21. September 2007

Marginalie: Sarkozy der Kannibale

Eben habe ich den neuen "Nouvel Observateur" aus dem Briefkasten geholt - und bin doch sozusagen ein wenig zurückgeprallt, als ich die breit über dem Foto eines schamanenhaft blickenden Nicolas Sarkozy stehende Titelzeile las: "Le président cannibale".

Was Hervé Algalarrondo, altgedienter Pariser Journalist und stellvertretender Politik- Chef des Obs, da schreibt, das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Der Präsident kannibalisiere sein Kabinett, indem er alle Kompetenzen an sich reiße:

"Tous des nuls; sauf moi. Si Sarkozy fait tout; c'est bien entendu parce qu'il sait tout faire mieux que tout le monde." Alles Nullen, außer mir. Wenn Sarkozy alles macht, dann selbstverständlich deshalb, weil er alles besser kann als alle anderen. Frankreich habe heute zwei Premierminister, zwei Wirtschaftsminister, zwei Innenminister ...

Ebenso springe Sarkozy mit seinen ausländischen Partnern um; etwa mit dem ihm eigentlich gewogenen Jean-Claude Juncker.

Und Angela Merkel? Dazu Algalarrondo:
Qu'il traite (presque) Angela Merkel comme il traite François Fillon laisse pantois. Déjà; manifestement; dans sa tête de roi de France; se rêverait-il aussi empereur d'Europe ?

Daß er Angela Merkel (beinahe) wie François Fillon behandelt, verschlägt einem die Sprache. Schon jetzt; eindeutig; in seinem Kopf, dem eines französischen Königs; träumt er schon davon, der Kaiser Europas zu sein?
François Fillon ist Sarkozys Premierminister, den er - schreibt Carole Barjon in einem anderen Artikel im aktuellen Obs - herablassend als "meinen Mitarbeiter" bezeichnet und den er so kujoniert hat, daß der Obs bereits von einer fêlure spricht, einem Bruch zwischen den beiden.

Später im Artikel schließt Algalarrondo an das Porträt an, das die Schriftstellerin Yasmin Reza von Sarkozy entworfen hatte:
Depuis son accession à l'Elysée, Nicolas Sarkozy paraît touché par le syndrome de l'enfant-roi : je suis le plus beau, le plus fort, j'ai le droit de m'amuser avec tous les jouets, y compris ceux des autres. Le cannibalisme est la maladie infantile du sarkozysme.

Seit er ins Elysée [das Palais des Präsidenten] eingezogen ist, scheint Nicolas Sarkozy vom Das- Kind- als- König- Syndrom befallen zu sein: Ich bin der Schönste, der Stärkste, ich darf mich mit jedem Spielzeug vergnügen, auch dem, das anderen gehört. Der Kannibalismus ist die Kinderkrankheit des Sarkozysmus.


Yasmina Reza, die Schriftstellerin und Bühnenautorin, hatte Sarkozy während des Wahlkampfs begleitet und darüber ein Buch geschrieben, in dem sie ihn - nicht ohne Sympathie - als einen kindlichen Menschen schildert, wenn auch ein sehr charmantes Wunderkind.

Ich habe den Eindruck, daß die Franzosen sich die Augen reiben, schon zum zweiten Mal in kurzer Folge:
  • In den vergangenen Jahren und dann vor allem im Wahlkampf hatten viele Sarkozy als einen finsteren Law- and- Order- Mann gesehen.

  • Dann waren sie angenehm überrascht, als sie einen modernen Präsidenten bekamen, voller Reformeifer, zuerst scheinbar Erfolg an Erfolg reihend.

  • Und jetzt erschrecken sie zunehmend über diesen Hans- Dampf- in- allen- Gassen, diesen Irrwisch, diesen Egomanen, diesen hyperaktiven Macher.


  • Im April habe ich geschrieben, daß Sarkozy mich an Louis de Funès erinnert. Inzwischen hat sich dieser Eindruck sehr verstärkt.

    Im Film ist ein Louis de Funès lustig.

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    20. September 2007

    Marginalie: "Wir wollen Spanien zurückerobern", sagt Al-Zawahiri

    Worin liegt eigentlich das Interesse der El Kaida an Europa? Meist wird argumentiert, man betrachte die Europäer - jedenfalls Staaten wie England und die Bundesrepublik - als Alliierte der USA und insofern als Feinde.

    Das ist aber wohl zu kurz gesprungen: Die El Kaida nimmt Europa auch deshalb ins Visier, weil sie Teile Europas für den Islam erobern möchte; aus ihrer Sicht: zurückerobern.

    Deutlich wie noch nie zuvor hat das soeben die Nummer zwei der El Kaida, Al-Zahawiri, in einer Video-Botschaft mitgeteilt. Aus der von "Middle East Online" zitierten englischen Übersetzung:
    "O our Muslim Ummah (community) in the Maghreb of ribat and jihad (land of resistance and holy war): restoring Al-Andalus (Spain) is a trust on the shoulders of the Ummah in general and on your shoulders in particular," he said. "You will not be able to do that without first cleansing the Maghreb of Islam of the children of France and Spain."

    "An euch, unsere muslimische Gemeinschaft im Maghreb des Widerstands und des Heiligen Kriegs: Die Wiederherstellung von El Andalus ist eine Verpflichtung, die auf den Schultern der ganzen muslimischen Gemeinschaft und auf euren Schultern im besonderen ruht", sagte er. "Ihr werdet das nicht tun können, ohne zunächst den Maghreb des Islam von den Kindern Frankreichs und Spaniens gesäubert zu haben."
    Weniger blumig ausgedrückt: Die El Kaida will zuerst die in Nordafrika lebenden Franzosen und Spanier vertreiben, um dann den Maghreb als Sprungbrett für eine Eroberung Spaniens für den Islam zu gewinnen.

    Naja, vielleicht nicht ganz Spaniens. Vielleicht ist man ja bescheiden und gibt sich mit dem Teil Spaniens zufrieden, der um das Jahr 1030 vom Islam beherrscht wurde.

    Das dürfte, nicht wahr, so ungefähr die Zeit sein, in der die El Kaida geistig zu Hause ist.

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    18. September 2007

    Randbemerkung: Eine Erinnerung an den Herbst 1977, aus gegebenem Anlaß

    Oktober 1977: Nachdem die "Landshut" in Mogadischu gelandet war, standen Helmut Schmidt und der Krisenstab vor einer Entscheidung mit den folgenden Optionen und ihren möglichen Folgen:
    Option 1: Die Stammheimer Häftlinge in ein Land ihrer Wahl ausfliegen. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Die Passagiere werden freigelassen.
  • Hanns-Martin Schleyer wird freigelassen.
  • Die Terroristen haben einen Erfolg errungen, der ihrer Organisation weitere Mitglieder zuführen, der sehr wahrscheinlich neue Entführungen nach sich ziehen wird.
  • Das Ansehen des Staats ist massiv beschädigt. Viele Bürger fragen sich, ob der Staat sie überhaupt noch gegen den Terrorismus schützen kann.
  • Option 2: Weiter hinhaltend taktieren. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Die Terroristen machen ihre Drohung wahr, die Geiseln, die sie bereits mit Alkohol übergossen hatten, durch das Zünden von Handgranaten zu ermorden.
  • Schleyer wird ermordet.
  • Die Aktion der Entführer ist gescheitert. Welche Folgen das für die weitere Entwicklung des Terrorismus haben wird, ist ungewiß - vielleicht Resignation, vielleicht eine weitere Brutalisierung der Terroristen.
  • Das Ansehen des Staates ist beschädigt, aber in erheblich geringerem Maß als bei der ersten Option. Es gibt eine öffentliche Diskussion darüber, ob man Schleyer und die Geiseln nicht durch Nachgeben hätte retten müssen.
  • Option 3: Den Versuch einer Befreiung der Passagiere durch die GSG 9 unternehmen. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Das Schicksal der Passagiere ist ungewiß. Im ungünstigsten Fall gelingt es den Terroristen, sie zu ermorden, bevor sie befreit werden konnten. Im günstigsten Fall werden alle Passagiere gerettet. Der wahrscheinlichste - jedenfalls vom Krisenstab offensichtlich als der wahrscheinlichste angenommene - Fall ist, daß die meisten Passagiere gerettet werden können, daß es aber Opfer unter ihnen und den GSG-9-Männern gibt.
  • Hanns-Martin Schleyer wird ermordet.
  • Die Terroristen haben eine schwere Niederlage erlitten. Wahrscheinlich wird sie das schwächen, möglicherweise aber auch nur dazu führen, daß sie danach auf Entführungen verzichten und nur noch Morde begehen.
  • Der Versuch der Terroristen, das Ansehen des Staats zu untergraben, ist gescheitert. Der demokratische Rechtsstaat geht gefestigt aus dieser Krise hervor.


  • Was sprach jeweils für, was gegen diese Optionen?

  • Unter dem Gesichtspunkt, Menschenleben zu retten, hätte der Option 1 der Vorzug gegeben werden müssen. Sowohl Option 2 als auch Option 3 bedeutete den Tod von Schleyer. Option 2 bedeutete außerdem den sicheren Tod der Passagiere, Option 3 den wahrscheinlichen Tod eines Teils der Passagiere.


  • Für die Option 3 sprachen allein Gesichtspunkte, die auf die zu erwartende zukünftige Entwicklung bezogen waren - was das Ansehen des Staats, was die Entwicklung des Terrorismus anbetraf.


  • Ob die Entscheidung für Option 3 statt für Option 2 tatsächlich Menschenleben retten würde, war ungewiß. Im ungünstigsten Fall hätte Option 2 mehr Menschenleben kosten können als Option 2 (nämlich nicht nur das der Passagiere und der Besatzung der "Landshut", sonderen auch noch das der eingesetzten GSG-9-Männer).



  • Unter dem alleinigen Gesichtspunkt, Menschenleben zu retten, hätte man sich für die Option 1 entscheiden müssen. Es sei denn, man hätte "aufgerechnet", wieviele potentielle Opfer von Entführungen vermieden werden könnten, wenn man jetzt einen oder möglicherweise viele Menschen opferte.

    Mit Bezug auf das GG hat damals der Sohn von Hanns- Martin Schleyer, Hanns- Eberhard Schleyer, im Namen der Familie beim BVG einen Eilantrag gestellt, der die Bundesregierung verpflichten sollte, die Stammheimer Häftlinge gegen Hanns-Martin Schleyer auszutauschen, um dessen Leben zu retten.

    Dieser Antrag wurde abgelehnt, in einer denkwürdigen Urteilsverkündigung, zu ungewöhnlicher Stunde. Kürzlich hat der damalige Vorsitzende, Ernst Benda, die Überlegungen des Senats noch einmal erläutert:
    Im Kern haben wir argumentiert, dass der Staat zwar verpflichtet war, das bedrohte Leben Schleyers zu schützen und zu bewahren. Er musste also alle geeigneten polizeilichen Mittel einsetzen, um ihn aufzufinden und zu befreien. Bei einer Verpflichtung zum Nachgeben auf die Forderungen der Entführer durch das Gericht hätte aber eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit bestanden, dass in künftigen Fällen die Reaktion des Staates berechenbar wird. Damit wären die nächsten Entführungen vorprogrammiert gewesen. Damit wäre nicht nur das konkret bedrohte Leben weiterhin gefährdet gewesen, sondern eine größere Zahl von weiteren Menschenleben. Ich halte diese Argumentation bis heute für zwingend und sehe keine Alternative, die erträglich ist.


    Das Gericht hat also damals dem Staat anheimgestellt, die Wahrscheinlichkeit, mittels Option 1 das Leben Schleyers zu retten, gegen die Wahrscheinlichkeit "aufzurechnen", daß dann weitere Entführungen mit weiteren Opfern zu erwarten wären.

    Ich denke, die Erinnerung an die damalige Situation, an die Entscheidung des Krisenstabs und an das Urteil des BVG könnten hilfreich sein für die momentane Diskussion über die Äußerungen von Verteidigungsminister Jung.

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    Randbemerkung: Der Verteidigungsminister, die Moral, das Recht

    Nehmen wir an, folgendes würde eintreten:
    Auf einem Flughafen mit schlechten Sicherheits- Vorkehrungen irgendwo in Europa oder an seiner Peripherie gelingt es bewaffneten Terroristen, zwei Flugzeuge zu besteigen. Sie entführen sie und erzwingen einen Flug in Richtung Deutschland.

    Das erste dieser Flugzeuge wird nach Frankfurt gelenkt und dort gegen ein Hochhaus des Bankenviertels geflogen. Das zweite ist im Anflug auf ein AKW. Die Terroristen teilen über Sprechfunk mit, daß sie beabsichtigen, es auf dieses AKW stürzen zu lassen.

    Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie das verhindert werden kann: Entweder gelingt es mutigen und selbstlosen Passagieren, die Terroristen zu überwältigen und damit das Flugzeug vor diesem Ziel zum Absturz zu bringen, wie an 9/11 in über Pennsylvania. Oder es gelingt, das Flugzeug abzuschießen.



    Verteidigungsminister Jung hat erklärt, er werde in einem solchen Fall den Abschuß befehlen:
    Der Staat müsse seine Bürger schützen, sagte der CDU-Politiker am Montag am Rande eines Sicherheitskongresses in Berlin. Bis es eine verfassungsrechtliche Klarstellung gebe, gelte daher das Recht des übergesetzlichen Notstands.
    Das hat Jung heftige Kritik eingebracht - und zwar auch von denjenigen, die in ihrer politischen Vergangenheit nicht unbedingt als Verteidiger des Rechtsstaats hervorgetreten sind.

    Aber auch von Demokraten gibt es, wie anders, schwerwiegende Bedenken gegen das, was Jung gesagt hat. Und der Vorsitzende des "Verbandes der Besatzungen strahlgetriebener Kampfflugzeuge der Deutschen Bundeswehr" (VBSK), Thomas Wassmann, sagte, er empfehle den Kampfpiloten, die Ausführung eines solchen Befehls zu verweigern.



    Wie kommt der Verteidigungsminister Jung, ein bedächtiger Mann, dazu, etwas zu verlangen, was so massive und offensichtlich begründete Kritik auf sich zieht? Mir scheint, weil er eine Situation sieht, die so nicht weiterbestehen kann.

    Denn wenn jemals der oben beschriebene Fall - oder, wahrscheinlicher, ein anderer, aber ebenso schlimmer - eintreten sollte, dann kann ja ein verantwortlicher Minister gar nicht anders handeln, als den Abschuß zu befehlen.

    Er hat die schreckliche Wahl zwischen dem Tod der Passagiere durch Abschuß und dem Tod der Passagiere durch Absturz, plus dem Tod und der Verletzung einer unabsehbaren Zahl von Menschen am Boden. Es ist eine Variante des Trolley-Problems. Und zwar eine Variante, für die jede vernünftige praktische Philosophie nur die Auskunft geben kann, daß der Verantwortliche das geringere Übel wählen solle.

    Aber die gegenwärtige Rechtslage steht dem entgegen. Zwischen dem, was human und vernünftig ist, und dem, was das Recht zu tun befiehlt, besteht eine massive Diskrepanz.

    Wenn je der Gesetzgeber "aufgerufen" ist, eine gesetzliche Regelung herbeizuführen, dann hier. Jungs Vorstoß, wie auch den Schäubles vor ein paar Tagen, verstehe ich nicht nur als an die Öffentlichkeit gerichtet, sondern vor allem an den Gesetzgeber.

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    17. September 2007

    Marginalie: Memoiren - wie schmeckt das Salz in der Suppe?

    Memoiren schreibt, wer etwas erzählen möchte.

    Unter anderem kann er endlich das erzählen, was er schon immer gern gesagt hätte - nur mußte er es runterschlucken, solange er noch aktiv war.

    Unter anderem gehört dazu sein negatives Urteil über mächtige Zeitgenossen.

    Maliziöses, nicht nur gegen einstige Gegner, sondern oft auch gerade gegen einstige Mitstreiter, findet man folglich in vielen Memoiren. Es ist das Salz in der sonst oft eher dünnen Suppe.



    In dieser Woche erscheinen zwei Bände, die das illustrieren: In den USA die Memoiren von Alan Greenspan, langjähriger Präsident der Federal Reserve Bank, im Lauf der Jahre zu einem Denkmal seiner selbst geworden. In Frankreich ein Buch, wohl auch eine Art Memoiren, von Lionel Jospin, früherer sozialistischer Ministerpräsident, gescheiterter Präsidentschaftsbewerber, noch immer sehr einflußreich in der Sozialistischen Partei. Hübscher Titel: "L'Impasse" - "Die Sackgasse".

    Die Vorausexemplare sind in beiden Fällen verteilt, die Berichte beginnen. Zu Greenspan berichtet unter anderem die "New York Times", zu Jospin der "Nouvel Observateur".

    Beide berichten nicht über die Suppe, sondern über das Salz darin.

    Die NYT informiert uns - siehe dazu hier - , daß Greenspan in seinen Memoiren "The Age of Turbulence: Adventures in a New World" ("Das Zeitalter der Turbulenz: Abenteuer in einer neuen Welt") Präsident Bush heftig kritisiert, dazu dessen Administration, dazu auch gleich noch die Republikaner im Kongreß.

    Die Republikaner hätten ihre Prinzipien der Macht geopfert, als sie die fiskalische Disziplin aufgegeben hätten, und der Präsident habe sie nicht gestoppt. Sie hätten es - schreibt der alte Republikaner Greenspan - verdient, 2006 die Wahlen zu verlieren.



    Was dem Greenspan sein Bush, das ist dem Jospin seine Ségolène Royal. Sie sei "eine Illusion", sie sei diejenige Kandidatin gewesen "die am wenigsten in der Lage war zu gewinnen". Sie habe sich in ein "narzißtisches Verhältnis mit der öffentlichen Meinung" eingekapselt.

    Sie habe nicht verloren, weil sie eine Frau sei, sondern wegen ihrer "realen Unzulänglichkeiten". Sie sei eine Persönlichkeit, die "weder die menschlichen Qualitäten noch die politischen Fähigkeiten" habe, um die Ränge der sozialistischen Partei wieder zu schließen. Kurz, sie sei eine "sekundäre Figur des politischen Lebens".



    Vor Tisch las man's anders - bei Greenspan wie bei Jospin. Jetzt servieren sie uns ihre Suppe, die gesalzene.

    Freilich - wenn man, wie es die NYT tut, wie es der Obs tut, aus der Suppe sozusagen das Salz herausdestilliert und uns dessen Geschmack als den der Suppe anbietet, dann ist das irgendwie auch keine sehr faire Restaurant- Kritik.

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    16. September 2007

    Marginalie: "Schlag den Raab!" Der Tom-und-Jerry- Effekt

    Gestern bin ich beim Herumzappen in eine Sendung geraten, deren Namen ich schon gelesen, die ich aber noch nie gesehen hatte: "Schlag den Raab!". Ich bin dort hängengeblieben, d.h. sie lief im Hintergrund, während ich am Rechner saß. Und es machte mir Spaß, sie dort laufen zu haben.

    Worin bestand dieser Spaß, worauf basierte er?

    Die Sendung war in Konzept und Realisierung so öde, wie eine Sendung nur sein kann. Zwei Männer, die mal gegeneinander liefen, mal die Kugel stießen, mal Memory spielten. Der jeweilige Sieger bekam Punkte, und am Ende gab es noch ein Stechen in Gestalt des beliebten Werfens auf Blechdosen, das schon in meiner Kindheit der Knüller auf der Dorfkirmes gewesen ist, weil es auch damals, in der Nachkriegszeit, leere Dosen gab.

    Warum also habe ich mir diesen unsäglichen Schund angesehen? Aus einem einzigen Grund: Da spielte ein Underdog gegen einen arroganten Fiesling. Darauf hoffte ich, darauf spekulierte ich: Daß der stille, aber drahtige Martin es dem bräsigen Grinser Stefan Raab zeigen würde.

    Was er ja denn auch tat, wenn auch denkbar knapp.



    Nur weil es einen Kampf "Underdog gegen Leitwolf" gab, habe ich dieses Gewerfe und Gequatsche nicht abgeschaltet. Ein sehr irrationales, also ein vermutlich sehr normales Verhalten. Wir sind, wenn es Tom gegen Jerry geht, auf der Seite von Jerry, und zwar spontan und emotional.

    Ich frage mich, wieviel an politischen Entscheidungen, an emotionaler Parteinahme diesem Tom- und- Jerry- Effekt zu verdanken ist.

    Die Kurden - ein "kleines, unterdrücktes" Volk. Also sind viele auf ihrer Seite. Die Hartz-4-Empfänger. Die "Kinderarmut" (womit nicht gemeint ist, daß Familien wenige Kinder, sondern daß Kinder wenig Geld haben). Selbst die Sorge um die "geschundene Natur" hat Momente einer solchen Parteinahme für den Schwächeren.

    Wieviele, die im Nahost- Konflikt auf der Seite Israels stehen, tun dies wohl, weil sie in Israel ein kleines Land sehen, das sich verzweifelt einer arabischen Übermacht erwehrt? Wieviele, deren Sympathien auf der arabischen Seite sind, sehen wohl spiegelbildlich die Palästinenser als die Underdogs, von den reichen und überlegenen Israelis kujoniert?

    Wir sind auf der Seite von Jerry, wen immer wir als den jeweiligen Jerry sehen. Und wir sind gegen Tom. Also sind viele gegen den Tom aller Toms, die USA. Mit dem Super-Tom Bush an der Spitze.

    Sie können tun, was sie wollen, die USA, Präsident Bush - sie lösen offenbar bei vielen Menschen ungefähr dieselben Empfindungen aus wie bei mir der grinsende, breitbeinige Stefan Raab. Weil sie die Stärkeren sind.

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    15. September 2007

    Marginalie: Afghanistan und die "Grüne Seele"

    Welches ist die Partei, deren Anhänger mit der größten Mehrheit für eine Verlängerung des Bundeswehr- Einsatzes in Afghanistan sind?

    Nein, nicht die CDU, auch nicht die FDP. Sondern es sind die Grünen. Das jedenfalls besagt das gestern gesendete Politbaromenter des ZDF. 68 Prozent der Anhänger der Grünen sind für eine Verlängerung. Bei der Union sind es 59 Prozent, bei der FDP 53 Prozent.



    Eben ging die Bundesdelegiertenversammlung der Grünen zu Ende. Dort hat eine Mehrheit von 361 Delegierten einem Antrag zugestimmt, der den Abgeordneten im Bundestag empfiehlt, eine Verlängerung des Mandats für den Afghanistan- Einsatz der Bundeswehr abzulehnen.

    Für einen Leitantrag des Vorstands, der den Abgeordneten - eigentlich in einer Demokratie selbstverständlich - die Abstimmung freistellt, stimmten nur 264 Delegierte.

    Eine interessante Situation. Die Wähler der Grünen sind für eine Verlängerung des Mandats. Die Delegierten des Parteitags sind dagegen. Der Vorstand ist nach beiden Seiten offen.

    Und die Abgeordneten? Man wird sehen. Man wird sehen, wie viele sich ihrem Gewissen mehr verpflichtet fühlen als dem, was der heutige Parteitag ihnen "empfohlen" hat.



    Als ich gestern erfahren habe, daß bei den Anhängern der Grünen die Zustimmung zum Afghanistan- Einsatz offenbar größer ist als bei den Wählern irgendeiner anderen Partei, war ich erst einmal verblüfft.

    Aber jetzt habe ich eine Hypothese. Ich weiß nicht, ob sie stimmt, aber sie kommt mir eigentlich ganz plausibel vor. Sie stützt sich auf das, was ich heute von DelegiertInnen des Parteitags gehört habe, als ich eine Zeitlang die Übertragung bei Phoenix verfolgt habe.

    Da nämlich war weniger vom Kampf gegen die Taliban die Rede, weniger von der Auseinandersetzung mit dem militanten Islamismus. Sondern die Rede war immer wieder - von Frauen.

    Fast könnte man glauben, daß für die Grünen - jedenfalls für viele von ihnen - das Thema Afghanistan sozusagen ein Unterpunkt des Frauenthemas ist. Sie sind engagiert für Afghanistan, weil sie sehen, daß sich nach der Vertreibung der El Kaida und der Taliban die Lage der Frauen dort drastisch verbessert hat.

    Wie sehr das für sie im Mittelpunkt steht, hat zum Beispiel Claudia Roth vor knapp einem Jahr in einem Interview mit der TAZ dargelegt:
    Claudia Roth: (...) Afghanistan befindet sich in der Frauenfrage an einem Scheidepunkt. Geht es nach vorn oder zurück in Rechtlosigkeit?

    taz: Woran entscheidet sich das?

    Claudia Roth: Vor allem daran, wie sich im Süden die Lage entwickelt. Dort gewinnen die talibanischen Kämpfer wieder an Einfluss. Da werden Männerschulen gebaut, um Kämpfer zu trainieren. Wenn die sich durchsetzen, werden sie die Rechte der Frauen wieder zurückschneiden. (...)
    Afghanistan, so scheint mir hiernach, stellt sich für das, was man gern die "Grüne Seele" nennt, sozusagen in zweierlei Gestalt dar: Als das Land, in dem Frauenrechte erworben wurden und wieder gefährdet sind. Andererseits aber als das Land, in dem die bösen Amerikaner einen Krieg führen, der durch Bundeswehr- Tornados auch noch unterstützt wird.

    Je nachdem, ob man das eine oder das andere in den Fokus rückt, ist man als Grüne(r) folglich für oder gegen den Bundeswehr- Einsatz in Afghanistan: Soldaten, wenn sie Brunnen bohren und Schulen einrichten - fein. Soldaten, wenn sie den Aufbau gegen diejenigen schützen, die ihn zunichte machen wollen - nein.



    Es ist, so scheint mir, die übliche Realitätsferne der Grünen.

    Daß ein Aufbau Afghanistans, daß eine Verbesserung der Lage der Frauen an eine Befriedung des Landes gebunden ist und daß diese nun einmal nur militärisch erfolgen kann - das wollen sie doch lieber nicht sehen.

    Sie scheinen zu glauben, daß die Taliban ihren Machtanspruch in Afghanistan aufgeben und friedlich abziehen werden, sobald sie nicht mehr auf militärischen Widerstand stoßen.

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    Zitat des Tages

    "Das Übel hat sich nun manifestiert".

    Philipp Raschdorff, ein Organisator des Widerstands gegen McDonalds in Kreuzberg, über die Eröffnung der McDonalds- Filiale, laut "Berliner Morgenpost".
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    Randbemerkung: Meisners List, Meisners Skandal

    Zu den knappsten Ressourcen gehört heutzutage die öffentliche Aufmerksamkeit.

    Zahllose Parteien, Verbände, Gruppen aller Art und ihre einzelnen Vertreter, dazu Stars und Promis jeder Couleur überhäufen die Medien täglich mit Pressemitteilungen, mit Interviews, mit Statements. Alle hätten sie das gern berichtet, am besten ganz vorn in der Nachrichtensendung, auf der Titelseite. Nur, wie schafft man das?

    Man kann es so machen wie Bosbach, Wiefelspütz, Claudia Roth: Den Medien sozusagen Tag und Nacht zur Verfügung stehen, zu jedem Thema etwas zu plappern haben. Am besten schon kommentieren, bevor man überhaupt weiß, wie der Sachverhalt ist.

    Ich stelle mir vor, wie in einer Nachrichtenredaktion die Zeit mal wieder drängt und wie der Chef sagt: Wir brauchen zum Thema XY noch ein Interview. Also, zackzack, Bosbach, Wiefelspütz, Roth anrufen, in dieser Reihenfolge. Und wenn keiner von denen will, dann nehmt in Gottes Namen die Käßmann. Die will immer.



    Also, das ist die eine Möglichkeit, in die Medien zu kommen - allzeit bereit zu sein. Das ist sozusagen die Aldi- Methode: Die Masse macht's. Wer das nicht will oder gar nicht kann, weil er zu arbeiten hat, dem bietet sich eine Alternative an, die allerdings erhebliches Geschick erfordert: Die begrenzte PC-Verletzung. Die Methode des exklusiven Anbieters.

    Einfach ist das freilich nicht. Wenn man die die PC-Verletzung zu hoch dosiert, dann kann man schnell in Verschieß geraten. Man hat dann zwar kurzfristig die Publicity, aber nur um den Preis, anschließend aus der Manege des Medienzirkus vertrieben zu werden. Eva Herman hat das gerade erlebt.

    Zu gering dosiert, ist die PC-Verletzung andererseits unwirksam wie ein homöopathisches Präparat, zu D24 verschüttelt.



    In dieser Methode der richtig dosierten PC-Verletzung nun ist der Kardinal Meisner ein Meister. Jetzt hat er das wieder bewiesen, als er (ich zitiere aus dem Bericht der FAZ) sagte:
    Vergessen wir nicht, dass es einen unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Kultur und Kult gibt. Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte.
    Eine interessante, eine provokative These. Gewiß nicht neu ("Verlust der Mitte" von Hans Sedlmayr erschien 1948). Aber Meisner hat sie, siehe unten, schon sehr auf die Spitze getrieben. Nur muß die Provokation ja erst einmal ihren Weg in die Medien finden.

    Das hat Meisner mit einem einzigen Wort erreicht: "entartet".

    Er hat nicht von "entarteter Kunst" gesprochen, noch nicht einmal von "entarteter Kultur". Er hat lediglich das Verbum "entarten" verwendet. Englisch "to degenerate", französisch "dégénérer". Ein gebräuchliches Verbum in allen drei, in vielen anderen Sprachen.

    Joachim Kardinal Meisner hätte auch sagen können: "... die Kultur degeneriert". Dann hätte es seine Äußerung allenfalls auf die Lokalseite der "Kölnischen Rundschau" geschafft.

    Aber "entarten" und "Kultur". Da macht es "klick" in den PC-trainierten Gehirnen. Da regt sich der pflichtgemäße Sturm der Empörung. "Erschreckend" fand ein Staatssekretär aus NRW das. Ein "gefährliches Feuer" schüre der Kardinal, befand der Grüne Michael Vesper.

    Von Roth, Wiefelspütz, Bosbach kam noch nichts. Daß es Meisner geht wie Eva Herman, braucht er nicht zu befürchten. Er hat die PC-Verletzung richtig dosiert.



    Seine Publicity hat er also, der listige Kardinal. Er hat sie für eine Äußerung, die nun wahrlich nicht nur provokativ ist, sondern die man mit Fug als skandalös bezeichnen kann.

    Nicht wegen des Verbs "entarten". Sondern weil Meisner nicht weniger behauptet hat, als daß die Kultur dort "entartet", wo sie "vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird".

    Wo sie also keinen sakralen Bezug mehr hat. Aristoteles und Kant, Galilei und Newton, Shakespeare und Lessing, Schinkel und Picasso - für Meisner sind deren Werke somit allesamt Ausdruck einer entartenden Kultur.

    Diese Behauptung, die den Geist eines religiösen Fundamentalismus atmet, hätte eigentlich einen Skandal auslösen sollen. Und nicht das harmlose Wörtlein "entarten".

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    14. September 2007

    Zettels Meckerecke: "Der Kampf ist noch nicht zu Ende"

    Steine wurden geworfen, Farbbeutel. Arbeiter wurden bedroht. Trotz dieser Aktionen hat die Bewegung vorerst eine Niederlage erlitten. Aber "der Kampf ist noch nicht zu Ende", sagte ein Sprecher. Es seien weitere Aktionen geplant. "Wir sagen aber nicht, was". So zu lesen in der heutigen "Welt".

    Wogegen wird da gekämpft, im Berliner Stadtteil Kreuzberg? Sind Mieter auf die Straße gesetzt worden, hat die Polizei geschlagen und gefoltert, ist sonst jemandem Unrecht geschehen oder steht das zu befürchten?

    Ach nein. Es ist eine "McDonalds"-Filiale gebaut worden, die heute eröffnet wurde. Geschützt von "Schwarzen Sheriffs", gegen die Kämpfer von Kreuzberg.

    Warum kämpfen sie gegen den Verkauf von Big Macs, Fritten und Chicken McNuggets, diese Kämpfer? Sie werfen McDonalds vor, "die Anwohner mit Lärm, Geruch und Müll zu belästigen."

    Schau an, die Kreuzberger Szene! Als ich das letzte Mal in SO 36 war - zugegeben, es ist schon ein paar Jahre her - , da gab es dort eigentlich eine sehr große Toleranz gegen "Lärm, Geruch und Müll". Es dröhnte aus den Fenstern, durch die Straße zogen die Gerüche der deutschen und der türkischen Küche. Und Müll meine ich auch gesichtet zu haben.

    Das Letztere vor allem allerdings auf dem TV-Bildschirm, nach den legendären Demos zum 1. Mai. Da sieht man immer die Bilder, wie die Straßenreinigung am Morgen des 2. Mai die liegengebliebenen Dokumente des gerechten Zorns des Proletariats zusammenkehrt und wegkarrt.



    Ob's also wirklich die Angst vor Lärm, Gerüchen, Müll ist, die diese Kämpfer für Kreuzberg auf den Plan gerufen hat? Oder doch vielleicht eher die Angst, daß durch den Mief ihres Kietzes ein frischer Wind wehen könnte? Der Duft der weiten Welt, sozusagen?

    Und damit vielleicht auch ein Hauch von Toleranz? Der ihnen, den Kämpfern von Kreuzberg, vielleicht einen Schimmer davon vermittelt, daß Döner- Buden das Recht haben, Döner zu verkaufen, daß der Vietnamese um die Ecke das Recht hat, seinen Eintopf zu verkaufen, und daß sogar McDonalds das Recht hat, seine Hamburger zu verkaufen?

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    Randbemerkung: Präsident Bush, Bill Gates und die Kindersterblichkeit

    Es ist ein Sachverhalt, auf den man meist nur am Rande stößt, wenn man sich die Lebensdaten bedeutender Menschen des achtzehnten, teils auch noch des neunzehnten Jahrhunderts ansieht: Wie fürchterlich hoch damals die Kindersterblichkeit gewesen ist.

    Sie hatten fast alle ein halbes Dutzend bis ein Dutzend Geschwister, die Menschen dieser Jahrhunderte, manche noch mehr. Von diesen überlebte nur eine Minderheit. Lessing hatte elf Geschwister, von denen die meisten im Kindesalter starben, Kant zehn, von denen immerhin fünf die Pubertät erreichten.

    In den Industrieländern hat sich das im Zwanzigsten Jahrhundert drastisch geändert. Jetzt scheint es sich weltweit zu ändern. Eine bemerkenswerte Entwicklung.



    Gestern hat UNICEF eine Pressemitteilung herausgegeben, die diesen Trend eindrucksvoll dokumentiert.

    Die Zahl der Kinder, die im im Alter von unter fünf Jahren starben, ist erstmals unter 10 Millionen gefallen (auf 9,7 Millionen). 1990 hatte sie noch bei 13 Millionen gelegen. Im Jahr 1960 waren, wie die "International Herald Tribune" in ihrem Bericht dazu schreibt, noch 20 Millionen Kinder gestorben, obwohl damals die Weltbevölkerung weit niedriger lag als heute.

    Mir erscheinen derartige Zahlen erwähnenswert, weil wir ja in der Regel mit Negativ- Meldungen versorgt werden, was die Lage der Armen in der Welt angeht. Tatsächlich sinkt die Armut weltweit, verbessern sich die Lebensverhältnisse in den meisten Teilen der Welt.

    Der jetzige Rückgang der Kindersterblichkeit ist besonders ausgeprägt in Lateinamerika und der Karibik, in Mittel- und Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion, Ostasien und dem Pazifik- Raum.

    Hinter der weltweiten Entwicklung zurück bleiben Südasien und vor allem das Afrika südlich der Sahara. Dort starben fast die Hälfte (4,8 Millionen) der Kinder, die nicht das Alter von fünf Jahren erreichten. Jedoch wird auch von dort ein positiver Trend gemeldet; so von Malawi, Äthiopien, Namibia, Niger, Ruanda und Tansania.



    Diese Fortschritte gehen auf bessere medizinische Versorgung, Verbesserungen in Ernährung und Hygiene, wesentlich auch auf die Eindämmung der Malaria zurück.

    Wer ist für diese Verbesserungen verantwortlich? Der Bericht sagt dazu:
    Interestingly, Unicef officials said, the new estimate comes from household surveys done in 2005 or earlier, so they barely reflect the huge influx of money that has poured into third world health in the last few years from the Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria; the Gates Foundation; and the Bush administration's twin programs to fight AIDS and malaria. For that reason, the next five-year survey should show even greater improvement, they said.

    Wie UNICEF-Mitarbeiter sagten, ist zu beachten daß sich diese neue Schätzung auf Haushalts- Befragungen stützt, die bis 2005 stattfanden. Sie spiegeln also noch kaum den riesigen Geldzufluß in das Gesundheitswesen der Dritten Welt wider, der in den vergangenen Jahren von folgenden Institutionen gekommen ist: Dem Weltfonds zur Bekämpfung von AIDS, Turberkulose und Malaria; der Gates- Stiftung; dem Doppelprogramm der Regierung Bush zur Bekämpfung von AIDS und Malaria. Deshalb sind nach ihrer Aussage von der nächsten Fünfjahres- Erhebung sogar noch größere Verbesserungen zu erwarten.
    Nicht wahr, das ist interessant? Der Weltfonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria ist eine Organisation, die Regierungsmittel und Privatspenden einwirbt. Nach den Angaben in der Wikipedia tragen die USA 700 Millionen Dollar zum Etat des Fonds bei; die Bill- Gates- Stiftung hat im August 2006 500 Millionen Dollar beigesteuert.

    Daneben gibt es die eigenen Programme der Bill Gates Foundation und der US-Regierung.



    Es sind die kapitalistischen Länder, es sind vor allem die USA, es ist die Regierung Bush, es ist der Superreiche Bill Gates, die wesentlich verantwortlich sind für die Verbesserung der Weltgesundheit; von deren finanziellen Beiträgen ein weiterer Rückgang der Kindersterblichkeit erwartet wird.

    Hat das ihr Ansehen verbessert? Wohl kaum.

    Sie sind nun einmal in den Augen Vieler - gerade auch in Deutschland - Kapitalisten, Neoliberale, Imperialisten, also Ausbeuter, Feinde der Völker und besonders der Armen. Egal, was sie tun.

    "Tut nichts, der Jude wird verbrannt" heißt es im "Kaufmann von Venedig".
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    13. September 2007

    Randbemerkung: Putins Spiel - wie macht er's?

    Zu den klassischen Herrschaftsmethoden von Despoten gehören Grausamkeit und Willkür. Grausamkeit allein tut es nicht; da könnten die Untertanen abstumpfen. Wirkliche Macht zeigt sich in der Willkür, mit der der Despot regiert; mal grausam, mal gnädig. Nur dann zittern die Untertanen wirklich vor ihm.

    Von Stalin wird berichtet, daß er manchmal seine Opfer anrief und ihnen Mut zusprach, obwohl er bereits Anweisung erteilt hatte sie verhaften zu lassen; so der Stalin-Forscher Jörg Baberowski Niemand sollte wissen, ob er gerade in Gnade oder Ungnade war. Nur das garantierte die Furcht der Beherrschten, die Macht also des Herrschers.



    Nein, Putin ist kein Stalin. So wenig, wie er ein Iwan der Schreckliche oder ein Peter der Große ist. Aber den Stil des Despoten beherrscht er souverän; nur jetzt ins halbwegs Zivilisierte gewendet. Er spielt dasselbe Spiel, nur nicht blutig, sondern - gemessen an Stalin - sozusagen virtuell.

    Sein aktuelles Opfer ist jener getreue Sergej Iwanow, der Anfang des Jahres - damals noch Verteidigung- Minister - Putin publizistischen Feuerschutz bei seinem rabiaten Auftritt auf der Münchner Sicherheits- Konferenz gegeben hatte. Danach war Iwanow Vize- Premier geworden und galt allgemein als einer der beiden bestplazierten Kandidaten für Putins Nachfolge im Frühjahr kommenden Jahres.

    Damit wird es nun wohl nichts werden. In der heutigen "Los Angeles Times" beschreibt David Holley, welches Spiel Putin mit dem getreuen Iwanow spielte.

    Als mitgeteilt worden war, daß der bisherige Premier Fradkow ersetzt werden würde, ließ Putin verbreiten, Iwanow sei der Nachfolger. Dies wurde am Mittwoch Vormittag als eine Meldung "aus offizieller Quelle" zitiert. Stanislaw Belkowski, Präsident des Nationalen Strategischen Instituts in Moskau, sieht das als direkte Intrige Putins. Auszug aus dem Artikel der LAT:
    "The leak from the Kremlin about Sergei Ivanov becoming the new prime minister was a classic example of misinformation at which President Putin is so very good," he said. "A majority of top state officials this morning were confident that Ivanov would replace Fradkov as premier. Putin alone knew it was not true. "People who saw Ivanov today after the decision was made final say that he was really a sorry sight."

    "Das aus dem Kreml heraus gestreute Gerücht, daß Sergej Iwanow der neue Premierminister werden würde, war ein klassisches Beispiel der Falschinformation, die Putin so perfekt beherrscht", sagte er. "Eine Mehrheit der staatlichen Spitzenbeamten waren heute Morgen davon überzeugt, daß Iwanow Fradkow als Premier ablösen würde. Putin allein wußte, daß das nicht so war. (...) Leute, die Iwanow heute sahen, nachdem die Entscheidung feststand, sagen, daß er einen wirklich erbärmlichen Anblick bot.
    Iwanows Scheitern bei der Nachfolge Fradkows habe "seinem Ansehen einen gewaltigen Schlag" versetzt, meinte Belkowski.



    Iwanow dürfte also aus dem Spiel sein. Putin muß sich schon sehr sicher sein, daß Iwanow nicht mehr Staatspräsident werden kann, denn er muß natürlich damit rechnen, daß dieser sich für die gestrige Intrige an ihm rächen würde, sollte er doch noch an die Spitze kommen.

    Man darf gespannt sein, wie Putins Spiel weitergeht. Als ich Anfang des Jahres einen Beitrag über Putins Nachfolge schrieb, gehörte die Idee, daß er sein eigener Nachfolger werden könnte - sofort oder nach einer Anstands- Pause - für viele noch ins Reich wilder Spekulationen.

    Inzwischen besteht - jedenfalls für mich - die Spannung nur noch darin, wie er es denn anstellen wird, an der Macht zu bleiben. Ungefähr so, wie man bei Houdini schon wußte, daß er sich am Ende aus jeder Fesselung befreien würde. Nur, wie macht er's?

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    Zettels Meckerecke: Ein General als Propagandist

    Genügt denn nicht Marc Pitzke? Jetzt also auch noch ein gewisser Gregor Peter Schmitz.

    Der General Petraeus hat dem Kongreß einen sehr nüchternen, faktenorientierten Bericht über die Lage im Irak vorgelegt.

    Nur entsprach diese realistische Lagebeurteilung nicht dem Schreckensbild, das die Demokraten im Kongreß malen. Nur entsprach sie erst recht nicht dem, was "Spiegel-Online" habituell über die Lage im Irak verbreitet.

    Also schreibt der Artikel von Gregor Peter Schmitz dem General Petraeus eine "Propagandisten- Rolle" zu. Ausgerechnet Petraeus, der mit einem Propagandisten ungefähr soviel Ähnlichkeit hat wie Dirk Bach mit einem Zehnkämpfer.

    Ein "mittlerer Angestellter" sei Petraeus, heißt es in dem Artikel. Wenn Petraeus sagte, daß er den Bericht vor der Veröffentlichung dem Weißen Haus nicht vorgelegt hatte, dann fügt der "Spiegel-Online"-Autor Gregor Peter Schmitz dem ein "angeblich" hinzu.

    Und überhaupt: "Doch seine positiven Worte vor dem Kongress in dieser Woche vertragen sich schlicht nicht mit der Fronterfahrung vieler US-Soldaten."

    Die "positiven Worte" von Petraeus basieren auf Fakten. Davon kann jeder sich überzeugen, der sich die kleine Mühe macht, die von Petraeus vorgelegten Statistiken in Augenschein zu nehmen; man findet sie sogar bei "Spiegel-Online".

    Wieso die "Fronterfahrung vieler US-Soldaten" diesen Fakten widerspricht, verrät uns Gregor Peter Schmitz nicht. Haben sie, die Frontsoldaten, bessere, genauere Statistiken als Petraeus? Können sie, an der Front, die strategische, die taktische Lage besser beurteilen als die militärische Führung?

    Vielleicht, wohl eher aber nicht. Sicher aber scheint mir zu sein, daß die von Petraeus vorgelegten Zahlen der Lagebeurteilung von Marc Pitzke und Gregor Peter Schmitz widersprechen. Also muß, wie denn auch anders, Petraeus ein Propagandist sein.

    Wenn die Meinung dieser Journalisten nicht der Wirklichkeit entspricht - umso schlimmer für die Wirklichkeit. Umso schlimmer für den, der diese Wirklichkeit beschreibt.

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    Marginalie: Angela Merkel, die Ökosozialistin

    Als ich die Überschrift "Die Ökosozialistin" der aktuellen Kolumne von Peter Ehrlich, Chef- Korrespondent der "Financial Times Deutschland", las, erwartete ich eine harsche Abrechnung mit der Klima- Politik der Kanzlerin. Aber surprise, surprise ...

    Die Kanzlerin hat, so schreibt Ehrlich, vorgeschlagen, langfristig darauf hinzuarbeiten, daß sich der Pro- Kopf- Ausstoß von CO2 zwischen Industrie- und Entwicklungs- Ländern angleicht.

    Mit anderen Worten: Der Ausstoß in den USA und Europa müßte drastisch gesenkt, der in den meisten anderen Ländern dürfte noch erheblich gesteigert werden. Ehrlich merkt zu dieser Idee an:
    Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verteilung von Gütern, die jeder braucht. Konsequent zu Ende gedacht, würden Traditionen des weltweiten Kapitalismus infrage gestellt.
    Also müßte er, ein Leitender Redakteur der FTD, doch dagegen sein, nicht wahr? Das ist er aber nicht. Er diskutiert zwar Schwierigkeiten, zu erwartende Widerstände, mögliche kontraproduktive Folgen, aber seine Schlußfolgerung lautet:
    Die Klimaproblematik erinnert daran, dass der reichere Teil der Welt seinen Reichtum partiell ungerechter Verteilung verdankt. Wirksamer Klimaschutz heißt Umverteilung, die auch für die Reichen tragbar ist, weil am Ende alle gewinnen.
    Und ein "einleuchtendes Klimaprinzip" nennt Ehrlich Angela Merkels Idee. Das in der FTD zu lesen - das fand ich schon interessant.

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    12. September 2007

    Randbemerkung: "Eine typische Frau aus dem Osten" - so Sarkozy über Merkel

    Die Pressekonferenz im Garten des Schlosses Meseberg nach dem Treffen Merkel- Sarkozy wurde von Phoenix übertragen. Dabei zeigte Sarkozy ein eigenartiges Verhalten: Wann immer die Kanzlerin eine Frage beantwortete, zupfte er nervös an sich herum, nickte er jemandem aus dem Publikum zu, blickte er gen Himmel - kurz, zeigte er alle Anzeichen dessen, was französisch "s'ennuyer" heißt.

    Ein Wort, das etwas andere Bedeutungselemente hat als das deutsche "sich langweilen"; denn die nicht- reflexive Form bedeutet sowohl "langweilen" als auch "ärgern". Und so wirkte der Präsident: Verärgert- gelangweilt.

    Das war sehr auffällig; aber ob es demonstrativ war, blieb offen. Es war es, wie wir jetzt wissen.



    "Le couple franco-allemand", das französisch- deutsche Paar - so nennt man in Frankreich das, was wir nüchterner als die deutsch-französische Zusammenarbeit bezeichnen.

    Daß es bei diesem Paar Beziehungsstreß gibt, das wurde in den letzten Tagen bereits in Deutschland gemeldet. Aber die Quelle war im wesentlichen ein einziger Bericht, der von Matthias Beermann in der "Rheinischen Post".

    Jetzt gibt es aber eine Bestätigung aus Frankreich, und sogar eine offizielle: Heute fand in Frankreich die routinemäßige Sitzung des Conseil des ministres statt. Diesen Kabinetts- Sitzungen steht der Staatspräsident vor. Und Sarkozy berichtete über seine Reise zur Partnerin Merkel.

    Darüber informierte soeben der Regierungssprecher Laurent Wauquiez die Presse: "Il a souligné que l'échange avait été très franc"; Sarkozy habe unterstrichen, daß der Austausch sehr freimütig gewesen sei. Der "Nouvel Observateur" weist in seinem Bericht darauf hin, daß dies in der Diplomaten- Sprache bedeutet: Es gab große Spannungen.

    Ansonsten berichtet der Regierungssprecher - bei Sarkozy nicht wirklich überraschend - nur von Erfolgen des Präsidenten:
  • Er habe die Zustimmung der Kanzlerin zu seinem Vorschlag erreicht, einen "Rat der Weisen" einzurichten, der über die Zukunft der Europäischen Union nachdenken soll.

  • Er habe ihre Zustimmung zu seinem Wunsch erreicht, die Transparenz der Finanzmärkte zu einem Thema der nächsten Sitzungen der Europäischen Union zu machen.

  • Angela Merkel habe sich auch "bewegt", was die Frage des chinesischen Yuan angehe. Die Kanzlerin habe eingesehen ("reconnue" - erkannt oder auch anerkannt), daß die Unterbewertung eine Schwierigkeit darstellen könne.


  • Wie man es mittlerweile von Sarkozy kennt: Er stellt sich dar - oder läßt sich darstellen - als derjenige, der international die Dinge bewegt, der sich mit seinen Ideen durchsetzt.

    So war es in Bezug auf die Brüsseler Konferenz, deren Ergebnis er sich ans Revers heftete. So war es bei der Befreiung der bulgarischen Geiseln in Libyien, die er als seinen Erfolg feierte.

    Jetzt also ist er - so läßt er es darstellen - dabei, Angela Merkel zu belehren, was getan werden muß.

    Und wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen:
    Nicolas Sarkozy "a expliqué qu'il fallait apprendre à se connaître au delà des mots, que l'Allemagne avait effectué une profonde mutation dont on n'avait pas forcément jusque là mesuré l'ampleur avec le déplacement de Bonn à Berlin, que la personnalité d'Angela Merkel, qui était une femme de l'Est avec toutes ses qualités, était aussi un changement", selon Laurent Wauquiez.

    Nicolas Sarkozy hat laut Laurent Wauquiez "erläutert, daß man sich mehr als nur mit Worten kennenlernen müsse, daß in Deutschland mit dem Umzug von Bonn nach Berlin ein tiefgreifender Wandel eingetreten sei, dessen Umfang man bisher nicht unbedingt ermessen habe, daß die Persönlichkeit von Frau Merkel, die mit allen ihren Eigenschaften eine Frau aus dem Osten sei, auch eine Veränderung bedeute".
    Aus dem Mund Sarkozys, dessen Weltbild von den Polen "dynamischer Kapitalismus - unfähiger Sozialismus" geprägt wird, ist das ungefähr die vernichtendste Art, wie man durch die Blume sagen kann, daß man von jemandem nichts hält.

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    11. September 2007

    Marginalie: Haben die Hohlwelt-Theoretiker doch Recht?

    Diese Frage wurde heute zur besten Sendezeit in einer Sendung des ZDF diskutiert. Nach der Hohlwelt-Theorie (jedenfalls bestimmten Versionen davon) leben wir auf der Innenfläche einer hohlen Weltkugel, in deren Zentrum die Sonne steht. Das Licht breitet sich auf gekrümmten Bahnen aus. Mond, Planeten und Fixsterne sind Illusionen.

    Die Autoren der Sendung - Michael Renz und Guy Smith - warfen viele der Fragen auf, die von den Hohlwelt- Theoretikern gestellt werden und ließen etliche von ihnen ausführlich zu Wort kommen.

    Renz und Smith hatten bei der Vorbereitung ihrer Sendung versucht, diese Zweifel an der offiziellen Kosmologie auch mit Regierungsbeamten und Top- Wissenschaftlern zu diskutieren, hatten von diesen aber immer wieder Absagen bekommen. Die angesprochenen Astronomen lehnten es ab, zur Hohlwelt- Theorie Stellung zu nehmen.

    In der Sendung fragen die Autoren deshalb, warum man ihnen Informationen vorenthalte. Auch wurden immer wieder Täfelchen eingeblendet, auf denen der ablehnende Bescheid dieser und jener Stelle zu lesen war. "Wir erwarteten, dass uns die Regierung unter die Arme greifen würde (...) Von wegen! Man hat uns jede Tür nicht nur vor der Nase zugeschlagen, sondern auf die Nase draufgehauen. (...) Wir fragen uns warum?" sagte dazu Michael Renz in einer Vorab-Info.

    Am Ende konstatieren die Autoren, daß für die Hohlwelt- Theorie "die Beweise fehlen". Tja, schade.



    PS: Diese Geschichte ist fast wahr. Allerdings ging es heute Abend im ZDF, 20.15 bis 21.00 Uhr, nicht um die Hohlwelt-Theorie, sondern um die Theorie, daß die Angriffe vom 11. September 2001 von der US-Regierung selbst inszeniert worden seien. Meine Befürchtungen über diese Sendung wurden von ihr weit übertroffen.

    PPS: Einen sehr schönen Artikel über die Hohlwelt-Theorie, mit vielen noch schöneren Bildern, findet man hier. Dort steht auch eine Passage über Hohlwelt- Theoretiker, die bestens auf die Leute paßt, die in dieser Sendung ausführlich zu Wort kommen durften:
    Like pseudoscientists of all varieties, they carefully select those aspects of experience they wish to incorporate into their model, ignoring the vast amount of other scientific phenomena that conventional science has already successfully dealt with. They cite old, discredited, or poorly documented, observations, experiments and theories as supportive of their views. Often they wage a guerrila war against "conventional science", and characterize scientists as imperceptive or even stupid for not acknowledging their cleverness and the truth of their alternative models.

    Wie Pseudowissenschaftler aller Spielarten suchen sie sich sorgfältig diejenigen Aspekte der Erfahrung aus, die sie in ihr Modell einfügen wollen, und dabei ignorieren sie die riesige Menge anderer wissenschaftlicher Phänomene, die die konventionelle Wissenschaft schon erfolgreich erklärt hat. Sie zitieren alte, diskreditierte oder schlecht belegte Beobachtungen, Experimente und Theorien, die ihre Auffassungen unterstützen. Oft führen sie einen Guerrilla- Krieg gegen die "konventionelle Wissenschaft" und bezeichnen die Wissenschaftler als uneinsichtig oder gar dumm, weil sie ihre Klugheit und die Wahrheit ihrer alternativen Modelle nicht erkennen.
    PPPS: Als Leiter dieser unsäglichen Sendung stand Guido Knopp im Abspann.

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    Der "Deutsche Herbst" und die "Nacht von Stammheim"

    Es gibt Zeiten, in denen die Politik im Bewußtsein übermächtig wird, in denen sie vorübergehend das Private in den Hintergrund drängt, in denen ein politisches Thema alle Gespräche bestimmt.

    In den USA waren das die Cubakrise, die Ermordung Kennedys und der Anschlag vom 11. September 2001. In Deutschland waren es die Ereignisse der Tage um den 17. Juni 1953, dann wieder die "Wendezeit"; die Zeit um den 9. November 1989. Und dazwischen der "Deutsche Herbst" 1977 mit seinem Höhepunkt am 18. Oktober, der "Nacht von Stammheim".

    Die Emotionen waren in allen drei Perioden sehr intensiv, aber grundverschieden.

    Im Juni 1953 waren das Stunden zwischen Bangen und Hoffen, dann der Schock, als die Sowjets die Revolution niederschlugen.

    Die Wendezeit 1989 war zuerst eine Zeit wachsender Spannung. Die Demonstrationen in Ostberlin, die "Montags- Demonstrationen", die "Botschaftsflüchtlinge" in Prag, die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich - man wußte nie, ob das noch gutgehen würde, ob nicht doch die Kommunisten wieder militärisch eingreifen würden wie 1953, wie drei Jahre später in Ungarn, wie 1968, als sie den "Prager Frühling" niederwalzten.

    Und dann die Lösung der Spannung in dieser unvergeßlichen Nacht vom 9. zum 10. November 1989. Wir haben bis zum Morgen vor dem TV-Gerät gesessen, Radio gehört; die Szenen waren überwältigend. "Wahnsinn" war das Wort der Stunde.



    Und der "deutsche Herbst"? Er war der Herbst eines blutigen, eines deprimierenden Jahres, in dem Staat und Gesellschaft aus den Fugen zu geraten schienen.

    Im Februar war Brigitte Mohnhaupt, neue Anführerin der RAF, freigekommen. Im April wurde Siegfried Buback ermordet, im Juli Jürgen Ponto. Im August scheiterte ein Anschlag auf die Bundesanwaltschaft nur knapp. Am 5. September wurde Hanns- Martin Schleyer entführt, nachdem seine vier Begleiter ermordet worden waren.

    Man hatte im Lauf dieses Jahres Schlimmes erwartet, aber nicht das, was nun kam. Es waren bedrückende, dabei auch irgendwie fiebrige Wochen; eine Atmosphäre in Deutschland, wie ich sie nie zuvor und nie danach erlebt habe.

    Eine "Nachrichtensperre" war verhängt worden; aber das führte natürlich nur zu umso mehr Befassung mit dem Thema in Form von Gerüchten und Spekulationen. Es wurden wilde Vermutungen darüber angestellt, wo Schleyer sei - wurde er etwa auf einem Flußdampfer herumgefahren? In einem Möbelwagen? War das Versteck als eine Arztpraxis getarnt, in die fremde Menschen unauffällig gehen und sie verlassen konnten? Oder hatte man Schleyer ins Ausland geschafft?

    Es gab Gerüchte um Kontakte mit den Terroristen; ein Genfer Anwalt namens Peyot erlangte kurzzeitig Berühmtheit als "Vermittler". Es hieß, Schleyers Sohn habe versucht, seinen Vater mit Geld freizukaufen, aber das sei gescheitert. Gerücht reihte sich an Gerücht.

    Das Land war in einer Art Belagerungszustand. Polizeisperren überall, verschärfte Grenz- Kontrollen, nervöse Polizisten und Grenzer. Man erzählte einander, daß es im Telefon merkwürdig geknackt habe, welchen unsinnigen Kontrollen man unterworfen worden sei.

    Ich erinnere mich daran, wie es uns einmal erging, als wir im deutsch- holländischen Grenzgebiet Urlaub machten und über einen kleinen Grenzübergang nach Holland fahren wollten. Das Auto wurde durchsucht, und die Grenzer entdeckten ein Messer, das meine Frau bei sich hatte, weil sie gern Wildpflanzen ausgrub. Das führte zu einem langwierigen Verhör, Personenüberprüfung usw. - Wir waren damals empört über den "Polizeistaat"; nicht ahnend, daß die Durchsuchung nur allzu begründet gewesen war, weil die Terroristen damals zwischen Deutschland und Holland über die "grüne Grenze" hin- und herwechselten.

    Es war nicht nur eine angespannt- hektische Stimmung in Deutschland, sondern auch eine aggressive. Extreme Ansichten hatten ihre große Zeit.

    Der Staat solle mit der Hinrichtung der Stammheimer Häftlinge drohen, mit ihrer Folterung, wenn Schleyer nicht freigelassen würde - dergleichen wurde auf der einen Seite gefordert. Bis in den Krisenstab hinein, so hieß es.

    Und auf der anderen Seite der politischen Meinung glaubte man einen Staat zu erkennen, der nun die "demokratische Maske" abgelegt habe, der mit seinen Fahndungsmaßnahmen seine "faschistische Fratze" zeigte, dem alles zuzutrauen sei.



    Dann kam die Entführung der "Landhut", dann kam die "Nacht von Stammheim".

    Als ich am nächsten Tag in die Universität kam, herrschte eine fast eisige Stimmung. Ich habe kaum jemanden gesprochen, der nicht davon überzeugt war, daß die Häftlinge ermordet worden waren.

    Daß sie in diesem hochgesicherten Gefängnis an Waffen gelangt sein konnten, daß sie in ihrer "Isolationshaft" hatten unbemerkt Selbstmord begehen können - das lag außerhalb dessen, was man sich vorstellen konnte.

    Das war nicht nur die Meinung der RAF-Sympathisanten. Es war eine Meinung, die bis weit in die liberale Mitte hineinreichte. Ich habe damals mit einem Juristen gesprochen, einem durch und durch liberalen Mann. Auch er hielt es für sehr wahrscheinlich, daß man die Gefangenen ermordet hatte. Auch ich hatte meine Zweifel an der Selbstmord- Version.

    Bald erschienen Flugblätter mit "Beweisen" für einen Mord - Sand auf den Sohlen von Baaders Schuhen, Schmauchspuren, die angeblich auf einen Distanzschuß hindeuteten, eine geheimnisvolle schwarze Limousine im Gefängnishof. In den Jahren danach wurde es nachgerade zur Pflicht jedes Linken, Mord für eine ausgemachte Sache zu halten.



    Man kann dergleichen schwer abschätzen - aber ich halte es für plausibel, daß die Generation derer, die damals zwischen ungefähr fünfzehn und dreißig Jahre alt waren, durch die Erfahrungen dieses Jahres 1977 nachhaltig geprägt wurde.

    Bis dahin war es eine linksextreme Minderheit gewesen, die das politische System der Bundesrepublik grundsätzlich ablehnte, die ein prinzipielles Mißtrauen gegen ihre Regierung, ihre Institutionen hatte. Jetzt wurde das wenn auch nicht zur Mehrheits-, so doch zu einer weit verbreiteten Meinung.

    Wenige Jahre später enstanden "grüne", "bunte", "alternative" politische Gruppierungen, die - ganz anders als die Studentenbewegung, anders als die K-Parteien der siebziger Jahre - genug Wähler hinter sich bringen konnten, um in die Parlamente einzuziehen. Wenige Jahre später entstanden die "Friedensbewegung", die "Anti- AKW- Bewegung", die weit in die SPD hineinwirkten.

    Gewiß gab es für diese Entwicklung viele Ursachen. Aber das Grund- Mißtrauen gegen unseren Staat, gegen unsere Staatsform, das auch heute noch unsere Gesellschaft belastet, das ist 1977 wenn auch nicht entstanden, so doch zu einer breiten, politisch wirksamen Haltung geworden.

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    10. September 2007

    Marginalie: Amerikanische Toleranz, amerikanische Höflichkeit

    Im Augenblick findet im US-Repräsentantenhaus die Anhörung von General Petraeus und Botschafter Crocker in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungs- Ausschusses statt.

    General Petraeus hat gerade seine Aussage beendet; jetzt spricht Botschafter Crocker. Petraeus wurde mehrfach durch Zwischenrufer von den Zuschauerbänken unterbrochen. Zwischen seiner Rede und der des Botschafters gab es einen regelrechten Tumult, bis alle abgeführt waren.

    Und nun das Erstaunliche: Diese Leute waren klar als potentielle Störer zu erkennen gewesen. Sie trugen Kleidung mit Parolen darauf, seltsamen Kopfschmuck, waren alle ziemlich einheitlich "uniformiert".

    Undenkbar, daß eine solche Gruppe auf die Zuschauertribüne des Bundestags hätte gelangen können; noch dazu bei einer weltweit übertragenen Sitzung.

    In den USA ist so etwas möglich. Der Vorsitzende ließ jeweils nur diejenigen aus der Gruppe abführen, die geschrieen hatten; die anderen durften bleiben und schrieen logischerweise später. Dadurch ergaben sich die wiederholten Unterbrechungen.



    Eine erste Unterbrechung hatte es schon gegeben, bevor Petraeus mit seiner Aussage beginnen konnte: Sein Mikrofon versagte den Dienst; die Sitzung mußte für einige Minuten unterbrochen werden. Irgendwie paßte das in die plüschige Umgebung.

    Überhaupt sind diese Sitzungen des Senats und des Repräsentantenhauses bzw. ihrer Ausschüsse auf eine sympathische Weise altmodisch.

    Dazu gehört der höfliche Umgang der Abgeordneten und Senatoren miteinander. Niemand würde einen anderen persönlich angreifen, einen Zwischenruf machen, gar beleidigend werden.

    Auch diejenigen Ausschuß- Mitglieder, die in ihren Eingangs- Statements scharfe Opposition zur Position von Petraeus deutlich machten, zollten diesem ihre Anerkennung als einem Staatsdiener, der mustergültig seine Pflicht tue und dafür Dank verdiene.



    Was die Aussage von Petraeus angeht: Sie war positiver, als ich erwartet hatte. Unterfüttert mit vielen Statistiken, die die Fortschritte im Irak belegen.

    Und die zumindest einem Teil der schon vorab geäußerten Kritik den Wind aus den Segeln nahmen. Beispielsweise war argumentiert worden, befriedet seien immer nur vorübergehend diejenigen Gegenden, in denen gerade Operationen der US-Armee stattfänden; die Aufständischen würden dann woanders hin ausweichen.

    Die Statistiken zeigen aber eindeutig eine Beruhigung der Lage (weniger Zwischenfälle, weniger Opfer) im gesamten Irak. Wenn das auch nicht so drastisch ist wie in Anbar, wo die Zwischenfälle von mehr als tausend pro Monat auf inzwischen um die zweihundert zurückgingen. Die Verläufe, so zeigten die Grafiken, sind in den einzelnen Provinzen verschieden, zeigen aber überall einen Rückgang der Gewalt in den letzten Monaten.

    Weitere Beiträge zur Situation im Irak findet man in "Zettels kleinem Zimmer" verlinkt. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    Randbemerkung: Lob des Frauenfußballs

    Einer der ersten Beiträge in diesem Blog war ein Lob des Fußballs. Geschrieben im Juni 2006, zur Zeit der Fußball-WM. Ausdruck auch der heiteren Stimmung, die uns damals erfaßt hatte.

    In diesem Beitrag habe ich Gedanken dazu geäußert, warum der Fußball so populär ist; warum er zu einem - man kann sagen: dem - Weltsport unter den Mannschafts- Sportarten geworden ist. Unter anderem, behauptete ich, weil aus dem Mannschafts- Spiel für Augenblicke ein Zweikampf wird, der Kampf "Mann gegen Mann", der Zweikampf um den Ball. Und dazu schrieb ich über das "Abjagen des Balles":
    Für Sekunden wird aus dem Mannschaftssport ein Einzelsport, der Kampf Mann gegen Mann. Der "Bodycheck" ist ein wesentlicher Teil des Spiels (und vermutlich ein Grund dafür, daß Frauenfußball trotz allen Mühens nicht so recht populär wird).
    Das sehe ich immer noch so. Dennoch möchte ich - nein, keine "Lanze brechen" für den Frauenfußball, dessen Weltmeisterschaft in Schanghai heute begonnen hat. Aber doch sagen, warum ich im Lauf der Zeit Gefallen daran gefunden habe, auch einmal Frauenfußball anzugucken.



    Vieles, was den Fußball der Männer auszeichnet, fehlt dem Frauenfußball - das Athletische, die Aggressivität, eben dieser "Kampf Mann gegen Mann". Das ist dort nur als schwacher Abklatsch zu sehen.

    Daß Frauenfußball jemals die Emotionen erweckt, die kollektive Berauschtheit, die in einem Fußballstadion herrschen kann, glaube ich nicht. Schlachtgesänge sind da schwer vorstellbar, denn das Kriegerische ist nun einmal nicht die Sache des Frauenfußballs.

    Einem Spiel von Frauenmannschaften sieht man ruhiger zu, sozusagen mit mehr Distanz. Man wird nicht so sehr gefesselt als, sagen wir, sanft gelockt, sich das anzusehen. Und dann kann man schon seinen Spaß haben.

    Zum einen, weil die Spiele in der Regel störungsfreier ablaufen. Es gibt weniger Fouls als bei den Männern, weniger Verletzungspausen. Kaum einmal wird ein Spiel "zerpfiffen".

    Daß es weniger solche Pausen gibt, liegt nicht nur daran, daß die Frauen mit weniger Körpereinsatz spielen, sondern es gibt überhaupt weniger Zweikämpfe. Ballverluste kommen häufiger durch Fehlpässe zustande als dadurch, daß der Gegnerin der Ball abgenommen wird. Der Ball läuft länger. Man kann dadurch mehr schöne, komplexe Spielzüge sehen.

    Es werden auch mehr weite Pässe gespielt als meist im Männerfußball, so daß es schneller hin- und hergeht. Eine verbissene Störerei im Mittelfeld, die das Spiel zu einer Art Grabenkrieg macht, habe ich beim Frauenfußball selten gesehen. Sie wäre wohl auch einfach zu kraftraubend, wie auch ein ständiges frühes Tackling.

    Kurz, der Unterschied ist im Grunde ähnlich wie der zwischen Herren- und Damentennis. Das Herrentennis ist dynamischer, es hat mehr den Charakter eines Kampfs. Aber das Damentennis hat seinen Reiz durch ein variableres Spiel. Langweiliges Serve- and- Volley, bei dem nach dem dritten Schlag der Punkt gespielt ist, gibt es seltener.



    Jetzt, während ich diesen Text abschließe, geht das Spiel zwischen Deutschland und Argentinien zu Ende, das im Hintergrund lief, während ich geschrieben habe. (Weil sie mich mit ihrem Spiel weniger fesseln, können die Damen auch eher im Hintergrund spielen; zum Männerfußball setze ich mich doch eher vor den großen Fernseher). Und das Ergebnis (11:0) illustriert eine weitere Besonderheit des Frauenfußballs: Es fallen im Schnitt mehr Tore als bei den Männern.

    Manchmal freilich zu viele. Wie beim Handball, wie beim Basketball, können die vielen Tore schnell langweilig werden. Das Tor beim Männerfußball ist ein seltenes Ereignis. Da wird viel mehr an Spannung aufgebaut und im Torschrei orgiastisch gelöst, als wenn Tore so geschossen werden, wie man Brötchen bäckt.

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    Die RAF, die faschistische Gefahr, die kommunistische Propaganda

    Im Juli 1995 machten wir Urlaub in Brandenburg. Beim Rundgang durch Potsdam entdeckten wir das Plakat für eine Ausstellung: "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944". Ich hatte davon nichts gehört, aber das Thema schien uns einen Besuch wert.

    Als wir die Ausstellung verließen, sagte ich zu meiner Frau: Es ist deprimierend, daß fünf Jahr nach der Wiedervereinigung die DDR- Kommunisten immer noch eine solche Propaganda- Ausstellung machen können.

    Als ich später das Ausstellungs- Material, das wir mitgenommen hatten, genauer in Augenschein nahm, entdeckte ich, daß es sich nicht um eine in Potsdam konzipierte Ausstellung gehandelt hatte, sondern um eine Wanderausstellung, die im Westen eingerichtet worden war. Von keiner geringeren Institution als dem Hamburger "Institut für Sozialforschung" des von mir sehr geschätzten Jan Philipp Reemtsma.

    Die öffentliche Auseinandersetzung über diese Ausstellung, die dann meist kurz "die Wehrmachts- Ausstellung" genannt wurde, stand damals noch bevor. Sie konzentrierte sich auf die dort gezeigten Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, ihre Zuordnung, die kommentierenden Texte über die Wehrmacht.



    Diese hatte ich zwar sehr dürftig gefunden. Man erfuhr fast nichts darüber, welche der dokumentierten Verbrechen unter welchen Umständen von wem begangen worden waren. Der Informationswert der Ausstellung war minimal.

    Aber was mich viel mehr störte und was mein Urteil, daß das Propaganda war, begründete, das war etwas anderes:

    Neben den Räumen, in denen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg dokumentiert wurden, gab es einen Raum, in dem ganz andere Dokumente ausgestellt wurden: Auf einer Tafel zum Beispiel eine Passage aus einem Buch von Ernst Jünger. Illustrierte aus der Bundesrepublik der fünfziger Jahre. Aussagen von Politikern der Bundesrepublik aus dieser Zeit.

    Was hatte das mit Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu tun? Natürlich nichts.

    Aber die propagandistische Absicht war offensichtlich: Es sollte der Eindruck erweckt werden, daß diese Verbrechen in einer historischen Kontinuität lagen, die in der Bundesrepublik ihre Fortsetzung gefunden hatte. Die "BRD" als derjenige "deutsche Staat", in dem der "Ungeist des Faschismus" nach 1945 weiter herrschte. Das war die message dieses Teils der Ausstellung.

    Später habe ich dann nachgesehen, wer der Hauptverantwortliche für diese Ausstellung war: Hannes Heer, ein Mann mit kommunistischer Vergangenheit (und, nebenbei, offenbar auch kommunistischer Gegenwart).



    Diese Erinnerung ging mir durch den Kopf, als ich gestern Abend den ersten Teil der Sendung "Die RAF" von Stefan Aust und Helmar Büchel gesehen habe.

    Die Chronologie begann mit dem 2. Juni 1967; dem Tag, an dem Benno Ohnesorg von dem Polizisten Kurras erschossen wurde. Man sah Aufnahmen von einer Versammlung von Studenten noch am gleichen Abend, und dann zwei Statements:

  • Michael ("Bommi") Baumann: "Gudrun, die dann plötzlich anfing, hat gesagt: 'Die werden immer Faschisten bleiben. Diesmal werden sie uns umbringen.'"


  • Tilman Fichter: "Und ich sagte dann: 'Wir müssen uns sofort bewaffnen, weil sonst machen die uns alle'".

  • Eine Reaktion, die sich ähnlich auch bei Ulrike Meinhof fand. Eine Reaktion, die damals bei linken Studenten weit verbreitet war:

    Im Grunde habe man immer in einem halbfaschistischen Staat gelebt, und jetzt werde der Faschismus wiedererstehen.

    Es sei denn, man wehre sich dagegen mit der Waffe in der Hand. Der Schuß auf Benno Ohnesorg sozusagen als der erste Schuß eines Bürgerkriegs, dem man sich jetzt stellen müsse, nolens volens.



    In Deutschland regierte in dem Jahr, in dem Benno Ohnesorg starb, eine Koalition aus Union und SPD, so wie heute.

    Der Vizekanzler und Außenminister dieser Koalition war Willy Brandt, der von Norwegen aus gegen die Nazis gekämpft hatte. Ihr Minister für Gesamtdeutsche Fragen war Herbert Wehner, der bei dem Versuch, von Schweden aus den kommunistischen Widerstand in Deutschland zu unterstützen, interniert worden war.

    Berlins Regierender Bürgermeister war damals Heinrich Albertz, der unter den Nazis der "Bekennenden Kirche" angehört hatte und der deshalb mehrfach verhaftet worden war.

    Es gab in dieser Bundesrepublik von 1967 eine funktionierende Demokratie mit einer unabhängigen Justiz. Es gab keine Gestapo oder Stasi, keine Staatspartei, keine "Massenorganisationen". Es gab keine Blockwarte. Niemand wurde wegen seiner demokratischen oder auch sozialistischen Gesinnung verfolgt. Diese Bundesrepublik war in ein freiheitliches Bündis integriert und betrieb eine ausgesprochen unaggressive Außenpolitik.

    Dennoch sahen diese Studenten in ihr einen halbfaschistischen Staat, sahen sie den Faschismus heraufziehen.



    Eine weitere persönliche Erinnerung:

    Anfang der fünfziger Jahre hatten wir Besuch aus der DDR. Ein paar Wochen lang wohnte bei uns eine Bekannte meiner Eltern, die eine engagierte Nationalsozialistin gewesen war und die sich zu einer ebenso engagierten Kommunistin gemausert hatte.

    Sie trübte unsere Freude an ihrem Besuch dadurch, daß sie ständig die politische Auseinandersetzung suchte. Ihr Standard­atz lautete: Diesmal stehe ich auf der richtigen Seite; die DDR ist das bessere Deutschland.

    Nachzuweisen, daß die DDR das bessere Deutschland war - das war in der Tat nicht nur ein Ziel der DDR-Propaganda, sondern der Glaube daran war sozusagen das Lebens­elixier der DDR.

    Denn sie hatte ja, wie in den Jahren nach 1949 schnell klar wurde, sonst wenig zu bieten. Die Bundesrepublik zog ihr in fast jeder Hinsicht davon.

    Die DDR-Propaganda brauchte also unbedingt Felder, auf denen sie ihren Teil Deutschlands als überlegen darstellen konnte und auf denen sie spiegelbildlich die Bundesrepublik in schwarzen Farben malen konnte. Diese beiden Felder waren Faschismus / Antifaschismus und Friedens- / Kriegspolitik.

    Die gesamte DDR-Propaganda war auf diese beide Punkte konzentriert: Die Bundesrepublik wurde als ein nach innen immer noch halbfaschistischer und nach außen aggressiver Staat hingestellt.

    "Kalte Krieger", "Revanchisten" und "Imperialisten" bestimmten angeblich dessen Außenpolitik, während die "diesselben Kreise, die den Faschismus unterstützt hatten", noch immer im Inneren die Macht hätten. Also die "Schlotbarone", die "aggressivsten Kreise des Kapitals".

    Die Bundeswehr wurde als eine neuerstandene Wehrmacht verunglimpft. Die - Mitte der sechziger Jahre aktuellen - Notstandsgesetze wurde als eine Art neues Ermächtigungsgesetz dargestellt.



    Aus heutiger Sicht erscheint diese Propaganda derart überzogen, daß man denken sollte, sie hätte wirkungslos bleiben müssen. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie fiel auf fruchtbaren Boden.

    Nicht nur Linksextreme, sondern viele Linke, ja viele Liberale sahen ihr Land im Grunde - wenn auch abgestuft - ähnlich verzerrt, wie es die DDR-Propaganda zeichnete.

    Warum? Das ist eine Frage für Historiker, die mir noch lange nicht befriedigend beantwortet zu sein scheint. Ich möchte nur auf einen Aspekt aufmerksam machen, der mir bei der Beschäftigung mit der RAF-Geschichte deutlich geworden ist:

    Da fand - nicht nur, aber auch - so etwas statt wie ein Nachspielen der NS-Zeit.

    Klaus Rainer Röhl hat in der gestrigen Sendung wieder einmal von der "Sophie-Scholl-Frisur" von Ulrike Meinhof gesprochen, als er sie kennenlernte. Mehr als nur eine Äußerlichkeit, deutete er an. Sie habe sich wohl auch in dieser Nachfolge gesehen.

    In der Tat: Viele aus dieser Generation warfen es ihren Vätern und Müttern vor, in der Nazi-Zeit versagt zu haben. Jetzt, eine Generation später, wollten sie es besser machen.

    Sie wollten diesmal die selbstlosen Kämpfer und aufrechten Widerständler sein, die ihre Eltern in ihren Augen nicht gewesen waren.

    Da kam ihnen die Wahnvorstellung von einem heraufziehenden Faschismus, so darf man vermuten, nur allzu gut zupaß. Sie brauchten, wie Don Quijote, gewissermaßen das eingebildete Böse, um daran ihren Edelmut zu erproben. Und deshalb mögen sie so bereitwillig auf die Propaganda der DDR hereingefallen sein.

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    8. September 2007

    Zettels Meckerecke: Ein Altkanzler spricht

    Gerhard Schröder ist einer von drei noch lebenden ehemaligen Kanzlern der Bundesrepublik Deutschland. Man nennt ihn deshalb "Altbundeskanzler".

    Diese Bezeichnung drückt aus, daß jemand, der ein solch hohes Amt innehatte, gewissermaßen die Würde des Amtes nicht ablegt, auch wenn er aus dem Dienst scheidet.

    In den USA hat jeder, der einmal Präsident gewesen ist, Anspruch darauf, "Mr. President" genannt zu werden, bis zu seinem Lebensende. In Deutschland hat es sich ähnlich eingebürgert; wenn auch der Titel mit dem Präfix "Alt-" versehen wird.

    Helmut Schmidt und Helmut Kohl tragen diesen Ehrentitel zu Recht. Daß Schröder so genannt wird, empfinde ich dagegen als abwegig, ja als respektlos gegenüber dem Amt des deutschen Bundeskanzlers.

    Ob dieser Mann jemals in seiner aktiven Zeit den Anforderungen des Amtes gerecht geworden ist - darüber mag man streiten. (Ich glaube es nicht). Aber wie immer man das sieht: Seit er aus diesem Amt schied (oder vielmehr mühsam daraus entfernt werden mußte), benimmt er sich nicht so, wie es der Würde dieses Amtes entspricht.

    Ich kennen keinen anderen Fall - nicht in der Geschichte der Bundesrepublik, nicht in der Geschichte der Weimarer Republik, nicht in irgendeinem anderen demokratischen Staat dieses oder des vergangenen Jahrhunderts -, daß ein Regierungschef unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Amt in den Dienst einer auswärtigen Macht trat.

    Denn das tat Schröder, als er "Vorsitzender des Aktionärsausschusses des russisch- deutschen Konzerns Nord Stream" wurde; eines Staatskonzerns.

    So lautet Schröders heutiger offizieller Titel, in deutscher Übersetzung der russischen Amtsbezeichnung.

    Ich entnehme das einer heutigen Meldung von Russland Online, die sich auf die Nachrichtenagentur RIA-Novosti stützt. Sie ist der aktuelle Anlaß für diesen Beitrag.



    Gerhard Schröder hat ein Buch geschrieben, das nach allen Regeln des Marketing gepusht wurde, dadurch kurzzeitig zum Bestseller wurde und dann schnell wieder in der Versenkung verschwand. Dieses Buch ist jetzt ins Russische übersetzt worden, und aus diesem Anlaß gab Schröder in Moskau eine Pressekonferenz. IRA-Novosti berichtet:
    Das Vorwort zur russischen Ausgabe des 546-Seitigen Buches wurde von Ministerpräsident Dmitri Medwedew verfasst. (...)

    Der Ex-Kanzler versicherte, dass er das Buch selbstständig geschrieben hatte. Er könne schreiben, weil er das seinerzeit studiert habe, sagte Schröder auf die Frage, ob jemand ihm bei der Arbeit am Buch geholfen hatte.

    Schröder teilte mit, dass seine Freundschaft mit Präsident Wladimir Putin auch jetzt fortgesetzt werde, da er nicht mehr Bundeskanzler sei. Eine richtige Freundschaft hänge nicht davon ab, wer welchen Posten bekleide.
    Noch ein paar Belanglosigkeiten berichtet "Russland-Online" bzw. RIA-Novosti. Nichts Politisches.

    Politisches erfährt man hingegen aus der Meldung von dpa. Auszüg aus der Fassung der "Süddeutschen Zeitung":
    Altbundeskanzler Gerhard Schröder hat bei einem Besuch in Moskau die gegenwärtige Russlandpolitik der Bundesregierung kritisiert. (...)

    Auch im Streit um eine US-Raketenabwehr in Mitteleuropa stellte sich Schröder demonstrativ auf die Seite Moskaus. Die USA verfolgten eine "unsinnige Einkreisungspolitik gegen Russland", sagte Schröder (...).

    Er forderte die Bundesregierung auf, ihre guten Kontakte zu Washington zu nutzen, damit die USA auf die Stationierung von Raketen in Polen und einer Radaranlage in Tschechien verzichteten. (...)

    Im Vorwort schrieb Vize-Regierungschef Dmitri Medwedew, der als möglicher Nachfolger von Präsident Putin gehandelt wird, dass die Erkenntnisse aus dem Werk für die weitere Entwicklung Russlands von Nutzen seien.
    Nicht nur die Erkenntnisse, möchte man hinzufügen. Nicht nur das Werk, in dem diese Erkenntnisse stehen. Sondern vor allem sein Autor. Kein Altkanzler, aber ein Junglobbyist. "Putins Pudel" nennt ihn die Überschrift in der "Süddeutschen".



    Ach ja, und noch etwas. Aus dem Bericht, den Matthias Schepp und Simone Schlindwein für "Spiegel-Online schrieben:
    Pawel Woronin meldet sich zu Wort, ein junger Abgeordneter der Putin-Partei "Einiges Russland". Er spielt darauf an, dass Putin nach einer von der Verfassung gebotenen Auszeit nach vier Jahren erneut für das Präsidentenamt kandidieren könne. "Es gibt Fragen, die stellt man nicht. Da wartet man die Entscheidung ab", antwortete Schröder.
    Leser dieses Blogs freilich brauchen nicht abzuwarten. Sie kennen seit Februar dieses Jahres meine Antwort auf die Frage, die man laut Schröder nicht stellt. Siehe zuletzt hier.

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    7. September 2007

    Randbemerkung: Freispruch dritter Klasse. Eine Urteilsbegründungsschelte

    Bis 1968 gab es im deutschen Strafrecht die Unterteilung in Freisprüche "aus Mangel an Beweisen" und "wegen erwiesener Unschuld".

    Das wurde zu Recht gestrichen. Denn ob ein Unschuldiger seine Unschuld auch beweisen kann oder nicht, das hängt von Zufällen ab, die dieser Unschuldige nicht zu verantworten hat, die er oft auch gar nicht beeinflussen kann oder konnte.

    Der Freispruch "wegen erwiesener Unschuld" war ursprünglich wohl als eine besonders vollständige Wiederherstellung der Ehre des zu Unrecht Angeklagten gedacht; als eine Wiedergutmachung des Unrechts, das man ihm mit der Strafverfolgung zugefügt hatte.

    Faktisch aber war umgekehrt der Freispruch "aus Mangel an Beweisen" nicht selten ein Makel, der an dem so Freigesprochenen haften blieb. Dieser stand so da, wie an jener Ecke der Mackie Messer, dem "man nichts beweisen kann".

    Also war es vernünftig, im Rahmen der zahlreichen Entrümpelungen, Entlüftungen und Renovierungen des Strafrechts in den Jahren um 1970 herum auch diesen alten Zopf abzuschneiden.

    Seither ist es im deutschen Strafrecht wie im angelsächsischen: Guilty. Oder not guilty. Punktum. Man wird verurteilt oder freigesprochen. Und wenn jemand rechtskräftig freigesprochen ist, dann ist er unschuldig.



    Heute ist in Saarbrücken ein Prozeß zu Ende gegangen, der in jeder Hinsicht deprimierend gewesen ist.
  • Deprimierend war es, daß ein Kind aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet, vielleicht zuvor mißbraucht wurde.

  • Deprimierend ist das Milieu, in dem das geschehen sein soll - um eine heruntergekommene Kneipe, die "Tosa- Klause" herum gruppieren sich Gescheiterte, Alkoholiker, Asoziale. (Ja, das ist der richtige Begriff; "desozialisiert" habe ich heute als eine pc Umschreibung gelesen).

  • Deprimierend war die öffentliche Erregung, die Vorverurteilung der Angeklagten, dieses ganze gierige Interesse, das der Fall auf sich zog. Sich fortsetzend in die heutigen Äußerungen der "Empörung" über die Freisprüche.

  • Und deprimierend war schließlich auch der Verlauf der Voruntersuchung, der Verlauf des Prozesses selbst. Mit Aussagen, die wieder zurückgezogen wurden, mit Angeklagten, die sich reihenweise gegenseitig belasteten, mit Gutachten, aus denen man schließen konnte, daß diesen Aussagen ungefähr so sehr zu trauen ist wie den Berichten von Sindbad dem Seefahrer.


  • Heute nun also das Urteil. Der Freispruch, den alle seriösen Prozeß- Beobachter erwartet hatten.

    Aber was für eine mündliche Urteilsbegründung! Der "Tagesspiegel" referiert sie ausführlich. Eine Urteilsbegründung, die in ihrem ersten Teil zu einer Verurteilung besser passen würde als zu einem Freispruch:
    Über eine Stunde lang begründet der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba, weshalb eine Schuld der Angeklagten wahrscheinlich sei: Mehrere der Angeklagten hätten die Taten ausführlich gestanden, ein komplexes Geschehen eindringlich geschildert. So sehr sie sich widersprochen hätten, in ihrem Kern hätten all die Aussagen übereingestimmt.

    Die Angeklagten hätten dabei sich selbst belastet; eine von ihnen hatte sogar gestanden, den Jungen erstickt zu haben. Es sei schwer vorstellbar, dass dies alles "reine Phantasie" gewesen sei.
    Später dann werden die Gründe genannt, die Zweifel an der Schuld der Angeklagten begründen - keine objektiven Tatspuren, keine belastenden Aussagen von Zeugen außerhalb der Gruppe der Stammgäste in der "Tosa-Klause".

    Am Ende hat das Gericht sich aus diesen Gründen zum Freispruch entschlossen. Mit welcher Mehrheit der drei Berufs- und zwei Laienrichter ist nicht bekannt; das gehört zum Beratungsgeheimnis.

    Aber wenn die Angeklagen nun freigesprochen sind, wenn also auf not guilty erkannt ist - mußte das Gericht dann eine Urteilsbegründung schreiben, die einem Freispruch nicht zweiter, sondern dritter Klasse, der Holzklasse sozusagen gleichkommt?

    War eine Urteilsbegründung erforderlich, über die der "Tagesspiegel" schreibt: "Eine Stunde lang können sich während der Urteilsbegründung zumindest jene, die die Angeklagten zuvor während der vielen Verhandlungstage nicht selbst erlebt hatten, fragen, weshalb die Richter denn nicht verurteilt haben"?



    Natürlich treten bei einem solchen Prozeß Momente zutage, die für, und andere, die gegen die Schuld der Angeklagten sprechen. Aber Urteilen heißt doch wohl, eine Entscheidung treffen. "Trancher" ist im Französischen ein Wort für entscheiden; und das bedeutet auch schneiden.

    Ein Gericht muß entscheiden. Es muß sich entscheiden. Eine Urteilsbegründung, die klingt wie ein fauler Kompromiß, zu dem sich die Große Koalition mal wieder durchgerungen hat, ist keine.

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    Marginalie: Das alte Lied - Merkel mit glänzenden Werten, nur eine Mehrheit hat sie nicht

    So offensichtlich war es noch nie, zu welch einer schwierigen Situation unser neues Parteiensystem führt, also das seit dem Auftreten der Linkspartei entstandene:

    Die CDU/CSU liegt, so besagt es die aktuelle Umfrage für die ARD, um nicht weniger als 12 Prozentpunkte vor der SPD (39 gegen 27 Prozent). Die Kanzlerin liegt buchstäblich um Welten vor demjenigen, den die SPD als ihren potentiellen Herausforderer präsentiert (60 Prozent gegen 19 Prozent).

    In einer Demokratie mit Mehrheitswahlrecht, aber auch in der alten Bundesrepublik vor dem Auftreten der Linkspartei, würde das bedeuten: Die Union geht einem glänzenden Wahlsieg entgegen.

    Aber davon kann keine Rede sein. Denn wie fast immer hat die Union mit der FDP (9 Prozent) zusammen keine Mehrheit (48 Prozent); sondern es gäbe bei jetzigen Wahlen einen Gleichstand mit der Volksfront (SPD 27, Grüne 11, Linke 10 Prozent; zusammen also ebenfalls 48 Prozent).



    Ich weiß, das ist ein Lied, das ich immer wieder singe und erst vor ein paar Tagen wieder angestimmt habe:

    Die Linkspartei räumt am linken Rand nahezu alles ab, was es an Stimmen zu holen gibt. Am rechten Rand hingegen sitzen drei Parteien (NPD, DVU, REP), die nicht als Koalitionspartner in Frage kämen, selbst wenn eine davon (oder alle vereint, wie die PDS mit der WASG) in den Bundestag käme.

    Das ist das Neue, seit die PDS sich in den Westen ausgedehnt hat. So gering die linksextreme Wählerschaft ist - sie bestimmt ganz wesentlich über die Mehrheitsverhältnisse nach den kommenden Wahlen.

    Ich singe dieses Lied mit einer gewissen Beharrlichkeit immer wieder, weil ich nicht den Eindruck habe, im Chor zu singen. Mir scheint, die Öffentlichkeit hat noch nicht verstanden, was diese neue Situation bedeutet, und viele Politiker vielleicht auch noch nicht:

    Wenn nicht ganz Überraschendes passiert, dann haben wir in Zukunft in Deutschland entweder unnatürliche Koalitionen zwischen linken und rechten Parteien, wie jetzt. Oder wir bekommen eine Volksfront-Regierung, in der die Kommunisten zwar nicht an, aber doch in die Macht zurückkehren.

    Nur wenn es irgendwelche Faktoren gibt, die die Union und/oder die FDP ganz ungewöhnlich begünstigen, kann es in Deutschland noch die "bürgerliche" Mehrheit Adenauers und Kohls geben; die Mehrheit also, unter der die Bundesrepublik ihre Stabilität, ihre Freiheit, ihren Wohlstand gewonnen und ausgebaut hat.

    Es sei denn, es würde entweder das Mehrheitswahlrecht eingeführt, oder es entstünde eine demokratische konservative Partei rechts von der Union. Beides völlig unrealistische Möglichkeiten.

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