücklich."), fordert aber unverblümt Offenheit ein ("I think, wherever possible, we should try to ensure there is openness and that source material is available for the whole scientific community." - "Ich glaube, dass wir, wann immer möglich, versuchen sollten, dafür zu sorgen, dass Offenheit herrscht und dass Rohdaten der gesamten wissenschaftlichen Gemeinde zur Verfügung stehen."). Und wenn ein britischer Wissenschaftler, noch dazu ein so profilierter, öffentlich bei seinen Kollegen mehr Offenheit anmahnt, dann ist das eine Ohrfeige.

    Nahezu zeitgleich schloss das Information Commissioner’s Office, also der britische Informationsbeauftragte, die Untersuchung des Verhaltens der University of East Anglia ab, insbesondere des Fachbereichs für Klimaforschung. Im Rahmen des "Climategate"-Skandals waren Emails zu Tage gekommen, in denen Wissenschaftler dieses Fachbereichs Anfragen nach Informationen aufgrund des britischen Freedom of Information Act sabotierten. Dieses Informationsfreiheitsgesetz schreibt vor, dass von einigen Ausnahmen abgesehen die Öffentlichkeit Zugang zu Informationen von staatlichen Stellen hat - also auch von Universitäten. Wissenschaftler der UEA sprachen sich in den veröffentlichten Emails ab, wie man diese gesetzlich vorgeschriebene Offenlegung von Informationen verhindern konnte, welche potenziell problematischen Emails man löschen sollte und dergleichen mehr.

    Der britische Information Commissioner hat jetzt festgestellt, dass die beteiligten Wissenschaftler mit dieser Obstruktion in der Tat gegen den Freedom of Information Act verstoßen haben. Leider wird in East Anglia niemand strafrechtlich verfolgt werden, weil die Anzeige mehr als sechs Monate nach dem Delikt erfolgte.

    In der Tat, etwas mehr Offenheit täte einigen Klimaforschern gut. Aber das Klima ändert sich: den Apokalyptikern bläst der Wind zunehmend ins Gesicht.



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    Gorgasal und Obama (6): Noch einmal Erwartungen

    Zettel wies bereits darauf hin, dass einigen der in Guantánamo inhaftierten mutmaßlichen Drahtzieher von 9/11 in den USA der Prozess gemacht werden soll. Der prominenteste unter ihnen ist Khalid Scheich Mohammed.

    Ort des Prozesses sollte New York City sein, genauer Downtown Manhattan. Sozusagen der am dichtesten besiedelte Teil der USA, dicht an dicht gepackt mit öffentlichen Gebäuden, Wohnungen, Geschäften und Büros. Die Sicherheitsvorkehrungen beim Prozess, um einen Anschlag zu verhindern, müssten immens sein und monatelang tief in das Leben der New Yorker eingreifen: Straßensperren, Personenkontrollen, Nacktscanner über mehrere Häuserblocks und die belebtesten Straßen in New York hinweg.

    Insofern war es vielleicht nicht ganz unerwartet, dass sich Anwohner und die Stadt New York nicht sonderlich begeistert von diesem Plan zeigten. Nur in der Regierung scheint das niemandem vorab aufgefallen zu sein. Wahrscheinlich wohnt niemand von der Regierung in Manhattan. Man war dann offenbar auch etwas überrascht über die Proteste aus New York.

    Gestern hat das Weiße Haus das Justizministerium angewiesen, alternative Orte für den Prozess zu prüfen.

    Die Regierung Obama macht allmählich eine Gewohnheit daraus, von der völlig unerwarteten Realität überrascht zu werden.



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    Kleines Klima-Kaleidoskop (3): Wasserdampf

    Wieso wurde die Erd­atmo­sphäre im letzten Jahr­zehnt nicht wärmer? Ein Aufsatz in der Zeit­schrift Science gibt jetzt eine über­raschende Antwort: es lag am Wasser­dampf in der Strato­sphäre.

    Dieses anscheinend erst­mals erforschte Phäno­men der oberen Atmo­sphäre hat einen uner­warteten Ein­fluß auf die Boden­tempera­tur.

    Strato­spheric water vapor concen­trations decreased by about 10% after the year 2000. Here, we show that this acted to slow the rate of increase in global surface tem­perature over 2000 to 2009 by about 25% com­pared to that which would have occurred due only to carbon dioxide and other green­house gases. More limited data suggest that strato­spheric water vapor probably increased between 1980 and 2000, which would have enhanced the decadal rate of sur­face warming during the 1990s by about 30% compared to estimates neg­lecting this change. These findings show that strato­spheric water vapor represents an impor­tant driver of decadal global surface climate change.

    Die Wasser­dampf­konzen­tration in der Strato­sphäre nahm seit dem Jahr 2000 um 10% ab. Wir zeigen, daß dadurch die Zunahme der globalen Boden­tempe­ratur vom Jahr 2000 bis 2009 um etwa 25% lang­samer war als sie durch Kohlen­dioxid und andere Treib­haus­gase alleine gewesen wäre. Auf einer schmaleren Daten­grund­lage nehmen wir an, daß der Wasser­dampf in der Strato­sphäre zwischen 1980 und 2000 zugenommen hat, wodurch die Erhöhung der Boden­temperatur im 10-Jahres-Durch­schnitt der 90er-Jahre schätzungs­weise um etwa 30% größer war als sie ohne diese Ver­änderung gewesen wäre. Diese Ergeb­nisse zeigen, daß der Wasser­dampf in der Strato­sphäre einen wichtigen Faktor des globalen Klima­wandels in Boden­nähe darstellt.
    S. Solomon, K. Rosenlof, R. Portmann et.al., Contri­butions of Strato­spheric Water Vapor to Decadal Changes in the Rate of Global Warming, Science Online, 28.1.2010.

    Die Ursache der Änderung sei unbekannt, heißt es in einer Mitteilung der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration). Susan Solo­mon, eine der Autorinnen, erklärt: "Current climate models do a remark­able job on water vapor near the surface." (Die heutigen Klima­modelle kommen mit dem Wasser­dampf in Boden­nähe gut zurecht.)

    Nun hat man also die obere Atmo­sphäre untersucht, und die Ver­hält­nisse liegen dort anders.

    Das wäre für sich gesehen nicht besonders auf­regend. Man findet immer etwas Neues heraus, wenn man irgend­wo genauer hinsieht. Sondern an diesen Ergeb­nissen fas­ziniert, daß aus­gerechnet Wasser­dampf für die aus­gebliebene Erwärmung des vergangenen Jahr­zehnts ursächlich gewesen sei. Wasser­dampf steht nämlich im Mittel­punkt der kon­ventionellen Klima­theorie: nicht der Treib­haus­effekt durch das Kohlen­dioxid verursache den größten Teil der Erwärmung, heißt es da, sondern die wechsel­seitige Verstärkung von höherer Tem­peratur und vermehr­tem Wasser­dampf in der Atmo­sphäre.

    Und nun das. Die Stag­nation der Tem­peratur im letzten Jahr­zehnt wäre nicht auf einen ent­legenen Effekt wie Meeres­strömungen oder so etwas zurück­zuführen, der den eigent­lichen Vor­gang der Er­wärmung durch Kohlen­dioxid und Wasser­dampf zeit­weilig über­lagert - sondern gerade dieser eigent­liche Vor­gang spielt sich womög­lich gar nicht so ab, wie man es sich bisher gedacht hat.



    Ab­schließend noch eine sprach­liche Be­merkung: im Titel des Auf­satzes ist die Rede von "Decadal Changes", ein schwer über­setz­barer Aus­druck, der auch zweimal im Abstract erscheint; einmal habe ich versuchs­weise und recht frei mit "10-Jahres-Durch­schnitt" übersetzt, das andere Mal gar nicht, da ich nicht weiß, was mit "driver of decadal change" eigentlich gemeint ist. Diese Rede von "Jahr­zehnten" kommt mir nämlich etwas merk­würdig vor. Welche physi­kali­sche Relevanz könnte denn der Zehn­jahres­zeit­raum haben? Es ist ja reine Kon­vention, wenn wir um­gangs­sprach­lich ein Zehner­system verwenden.



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    Marginalie: Tony Blair zur Vorgeschichte des Irakkriegs. Die große Lüge

    CNN überträgt im Augenblick die Anhörung von Tony Blair vor der Iraq Inquiry. Falls Sie Zeit erübrigen können, Englisch verstehen und CNN empfangen, dann empfehle ich sehr, da hineinzuhören.

    Erstens, um zu verfolgen, wie man eine solche Untersuchung ruhig und unaufgeregt führen kann; mit britischer Fairness.

    Zweitens und vor allem aber, weil Tony Blair überzeugend darlegt, daß nach dem Kenntnisstand der Geheimdienste Saddam Hussein biologische und chemische Waffen hatte und daß er an einem Nuklearprogramm arbeitete.

    Das gilt logischerweise ebenso für den Erkenntnisstand von Präsident Bush. Die Behauptung, Bush hätte in Bezug auf diese WMDs gelogen, gehört zu den großen Lügen des Zwanzigsten Jahrhunderts.




    Nachtrag um 15.00 Uhr: Nach der Mittagspause hat soeben die Übertragung wieder begonnen; vermutlich wird sie drei Stunden dauern.



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    Zettels Meckerecke: Eine Audienz auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos

    In "Welt- Online" erschien gestern Abend unter der Überschrift "Hinter den Kulissen von Davos – ein Tagebuch" ein Artikel von Jörg Eigendorf. Eigendorf ist Leiter des Ressorts Wirtschaft der "Welt"- Gruppe.

    In dem Tagebuch lesen wir unter "Mittwoch, 27. Januar" dies über den Abendvortrag von Präsident Sarkozy:
    Sarkozy wickelt die Audienz mit seiner Kapitalismuskritik ein. Am Ende stehen die Damen in der ersten Reihe sogar auf – gezwungenermaßen auch Deutsche- Bank- Chef Ackermann, der zu den Co-Chairs des Jahrestreffens in Davos zählt.
    Woran Eigendorf erkannt hat, daß Josef Ackermann, der ja nicht unbedingt dazu neigt, sich zu etwas zwingen zu lassen, "gezwungenermaßen" aufgestanden ist, ist mir nicht ganz klar. Aber nicht deshalb widme ich Eigendorf diese Meckerecke. Sondern wegen einer Sprachschluderei, die wahrhaft Gipfel- Format hat.

    Oder genauer gesagt, wegen einer Sprachschluderei von Gipfel- Format und dazu noch - einen Satz später - einer vom Format, sagen wir, des Katzenbuckel im schönen Odenwald.

    Dieser Katzenbuckel ist der "Co-Chair".

    "Chair" hat sich im Konferenzenglisch als saloppe Abkürzung von "Chairman" (oder inzwischen meist - politisch korrekt -, "Chairperson") eingebürgert. Das heißt schlicht Vorsitzende(r). Ein "Co-Chair" ist also einer von mehreren Vorsitzenden einer Konferenz.

    Warum nennt Jörg Eigendorf den Vorsitzenden Ackermann nicht den Vorsitzenden Ackermann, sondern den "Co-Chair"?

    Weil er sich, so scheint mir, ein wenig aufplustern will, der Jörg Eigendorf.

    Sein ganzes "Tagebuch" zeigt, wie stolz er darauf ist, sich unter all diesen illustren Gästen im vornehmen Davos bewegen zu dürfen. ("Wir sind in der Schatzalp untergekommen, jedem [sic] berühmten Hotel, das Thomas Mann zu seinem Roman "Der Zauberberg" inspirierte. (...) Hier oben schlagen die Uhren anders: In der Bar brennt neben dem Piano ein Feuer im Kamin, Zeitungen und Bücher liegen aus und laden zum Schmökern ein").

    Und zu diesem "Ich und die große Welt" gehört offenbar, daß er auch den Konferenz- Slang draufhat, der nach Davos entsandte Redakteur. Er kennt sich eben aus.

    Nun gut. Sich mit solchen albernen Anglizismen zu schmücken, gilt heute als fast so schick, wie sich einen Skinhead- Schädel rasieren zu lassen. Damit schafft man es noch nicht in Zettels Meckerecke.

    Aber mit der Audienz. "Sarkozy wickelt die Audienz mit seiner Kapitalismuskritik ein", schreibt der Ressortleiter. Nanu, war etwa der Papst heimlich auch in Davos? Oder irgendein regierender Fürst, vielleicht gar die Queen?

    Ach nein. "Audienz", das ist Eigendorfs Übersetzung von "audience".

    Und "audience" heißt zu deutsch zwar manchmal "Audienz", wenn es sich eben auf das bezieht, was der Papst gewährt, oder die Queen. Meist aber heißt es schlicht - und das meint Eigendorf - "die Zuhörer" oder "das Publikum".



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    28. Januar 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: "EU nimmt Prominente ins Visier"

    Die EU fordert strengere Repressionen gegen Raucher. (...) Prominente wollen die Politiker bei ihrem Aktionsprogramm besonders ins Visier nehmen: Wenn festgestellt werde, dass diese sich bewusst über Rechtsvorschriften hinweggesetzt haben, könnten die Behörden hier ihre Entschlossenheit demonstrieren, heißt es in dem Beschluss. Sie sollten dann "mit rigorosen und zügigen Maßnahmen reagieren", um die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen.

    Gestern in der FAZ. Überschrift des Artikels von Joachim Jahn: "EU nimmt Prominente ins Visier - Repressionen gegen Raucher".


    Kommentar:





    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Foto: Deutsches Bundesarchiv; in der Public Domain. Mit Dank an Calimero, Uwe Richard und Meister Petz.

    Kleines Klima-Kaleidoskop (2): Fachleute

    Viele der sogenannten "Klimaskeptiker" sind keine Fachleute für Klimatologie, Meteorologie, Glaziologie, Atmosphärenphysik oder Statistik. Zu Recht stellen Klimatologen und Nicht-Klimatologen die Frage, inwieweit diese Nicht-Fachleute tatsächlich kompetent sind, die Schlussfolgerungen des IPCC und anderer prominenter Klimatologen zu beurteilen. Immerhin betonen Klimaforscher gerne, dass die IPCC-Berichte auf der jahrelangen interdisziplinären Zusammenarbeit von Tausenden von Wissenschaftlern beruhen, jeder von ihnen ein Experte auf seinem Gebiet. Stephen McIntyre etwa hingegen, der mit seiner Kritik am Hockeystick Aufsehen erregte, ist nur Mathematiker ohne Promotion und Geschäftsmann.

    Dagegen wird Rajendra Kumar Pachauri, der Vorsitzende des IPCC seit 2002, doch wohl ein ausgewiesener Experte auf einem der für die Klimaforschung relevanten Gebiete sein? Wahrscheinlich Klimatologe oder Meteorologe? Mit einer langen Liste von peer-reviewed Publikationen in einschlägigen und einflussreichen Fachzeitschriften?

    Nichts von alledem. Pachauri ist Eisenbahningenieur, mit einem Doktortitel in Industrial Engineering and Economics, also etwa Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften. Seine Publikationsliste umfasst außer einem einzigen Artikel in Science fast nur Buchkapitel und Konferenzbeiträge, an die deutlich niedrigere Anforderungen gestellt werden als an Artikel in Fachzeitschriften. Vor und neben seiner Tätigkeit für das IPCC ist er seit 1981 Direktor des indischen Forschungsinstituts The Energy and Resources Institute, das zwar auf dem Gebiet der Klimaforschung arbeitet, wobei aber Pachauris Qualifikation für diesen Posten auch nicht ganz klar wird - wie gesagt, einschlägige Publikationen hat er bei TERI auch nicht verfasst.

    Wenn mich noch einmal jemand auf die mangelnden wissenschaftlichen Qualifikationen der "Klimaskeptiker" aufmerksam macht, werde ich mit "Eisenbahningenieur" antworten. Und danach können wir hoffentlich die Fakten diskutieren - und nicht mehr die Qualifikationen. Denn Eisenbahningenieure können sich ebenso gut in fremde Fachgebiete einarbeiten wie Mathematiker oder Geschäftsleute.



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    Kleines Klima-Kaleidoskop (1): Ankündigung

    Ich möchte Ihnen eine neue Serie ankündigen.

    Die Serien in ZR sind von recht unterschiedlichem Charakter. Manche entwickeln einen Gedanken in einer Reihe von Schritten, wie zum Beispiel die Serien über Verschwörungstheorien mit ihrer ersten Folge im August 2006, als der Blog noch in den Anfängen steckte, oder die Serie "Realität in acht Päckchen", die erst kürzlich nach einem Jahr zu Ende ging. Andere Serien sind eher Folgen von Artikeln zu einem Thema, zum Beispiel die Serie "Gedanken zu Frankreich", die es bisher auf 38 Folgen gebracht hat; es wird weitere geben. Oder Gorgasals Serie "Gorgasal und Obama", die sich wohl noch über mindestens (und hoffentlich nur) drei Jahre fortsetzen wird.

    Die neue Serie "Kleines Klima-Kaleidoskop" gehört zur zweiten Gattung.

    Bis vor kurzem ist die Diskussion über die Entwicklung des Weltklimas von einer dominierenden, ja nachgerade hegemonialen Theorie beherrscht worden, nämlich der Theorie von der "menschengemachten globalen Erwärmung", für deren Ausmaß zum Teil phantastische Zahlen genannt wurden. Der Gralshüter dieser Theorie mit offenkundig religiösen Zügen (siehe Klimaschutz als Religionsersatz. Und die Kirchen machen mit; ZR vom 8. 12. 2009) war und ist der Weltklimarat (IPCC).

    Dieser ist in den vergangenen Wochen ins Trudeln geraten. Erstmals tauchen auch in den großen Medien kritische Artikel auf, wie sie zuvor fast nur an abgelegenen Orten zu finden gewesen waren. Immer neue Enthüllungen über Schlampereien und bewußte Fälschungen durch Wissenschaftler, deren "Ergebnisse" ihren Niederschlag in den Berichten des IPCC fanden, gingen durch die Medien.

    Wie bei einem Kaleidoskop, das man schüttelt, ist ein ganz neues Bild im Entstehen: Nicht mehr das einer festgefügten Wissenschaft, die auf der Grundlage gesicherter Daten zuverlässige Vorhersagen macht. Sondern eher das einer jungen, nur wenige Jahrzehnte alten interdisziplinären Forschung, die erste, noch tastende Schritte auf einem hochkomplexen Gebiet macht; deren Aussagen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen sind und deren Arbeit durch die Verflechtung mit politischen Interessen und durch persönliche Verfehlungen von Wissenschaftlern aufs Schwerste beeinträchtigt wird.



    In Zettels kleinem Zimmer schreiben Autoren, die auf diese Mängel schon lange hinweisen und die sich in der Materie weit besser auskennen als ich.

    Ich bin ihrer Beurteilung des IPCC immer mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet, weil ich den Wissenschaftsprozeß in einem anderen Bereich ein wenig kenne und mir nicht vorstellen konnte, daß es in der Klimatologie anders zugehen sollte als in jeder wissenschaftlichen Disziplin - daß Daten ständig kritisch nachgeprüft, daß Theorien stets in Zweifel gezogen, daß vor allem mit dem auschließlichen Ziel geforscht wird, die Realität besser zu verstehen.

    Die Enthüllungen der vergangenen Wochen lassen mich an diesem Urteil zweifeln. Es scheint, daß unter der Dominanz des IPCC von freier Forschung nur eingeschränkt die Rede sein kann; es hat den Anschein, daß in der Klimatologie die reine Naturwissenschaft auf eine bedenkliche Weise mit politischen und ökonomischen Interessen, ja mit apokalyptischen Ängsten kontaminiert ist.



    Diese Enthüllungen kommen, wie soll es anders sein, Stück für Stück zum Vorschein; so, wie die schon lange bestehende Kritik an den dominierenden Modellen und an der Praxis führender Wissenschaftler des IPCC an ganz verschiedenen Stellen ansetzte und ansetzt.

    Dem soll diese Serie Rechnung tragen. Sie wird meist eher kürzere Beiträge enthalten, in denen auf jeweils einen Aspekt, eine aktuelle Meldung eingegangen wird. Beispielsweise darauf, wie eigentlich die Meßdaten zustandekommen, auf denen die Theorie von der menschengemachten globalen Erwärmung beruht; oder auf den beruflichen Hintergrund des Präsidenten des IPCC, Dr. Rajendra K. Pachauri.

    Da ich mich in diesem Bereich schlechter auskenne als etliche Autoren in Zettels kleinem Zimmer, werde ich mich in erheblichem Umfang auf deren Beiträge und Anregungen stützen. Und vor allem wird dies eine Serie sein, die nicht ich allein schreibe. Lesen Sie bitte in den nächsten Folgen zwei Artikel von Gorgasal zu Rajendra K. Pachauri und zu John Beddington.



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    Zitat des Tages: China, Indien ... und Deutschland. In seiner State of the Union Address gibt Präsident Obama Deutschland seinen Platz in der Welt

    How long should we wait? How long should America put its future on hold?

    You see, Washington has been telling us to wait for decades, even as the problems have grown worse. Meanwhile, China's not waiting to revamp its economy. Germany's not waiting. India's not waiting. These nations aren't standing still. These nations aren't playing for second place. They're putting more emphasis on math and science. They're rebuilding their infrastructure. They are making serious investments in clean energy because they want those jobs.


    (Wie lange sollten wir warten? Wie lange sollte Amerika seine Zukunft hintanstellen?

    Schauen Sie, Washington sagt uns seit Jahrzehnten, wir sollten warten; und dabei werden die Probleme immer schlimmer. Unterdessen wartet China nicht damit, seine Wirtschaft umzugestalten. Deutschland wartet nicht. Indien wartet nicht. Diese Nationen befinden sich nicht im Stillstand. Diese Nationen spielen nicht um den zweiten Platz. Sie legen mehr Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften. Sie erneuern ihre Infrastruktur. Sie tätigen ernsthafte Investitionen in saubere Energie, weil sie diese Jobs wollen.)

    Präsident Obama in der vergangenen Nacht in seiner State of the Union Address.


    Kommentar: China, Deutschland, Indien. In dieser Reihenfolge.

    Ich bin mir unschlüssig, was der Präsident uns damit sagen will. Daß Deutschland ein Schwellenland ist wie China und Indien, daß es also nicht zur Ersten, sondern zur Zweiten Welt gehört (siehe zu dieser Unterscheidung Die neue Bevölkerungsbombe; ZR vom 27. 1. 2010)? Oder - wahrscheinlicher -, daß wir ein Land mit der Dynamik von China und Indien sind?

    Hm, hm. Wer mag ihm das aufgeschrieben haben? Daß wir nicht um den zweiten Platz spielen, sondern - so muß man das ja wohl verstehen - um den ersten in der Welt? Daß wir mehr Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften legen? Daß wir unsere Infrastruktur erneuern?

    Ach, wie schön wäre es doch, wenn unser Land so wäre, wie der amerikanische Präsident es beschreibt; auch wenn das mit dem ersten Platz so eine Sache ist. Oder wohl eher: Wie es der Redenschreiber sich ausmalt, der ihm diese Passage ins Manuskript gesetzt hat.



    Die State of the Union Address ist ein großes Spektakel, in dem die amerikanische Nation sich selbst feiert. Falls es Sie interessiert, wie es da zugeht - vor drei Jahre habe ich es einmal beschrieben, anläßlich der State of the Union Address von Präsident Bush am 23. Januar 2007.



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    27. Januar 2010

    Marginalie: Die neue Bevölkerungsbombe. Sind die deutschen Rentner auf Mallorca eine globale Avantgarde?

    Die erstmals von Thomas Malthus geäußerte Befürchtung von einer Übervölkerung sei es einzelner Länder oder Regionen, sei es der ganzen Erde hat sich nicht bestätigt; jedenfalls bisher nicht.

    Eine der jüngsten derartigen Warnungen war die von Paul Ehrlich in seinem Buch "The Population Bomb" (1968), in dem er massenhafte Hungersnöte ab den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunders prognostizierte. Das löste damals ähnliche Ängste aus wie heute die Furcht vor einer "Klimakatastrophe"; und es basierte auf einer genauso wackligen empirischen Grundlage.

    Nichts war es mit dem, was Ehrlich vorhergesagt hatte; denn die Landwirtschaft entwickelte sich dank der "grünen Revolution" schneller, als die Bevölkerung (nicht so schnell, wie Ehrlich es erwartet hatte) zunahm.

    Dennoch ist das Thema nicht vom Tisch. Darauf macht jetzt Jack A. Goldstone in der Januar/Februar- Nummer von Foreign Affairs aufmerksam. (Zum Lesen des Artikels ist eine Registrierung erforderlich).

    Die Weltbevölkerung werde sich, schreibt Goldstone, innerhalb des jetzigen Jahrhunderts bei knapp über neun Milliarden stabilisieren; bis dahin werde das Wachstum der Wirtschaft beständig höher liegen als das der Bevölkerung.

    Das Problem ist also nicht mehr eine Übervölkerung auf dem Niveau der ganzen Erde; jedenfalls nach jetzigen Kenntnissen.

    Aber, zitiert Goldstone den Economist
    ... the relative demographic weight of the world's developed countries will drop by nearly 25 percent, shifting economic power to the developing nations; the developed countries' labor forces will substantially age and decline, constraining economic growth in the developed world and raising the demand for immigrant workers; most of the world's expected population growth will increasingly be concentrated in today's poorest, youngest, and most heavily Muslim countries, which have a dangerous lack of quality education, capital, and employment opportunities; and, for the first time in history, most of the world's population will become urbanized, with the largest urban centers being in the world's poorest countries, where policing, sanitation, and health care are often scarce.

    ... das relative demographische Gewicht der am höchsten entwickelten Länder der Welt wird um fast 25 Prozent sinken, was die wirtschaftliche Macht hin zu den sich entwickelnden Ländern verlagert; die arbeitende Bevölkerung der entwickelten Länder wird erheblich altern und abnehmen, was das Wirtschaftwachstum in der entwickelten Welt begrenzt und die Nachfrage nach Immigranten als Arbeitskräften erhöht; der überwiegende Teil des Bevökerungs- Wachstums wird immer mehr in den heute ärmsten, jüngsten und am stärksten moslemischen Ländern konzentriert sein, die einen gefährlichen Mangel an guter Erziehung, an Kapital und an Arbeitsplätzen haben; und zum ersten Mal in der Geschichte wird der größte Teil der Weltbevölkerung in Städten leben, wobei die größten urbanen Zentren in den ärmsten Ländern der Welt liegen, wo es oft an Polizei, Hygiene und Krankenversorgung mangelt.



    Der größte Teil von Goldstones Artikel besteht darin, daß er diese Prognosen durch detailliert zusammengestellte Fakten belegt.

    Der Leser will aber natürlich auch gern wissen, was man denn tun kann. Aber ach, da kommt nicht viel.

    Zum einen rät Goldstone:
    To cope with the instability that will likely arise from the new Third World's urbanization, economic strife, lawlessness, and potential terrorist activity, the aging industrialized nations of the new First World must build effective alliances with the growing powers of the new Second World and together reach out to Third World nations.

    Um mit der Instabilität, den wirtschaftlichen Kämpfen, der Rechtlosigkeit und möglichen terroristischen Aktivitäten fertig zu werden, die wahrscheinlich aus der Urbanisierung der neuen Dritten Welt hervorgehen werden, müssen die alternden industrialisierten Ländern der Ersten Welt wirksame Allianzen mit den aufstrebenden Mächten der Zweiten Welt schließen und zusammen den Nationen der Dritten Welt die Hand reichen.
    Gemeint sind mit "Erste Welt" die jetzt hochindustrialisierten Länder, mit "Zweite Welt" die Schwellenländer wie China und Brasilien und mit "Dritte Welt" die armen, sich urbanisierenden Länder mit einer explodierenden Bevölkerung.

    Zweitens schlägt Goldstone Maßnahmen innerhalb der Ersten Welt vor: Eine aktive Geburtenpolitik, wie sie erfolgreich Frankreich und Schweden betreiben, Förderung der Einwanderung und dann noch etwas Originelles, nämlich "to encourage a reverse flow of older immigrants from developed to developing countries" - ältere Menschen sollten in die Länder der Dritten Welt auswandern, um dort ihren Lebensabend zu verbringen!

    Das würde, so Goldstone, einerseits die alternden Lände von der Fürsorge für ihre Rentner entlasten und andererseits in den armen Ländern des Mittelmeerraums, in Lateinamerika und Afrika Arbeitsplätze schaffen und Geld ins Land bringen.

    Die deutschen Rentner auf Mallorca als Avantgarde einer künftigen globalen Bevölkerungspolitik; wer hätte das gedacht!



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    Zitate des Tages: "Wir begrüßen die Forderung der Genossin Gesine Lötzsch nach dem Rücktritt des Knabe"

    Ex-Stasi-General Werner Großmann hat seinen für Sonntag geplanten Vortrags- Auftritt auf einer Veranstaltung des Bezirksverbandes Lichtenberg der Linken abgesagt. (...) Als Gastredner seien nun die Ex-Obersten der Staatssicherheit, Klaus Eichner und Gotthold Schramm, eingeladen worden. (...)

    Der Direktor der Stasiopfer- Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, hatte den Landesvorsitzenden der Linken, Klaus Lederer, und Bezirkschefin Gesine Lötzsch am Dienstag aufgefordert, die Veranstaltung abzusagen. (...) Doch die neuen Referenten machten die Sache nicht besser, sondern eher noch schlimmer, so Knabe. Beide ehemalige Stasi- Offiziere seien heute an führender Stelle in geschichtsrevisionistischen Vereinigungen wie dem sogenannten Stasi-Insiderkomitee und der GRH (Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e. V.) tätig.


    Aus der "Berliner Morgenpost" vom 2. 10. 2008.


    Liebe Freunde und Genossen,

    (...) wir erleben gegenwärtig besonders heftige Angriffe gegen die DDR und uns persönlich durch Medien und die Exponenten der Delegitimierungspolitik - und das 17 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung. Offensichtlich zeigen unsere Aktivitäten, unser Dagegenhalten gegen Verleumdung und Lüge, Wirkung. Das passt diesen Herrschaften nicht. (...)

    Ein weiteres Beispiel für das aggressive Vorgehen, das ein Kennzeichen des Kalten Krieges ist, war die Hetze und Bedrohung gegenüber Gen. Werner Großmann, der auf einem Stadtteilfest in Berlin-Lichtenberg sein Buch signieren sollte, wozu er von einer Buchhandlung eingeladen war. Nachdem die "Morgenpost" in "Stürmer"- Tradition das Feuer eröffnet hatte, wurden die bekannten Vertreter des Zeitgeistes von SPD und CDU wirksam. (...)

    Da fügt sich nahtlos der Knabesche Vorschlag eines Walter- Linse- Preises für eine besonders "Erfolgreiche Aufarbeitung der DDR-Geschichte ein. (...) Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Forderung der Genossin Dr. Gesine Lötzsch nach dem Rücktritt des Knabe.

    Ich wünsche uns allen weitere Erfolge beim Widerstand gegen die Machenschaften der Feinde der DDR.


    Oberst a. D. Gotthold Schramm auf dem Herbsttreffen 2007 der "Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung (GRH) e.V.".


    Kommentar: Ich habe in den beiden Zitaten die Passagen hervorgehoben, die sich auf Gesine Lötzsch beziehen.

    Aus den Zitaten geht hervor, daß es bereits bei einem früheren Anlaß Proteste gegen einen Auftritt des ehemaligen stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit Großmann gegeben hatte; was Gesine Lötzsch, Mitglied der SED seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr, nicht daran hinderte, ihn in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Bezirks Lichtenberg zu einer Veranstaltung der Partei "Die Linke" einzuladen.

    Das zweite Zitat stammt aus dem Protokoll einer Tagung jener "Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e.V.", in der sich - vergleichbar der HIAG ehemaliger SS-Angehöriger - ehemalige Angehörige der Sicherheitsorgane der DDR zusammengeschlossen haben. Zu dieser illustren Gesellschaft siehe "Wir sollten niemandem gestatten, die DDR als Unrechtsstaat abzuqualifizieren"; ZR vom 11. 8. 2007.

    Und noch ein drittes Zitat. Ich entnehme es einem Artikel von Markus Deggerich und Florian Gathmann gestern in "Spiegel- Online", in dem es u.a. auch um Gesine Lötzsch geht:
    Die designierte Parteichefin vertritt die einstige Stasi- Hochburg Lichtenberg. Hier saß sie schon 1989 in der Bezirksverordneten- Versammlung, später wurde die promovierte Philologin ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt.

    Lichtenberg war zu DDR-Zeiten Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstaße. Und die Abgeordnete Lötzsch scheint wenig Berührungsängste mit diesem Milieu zu haben. Bei der "Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e.V." (ISOR), einem von früheren Stasi-Leuten gegründeten Verein, trat sie gern auf. (...) Und beim Widerstand gegen die die These vom "Unrechtsstaat DDR" war sie eine der lautesten Linken.
    Zusammen mit Gesine Lötzsch für das Amt einer Vorsitzenden wurde die bekennende Stalinistin und Vorsitzende der "Kommunistischen Plattform" Sahra Wagenknecht zur stellvertretenden Vorsitzenden der Partei "Die Linke" vorgeschlagen. Zumindest was die Bewertung der DDR angeht, dürften die beiden Genossinnen gut miteinander harmonieren.



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    26. Januar 2010

    "Die Staatssicherheit hat eine legitime und notwendige Rolle gehabt". Über die DDR, wie die RAF-Terroristin Inge Viett sie sieht

    Die Terroristen der RAF waren Kommunisten. Sie waren nicht freischwebende Weltverbesserer oder gar Anarchisten, sondern jedenfalls ihre führenden Köpfe waren orthodoxe Marxisten- Leninisten, die mit der SED und der DKP lediglich die taktische Differenz hatten, daß sie in den siebziger Jahren die Zeit für den bewaffneten Aufstand bereits für gekommen hielten.

    Ich habe darüber kürzlich im Zusammenhang mit der Kooperation zwischen dem RAF-Mörder Karl-Heinz Dellwo und der kommunistischen Tageszeitung "Junge Welt" berichtet (Karl-Heinz Dellwo, das "1000. Mitglied" der "LPG junge Welt". Ist das der RAF-Mörder Dellwo?; ZR vom 23. 1. 2010). Jetzt gibt es einen Anlaß, noch einmal auf dieses Thema zu kommen: Die "Junge Welt" druckt heute einen Text der RAF-Terroristin Inge Viett ab. Überschrift: "Was war die DDR?".

    Viett war zunächst bei der "Bewegung 2. Juni" und trat nach deren Auflösung der RAF bei. Im Oktober 1981 schoß sie in Paris auf den Polizisten Francis Violleau und verletzte ihn schwer. Man muß sich die Umstände und Folgen dieser Tat vor Augen führen, um ein Bild von Inge Viett zu bekommen. Im "Spiegel" 37/1997 hat Bruno Schrep den Ablauf detailliert geschildert. Auf ihn stütze ich mich im folgenden hauptsächlich:

    Francis Violleau war Verkehrspolizist. Am 4. August 1981 tat er im 6. Arrondissement Dienst; am linken Seineufer - dort, wo einmal Sartre und seine Existenzialisten residiert hatten. Die Südgrenze dieses Bezirks markiert der Boulevard Montparnasse, und an ihm liegt der Place du 18 juin 1940; benannt nach dem Tag, an dem Charles de Gaulle von London aus seine erste Rede an die Franzosen hielt.

    Auf diesem Platz war Inge Viett mit ihrem Motorrad unterwegs. Violleau sah, daß sie keinen Helm trug. Dann überfuhr sie auch noch eine Ampel, die auf Rot stand. Auf ein Pfeifsignal des Polizisten reagierte Viett nicht; darauf fuhr er ihr auf seinem Motorrad hinterher.

    Es entwickelte sich eine Verfolgung, die in einer Sackgasse endet. Viett zog eine Pistole und schoß den Polizisten aus vier Metern Entfernung nieder. Schrep:
    Das Projektil trifft Violleau in den Hals, durchschlägt die Wirbelsäule in Schulterhöhe. Der Polizist wird sofort bewegungsunfähig. Die Terroristin kann fliehen.

    "Wann darf ich endlich aufstehen?" fragt der Verletzte nach ein paar Wochen. Ein Krankenhausarzt nimmt Yolaine Violleau beiseite: "Sie müssen es ihm sagen."

    Die Kinder, zwei Söhne von neun und zehn Jahren sowie eine kleine Tochter, können nicht akzeptieren, daß ihr Vater für immer gelähmt bleibt. "Mutter, das stimmt nicht!"

    Nach Besuchen in der Rehaklinik, in der Violleau fast zwei Jahre lang liegt, sind die Kinder oft tagelang verstört. "Das ist nicht wie bei einem Todesfall, wo es einen klaren, sauberen Schnitt gibt", schildert die Ehefrau die Situation. "Bei uns lebt der Vater, ist aber nicht da."
    Die Frau nahm Violleau dann wieder nach Hause und versucht ihn zu pflegen. Nachts mußte sie jede Stunde aufstehen, weil er nach ihr rief oder gedreht werden mußte. Nach drei Monaten wurde Yolaine Violleau mit Depressionen in eine Klinik eingeliefert.

    Danach lebte Francis Violleau, vom siebten Halswirbel abwärts gelähmt,im "Foyer de l'Hospitalet", einem Heim für Schwerstbehinderte an der Loire. Im Jahr 2000 starb er im Alter von 54 Jahren an den Folgen seiner Verletzung.

    Und wie hat Inge Viett diese Tat und ihre sonstigen Verbrechen verarbeitet? Dazu schrieb am 31. 10. 2007 Julian Schütt in der "Weltwoche":
    Sie tingelt durch deutschsprachige Gegenden und verteidigt wie eh und je die "revolutionäre Gewalt". Ihre Taten bereut sie nicht. Stattdessen fragt sie sich in ihren Schriften, wieso nach 1968 nur so wenige zu den Waffen gegriffen haben. Ihr zufolge müsste wieder "von vorn mit dem ­Suchen nach ­adäquaten Strategien" begonnen werden, um dem imperialistisch- kapitalistischen System "beizukommen".


    Nachdem es vorerst nichts damit geworden war, dem System mit den Methoden des politischen Verbrechens beizukommen, setzte sich Viett 1982 mit Hilfe des MfS in die DDR ab, wo sie von der Stasi zweimal eine neue Identität erhielt.

    Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus wurde sie verhaftet und 1992 wegen des Tötungsversuchs an dem Polizisten Violleau zu dreizehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Aber bereits 1997 war sie wieder frei. Jetzt bezeichnet sie sich als "Schriftstellerin".

    Der Text, den man heute in der "Jungen Welt" lesen kann, ist die schriftliche Version eines Vortrags, den Viett am 17. Januar auf einer Veranstaltung der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" gehalten hat; einer Gruppe, die laut Verfassungsschutzbericht "für die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaftsordnung" eintritt.

    Viett beginnt mit ihrer Sicht des MfS. Die "besonderen Umstände meiner Übersiedlung als illegale Westdeutsche und international gesuchte Person" hätten sie "von vornherein mit dem staatlichen Sicherheitsapparat in Beziehung gesetzt". Nett formuliert. Das Ministerium für Staatssicherheit beurteilt Viett so:
    Die DDR-Staatssicherheit hat nach meinem Verständnis von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen eine grundsätzlich legitime und notwendige Rolle gehabt. (...) Ihre Arbeit gegen den sogenannten inneren Feind war weit von flächendeckender Überwachung entfernt. Nicht zu vergleichen mit den subtilen und umfassenden Überwachungs-, Kontroll- und Foltersystemen kapitalistischer Demokratien und Diktaturen.
    Die reine Idylle also. Wie überhaupt die ganze DDR aus Vietts Perspektive eine wunderbare Welt war:
    Die Planung und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts wurde nach den gesellschaftlichen Erfordernissen und nicht nach den Profitinteressen einer besitzenden Klasse durchgeführt. (...) Wer ... von einer Mangelwirtschaft in der DDR spricht, hat sich in der Welt nicht umgesehen und mißt mit der kapitalistischen Elle des Überflusses und der Verschwendung ...

    Der Grundstein für die Entwicklung hin zu einer kommunistischen Gesellschaft war in der DDR also gelegt. Wie schön, wenn wir da erst mal wieder wären.
    Ja, wie schön wäre es, wenn wir die paradiesischen Zustände hätten, die Viett weiter so schildert:
    Ein hervorragendes Arbeitsrecht und eine komplexe Sozialgesetzgebung, einschließlich Gesundheits- versorgung und Erholungswesen, sicherten die Grundbedürfnisse der Bevölkerung auf hohem Niveau. Das sozialistische Bildungs- und Kulturwesen hat ganz allgemein eine gesamtgesellschaftliche, humanistische Grundhaltung begünstigt.
    Wie kommt es nun aber, daß so viele Menschen einfach nicht erkennen wollen, was für ein wunderbarer Staat die DDR gewesen ist? Auch dafür hat Inge Viett eine Erklärung:
    In der tiefen Krise organisiert sich die BRD-Elite auf allen Ebenen eine Geschichtspropaganda, die ihresgleichen nur im Faschismus kennt. Eine ausgehöhlte bürgerliche Demokratie baut sich ein Monstrum "Unrechtsstaat DDR", damit ihr eigenes im Verfall begriffenes System dagegen immer noch schick aussieht. Damit sich Krieg, Repression, Armut, Überwachung, geistiges und kulturelles Elend und eine diktatorische Profitökonomie hinter diesem konstruierten Monster verstecken können.


    Als nach dem Ende der DDR publik wurde, daß Viett und GenossInnen ihre Zuflucht in der DDR gefunden hatten, haben sich viele gefragt, wie das denn zusammenpassen konnte - diese "anarchistischen" Revoluzzer, die man sich als eine Mischung aus Robin Hoood und dem "Kesselheizer der Revolution" Max Hölz vorstellte, und die dröge, bürokratisierte DDR, dieses Muster an kleinbürgerlicher Langeweile.

    Wer das fragte, der hatte das Wesen der RAF völlig verkannt. Sie wollte Verhältnisse wie in der DDR herbeibomben.

    Das verstand man damals in der Bundesrepublik nicht, wo nicht einmal bekannt war, daß Ulrike Meinhof bis zu ihrem Tod Mitglied der KPD bzw. der DKP war. Das MfS hatte es hingegen sofort verstanden.

    Es half der RAF ja nicht nur damit, daß man Kadern nach ihrer Kampfzeit Aufnahme gewährte. Sondern ohne die ständige Unterstützung durch das MfS, beispielsweise die vom MfS organisierten Schleusungen von RAF-Mitgliedern über den Flughafen Schönefeld, hätte die RAF ihren "Kampf" kaum führen können.

    Wenn Inge Viett jetzt ihre Begeisterung für die DDR zu Protokoll gibt, dann braucht sie dafür nichts von der Ideologie aufzugeben, die sie einst in den "bewaffneten Kampf" geführt hatte. Zu Recht macht sie in ihrem Vortrag darauf aufmerksam, daß die DDR ohne das Instrument des Zwangs nicht entstanden wäre:
    Wenn wir uns heute die damaligen materiellen Bedingungen vergegenwärtigen, (...) dann scheint mir der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ein gigantischer Kraftakt gegen die objektiven Bedingungen gewesen zu sein. In diesem Kraftakt war auch der politische Zwang ein unbedingt notwendiges Instrument.


    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Fahndungsplakat aus dem Jahr 1972 mit Fotos von Mitgliedern der "ersten Generation" der RAF-Terroristen. Inge Viett gehörte der "zweiten Generation" an.

    Zitat des Tages: "Die Berichterstattung ist einseitig". Israel und die deutschen Medien

    FAZ: Aber warum solidarisieren sich trotzdem immer mehr Europäer mit den Palästinensern?

    Peres: Weil sie unter dem Einfluss der Medien stehen. Deren Berichterstattung über Terroranschläge ist einseitig. Ich kritisiere das nicht, aber sie können nun einmal einen Terroristen nicht dabei fotografieren, wenn er eine Autobombe zündet oder jemanden erschießt. Sie fotografieren nur unsere Reaktion darauf. Die Öffentlichkeit gewinnt so den Eindruck, wir wachten am Morgen auf, hassten die Araber und handelten entsprechend. Das ist Unsinn, aber dieser Kampf ist verloren. Wir wurden zum Beispiel gefragt, warum während des letzten Krieges unsere Kinder nicht getötet wurden. Antwort: Wir verteidigten unsere Kinder eben, die Hamas- Kämpfer versteckten sich hinter ihren.


    Der israelische Staatspräsident Schimon Peres heute im Gespräch mit Klaus- Dieter Frankenberger und Hans- Christian Rößler von der FAZ.


    Kommentar: Der Besuch von Präsident Peres in Deutschland findet bisher nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.

    Im ZDF- "Mittagsmazin" gab es heute eine kurze Meldung; eine knappe Viertelstunde nach Beginn der Sendung. Kein Korrespondentenbericht, keine Statements, kein Kommentar.

    Die ARD-"Tagesschau" um 14 Uhr brachte an vierter Stelle, nachdem unter anderem ausführlich über die Partei "Die Linke" berichtet worden war, eine Meldung von genau 30 Sekunden über den Staatsbesuch.

    Der Besuch jedes afrikanischen Potentaten fände mehr Beachtung.

    Auf den Startseiten von "süddeutsche.de", "Spiegel- Online" und "Welt- Online" kommt der Besuch im Augenblick nicht vor. "Zeit- Online" übernimmt einen Artikel von Hans Monath im "Tagesspiegel", der sich aber überhaupt nicht mit dem Staatsbesuch oder dem deutsch- israelischen Verhältnis befaßt, sondern mit der iranischen Atomrüstung.

    Das (ausführliche und lesenswerte) Gespräch der FAZ mit Peres, aus dem das Zitat stammt, ist eine rühmliche Ausnahme.

    Dieses Verhalten der führenden deutschen Medien paßt exakt zu dem, was Peres in dem Zitat anspricht: Über Israel wird in den meisten deutschen Medien wenn überhaupt, dann in einem negativen Kontext berichtet. Die Greueltaten arabischer "Kämpfer", die sich hinter Kindern verschanzen und die ihre Raketen wahllos auf israelische Zivilisten abfeuern, werden selten kritisiert; umso mehr das Vorgehen der isrelischen Truppen zum Beispiel im Gaza- Krieg.

    Es ist das Weltbild der Linken, das auch hier seinen Einzug in fast die Gesamtheit der großen Medien gehalten hat. Der Grundsatz zu Israel, den einst Axel Springer als zweiten seiner fünf Unternehmensgrundsätze formulierte ("Das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, hierzu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes") mutet heute wie ein Ruf aus fernen Zeiten an.

    Es war eben nicht die Linke, sondern es waren Konservative wie Adenauer, die sich um das deutsch- israelische Verhältnis verdient gemacht haben. Dazu der Sozialdemokrat Peres in dem Gespräch im Rückblick auf diese Zeit:
    Deutschland unterstützte Israel mit ziviler Hilfe, aber auch mit Waffenlieferungen. Ich verstand mich gut mit dem damaligen Verteidigungsminister Strauß. Dessen schäme ich mich nicht. Ich bin stolz darauf, dass uns in Deutschland konservative Parteien beistanden, damit wir uns selbst verteidigen konnten. Für mich schließt sich ein Kreis, der von meiner Kindheit bis zum heutigen Tag reicht. Das lässt mich überhaupt nicht unberührt.
    Immer mehr Deutsche aber läßt, so scheint es, das Verhältnis zu Israel durchaus unberührt.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    25. Januar 2010

    Marginalie: Die wichtigsten politischen Themen für die Franzosen. Heute Abend spricht Präsident Sarkozy mit Bürgern

    Heute Abend gibt es im französischen Staatsfernsehen TF1 eine für Frankreich ungewöhnliche Sendung: Der Staatspräsident hält nicht eine allocution, eine Ansprache, wie das de Gaulle gern tat; mit einem auswendig gelernten Text und großen Gesten. Er läßt sich auch nicht von handverlesenen Journalisten befragen, wie das de Gaulles Nachfolger bevorzugten.

    Sondern Sarkozy stellt sich dem Volk - vertreten durch zehn mehr oder weniger repräsentativ ausgewählte Bürger -, nachdem er zuvor ungefähr eine Viertelstunde, sozusagen zum Aufwärmen, die Fragen der Journalistin Laurence Ferrari beantwortet hat. Einen Vorausbericht zu der Sendung kann man hier als Video sehen.

    Die Bürger wurden repräsentativ für bestimmte Themenbereiche ausgesucht - für die Arbeitslosigkeit also ein Arbeitssuchender, für die Probleme der Landwirtschaft ein Bauer und dergleichen mehr. Welches sind aber tatsächlich die Probleme, die den Franzosen im Augenblick vorrangig erscheinen?

    Dazu hat der Nouvel Observateur beim Institut LH2 eine Umfrage in Aufrtag gegeben, deren Zusammenfassung der Nouvel Observateur heute publiziert. Die Befragung ist ganz aktuell; die Daten wurden am vergangenen Freitag und Samstag erhoben. Die Ergebnisse im Detail bietet LH2 jetzt als PDF-Datei an.

    Als das wichtigste Thema sehen die Franzosen die Arbeitslosigkeit an (48 Prozent).

    An zweiter Stelle liegt mit 39 Prozent die Reform des Rentensystems. Sie steht Frankreich noch bevor, wo gegenwärtig noch viele Berufstätige - vor allem die im öffentlichen Dienst - bereits mit 60 Jahren, teils noch früher, volle Rentenansprüche haben. Im vergangenen Jahr wurde zu diesem Thema eine große Debatte eröffnet.

    Es folgt auf Platz drei die Inflation (32 Prozent). In Frankreich trägt das Thema aber üblicherweise nicht diese Bezeichnung, sondern es heißt Kaufkraft (pouvoir d'achat). Vor allem die Jungen (41 Prozent der 18 bis 24jährigen) und die Arbeiter (43 Prozent) sehen dieses Thema als wichtig an.

    Alle anderen Themen werden als weniger bedeutsam betrachtet: Die Begrenzung der hohen Einkommen (18 Prozent), das Kopftuchverbot (17 Prozent), die geplante CO2-Steuer (14 Prozent), die Kommunalreform (11 Prozent) und ganz am Schluß die Debatte über nationale Identität (9 Prozent), die zwar viel Staub aufwirbelte, aber den Franzosen offenbar nicht unter die Haut geht (siehe zu dieser Debatte Die Debatte über nationale Identität wird heftiger; ZR vom 9. 12. 2009).

    Für Sarkozy ist diese Sendung wichtig, denn seine Popularität ist mit 42 Prozent positiven und 55 Prozent negativen Beurteilungen im Keller. Im ersten Amtsjahr nach seiner Wahl im Frühjahr 2007 hatte Sarkozy noch gute Werte gehabt; mit einem Spitzenwert von 67 Prozent Zustimmung im Juli 2007. Dann ging es bergab. Ich habe diesen Abstieg Sarkozys in der Serie "Gedanken zu Frankreich" kommentierend verfolgt; siehe die Folgen 21 bis 23 der Serie.

    Seit dem März 2008 liegt Sakozys Premierminister François Fillon deutlich vor dem Präsidenten. Im Augenblick hat er mit 55 Prozent Zustimmung nicht nur einen weit besseren Wert als Sarkozy, sondern auch den besten Wert, den er selbst jemals erreicht hat.

    Die Differenz zwischen Fillon und Sarkozy zeigt, daß es nicht primär die Politik des Präsidenten ist, die ihm die schlechten Werte einbringt. Es ist sein egozentrisches Auftreten, sein Stil. Es fehlen ihm die Würde und die Souveränität, die viele Franzosen nun einmal von ihrem Staatspräsidenten erwarten.



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