30. Januar 2010

Zitate des Tages: "Als Kriegsverbrecher wurde Tony Blair nicht demaskiert". Deutsche Medien berichten über die Sitzung der britischen Irak-Kommission

Die Chilcot-Kommission soll nun klären, wer recht hat. Fünf Mitglieder gehören dem Gremium an, vier ältere Herren, eine Baroness. Dutzende von Zeugen haben sie bereits gehört. Der Ton ihrer Fragen ist akademisch, nicht inquisitorisch, und oft war dies beklagenswert. Keiner von ihnen ist Jurist - im Gegensatz zum findigen Blair, der sich bei den Fragen zur Legalität des Krieges mühelos aus der Bedrängnis winden konnte.

Marco Evers in ""Spiegel- Online" zur gestrigen Aussage von Tony Blair vor der Iraq Inquiry; der sogenannten "Chilcot- Kommission", deren Auftrag es ist, die Hintergründe der britischen Beteiligung am Irakkrieg aufzuklären.


Als Tony Blair nach sechs Stunden das Gebäude verließ, hatte er noch einmal unter Beweis gestellt, wie sehr dieser so lange allseits geschätzte Premier mit Worten umgehen kann. Mehr aber auch nicht.

Aus dem Bericht des Heute-Journals des ZDF gestern Abend um 22.00 Uhr zum selben Thema.


Als Kriegsverbrecher wurde Tony Blair nicht demaskiert. Dazu agierte er zu klug, manche würden sagen zu glatt. Zuversicht hätte er aus der Adresse des Queen Elizabeth Conference Centre schöpfen können: Little Sanctuary, die kleine Freistatt. Nach mittelalterlichem Recht genossen Kriminelle hier Schutz vor dem Zugriff der Staatsgewalt.

Wolfgang Koydl in der heutigen "Süddeutschen Zeitung" unter der Überschrift "Blut, Schweiß und Lügen" zum selben Thema.


Kommentar: Der "findige Blair" konnte sich "mühelos aus der Bedrängnis winden". Er hat gezeigt, daß er "mit Worten umgehen kann. Mehr aber auch nicht". Er wurde "als Kriegsverbrecher ... nicht demaskiert", weil er "zu glatt" agitierte; und er kann "Zuversicht" daraus "schöpfen", daß dort, wo er seine Aussage machte, "Kriminelle ... Schutz vor dem Zugriff der Staatsgewalt" genossen.

So urteilen das "Heute Journal", so urteilt die "linksliberale" SZ, so urteilt das größte Informations- Portal im deutschen Internet, "Spiegel- Online", über die gestrige Aussage von Tony Blair vor der Chilcot- Kommission.

Die Verhandlungen der Kommission wurden gestern von CNN übertragen. Ich habe von den sechs Stunden ungefähr vier gesehen; die letzte Stunde der Vormittags- Sitzung und alle der Nachmittags- Sitzung; ich habe hier im Blog auf die Übertragung aufmerksam gemacht (Tony Blair zur Vorgeschichte des Irakkriegs. Die große Lüge; ZR vom 29. 1. 2010).

Ich bezweifle, daß diejenigen, die über Blair so urteilen wie zitiert, auch nur eine Stunde der Verhandlungen gesehen haben.

Ein vollständiges Video oder ein Wortprotokoll der Sitzung habe ich im Web noch nicht finden können; aber der - sehr Blair- kritische - Blog Iraq Inquiry Digest stellt Kurzprotokolle sowohl der gestrigen Vormittags- Sitzung als auch der Nachmittags- Sitzung zur Verfügung.

Blair berichtete detailliert über die Einschätzungen so gut wie aller Geheimdienste vor der Invasion, daß Saddam Hussein über biologische und chemische Waffen verfügte und daß er ein Atomwaffenprogramm verfolgte.

Er schilderte die Überlegungen, die zu den diplomatischen Vorstößen der USA und Englands im Weltsicherheitsrat und zur Entsendung einer Invasionsarmee an die Grenzen des Irak führten. Er ging detailliert auf die Resolutionen des Weltsicherheitsrats ein; insbesondere auf die Frage, inwieweit die Resolution 1441 eine ausreichende juristische Grundlage für die Invasion gewesen war.

Tony Blair schilderte auch offen, wo nach seinem heutigen Urteil Fehler gemacht wurden: Man habe erwartet, daß nach der Entmachtung Saddams die Verwaltung des Irak weiter funktionieren und für den Aufbau einer Demokratie würde eingesetzt werden können. Das erwies sich, sagte Blair, als ein Irrtum, weil in diesem von der Dikatur zerstörten Staat keine intakten Strukturen mehr vorhanden waren. Er ging auch darauf ein, daß man auf die Herausforderungen nach dem Sieg und auf eine lange Besatzung zu wenig vorbereitet gewesen war.

Blairs Zeugenaussage war - siehe dazu auch meinen Kommentar zur Vorgeschichte des Kriegs in Zettels kleinem Zimmer - ein Lehrstück in Zeitgeschichte. Blair lieferte überzeugende Begründungen für seine Entscheidungen; vom Vorwurf der Lüge blieb nichts übrig.



Wie sind dann solche abwegigen Beurteilungen der Aussagen Blairs möglich wie die zitierten? Ich weiß es nicht. Es scheint, daß es ein Maß an Voreingenommenheit gibt, das gegen jede Aufnahme von Information immunisiert; sei es, daß man gar nicht anhört, was der Betreffende vorträgt, sei es, daß man es nicht verstehen will.

Man mag den Irakkrieg für richtig oder für einen Fehler halten. Der Vorwurf jedenfalls, daß Bush und Blair gar nicht an die Existenz von Massenvernichtungs- Waffen im Irak geglaubt, sondern die Öffentlichkeit darüber belogen hätten, ist ohne Substanz. Es gibt dafür nicht den Schatten eines Belegs.

Redet also Tony Blair, wenn er die damaligen Kenntnisse und Abläufe schildert, gegen eine mediale Wand? Nicht ganz; noch nicht einmal in Deutschland ist das durchgängig so.

Es gab gestern nicht nur von politischen Vorurteilen geprägte Berichte und Kommentare von der Art der drei zitierten. Es erschienen auch Artikel, deren Autoren sich um Sachlichkeit bemühten. In der FAZ, wo ich das erwartet hatte. Zu meiner Überraschung aber auch bei "Zeit- Online".

Dort ist die Überschrift zwar reißerisch ("Blair verweigert jede Reue"; als gäbe es einen Anlaß zur Reue), aber der Text von Jürgen Krönig, freier Journalist mit Sitz in London, ist bemerkenswert sachlich. Er schreibt:
Vielmehr nutzte Blair die sechs Stunden dauernde Befragung, um immer wieder an Aspekte und Fakten zu erinnern, die in den zumeist hoch emotionalisierten Diskussion über den Irakkrieg häufig vergessen werden. An die Existenz von Saddams Massenvernichtungs- waffen glaubten damals nicht nur die Regierungen in London und Washington, sondern viele, ob Inspektoren der UN oder französische wie deutsche Geheimdienste. (...)

Blair erinnerte an den Bericht der internationalen Untersuchungskommission, die im Irak nach der Invasion nach Massenvernichtungswaffen gesucht und keine gefunden hatte. Darin hieß es, zwar hätten sich alle Geheimdienste geirrt. Aber das, was sie gefunden hätten, nämlich Pläne für ABC-Waffen, fertig in der Schublade liegend, und das vorhandene Knowhow, sie zu bauen, ließen nur einen Schluss zu: Das Regime sei noch gefährlicher gewesen als angenommen. (...)

In der vergangenen Woche wurde von der Untersuchungskommisson die Frage der Legalität oder Illegalität des Krieges behandelt. Doch handelt es sich dabei ganz gewiss nicht um die Kernfrage des Konfliktes. Internationales Recht ist nicht in Stein gemeißelt, es wird durch politische Entscheidungen weiter entwickelt. Am Ende geht es um die Bewertung der politischen Entscheidung, in den Krieg zu ziehen; eine Entscheidung, auch das wird gerne vergessen, der im März 2003 das britische Parlament mit großer Mehrheit zugestimmt hatte.
Krönig hat offenbar die Aussage von Blair angehört, bevor er seinen Bericht schrieb; und er informiert den Leser, statt die immer gleichen unbewiesenen Unterstellungen herzubeten.

Ich bin gespannt, ob die Redaktion von "Zeit- Online" es bei diesem Bericht beläßt, oder ob sie nicht vielleicht einen Artikel oder Kommentar nachschiebt, der die politisch korrekte "linksliberale" Sicht auf Blair wieder herstellt.



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