28. Februar 2010

Zitat des Tages: "Wissen macht nicht frei". Eine seltsame These des britischen Philosophen John Gray

Wissen macht uns nicht frei. Ja, das ist eine unstatthafte, schwer erträgliche Wahrheit. Seit Sokrates beruht das westliche Denken auf der Annahme, dass die Erkenntnis des Wahren unweigerlich zum Guten führt. Die Genesis der Bibel, der Mythos vom Sündenfall, sagt etwas anderes. Die Unschuld ist verloren, sie lässt sich nicht wiedergewinnen. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber wir bleiben zu jeder Torheit und zu jeder Bosheit imstande.

Der britische Sozialphilosoph John Gray in einem "Spiegel"- Gespräch mit Romain Leick. Das Gespräch erscheint im morgigen "Spiegel" (Heft 9/2010 vom 1. 3. 2010; S. 136 - 140).


Kommentar: Die zitierte Passage beinhaltet eine seltsame, eine seltsam widersprüchliche These. Eine These, die das ganze Gespräch durchzieht. Gray behauptet, daß Wissen uns nicht frei macht. Einige Sätze später sagt er, daß wir vom Baum der Erkenntnis gegessen hätten.

Ja, bedeutet das Essen vom Baum der Erkenntnis denn nicht Wissen? Und wie könnten wir denn zu jeder Torheit und jeder Bosheit imstande sein, wenn wir nicht frei wären?

Gray wendet sich in dem Gespräch gegen die Geschichts- Metaphysik von Hegel und Marx. Sehr zu Recht. Denn die menschliche Geschichte läßt sich so wenig prognostizieren, wie Außerirdische, die zur Zeit der ersten Einzeller auf der Erde landeten, hätten vorhersagen können, wie die Evolution verlaufen würde.

Die Geschichte ist keine Heilsgeschichte. Weder kommt in ihr der absolute Geist zu sich selbst, noch gebiert sie aus Klassenkämpfen am Ende ein kommunistisches Schlaraffenland. Die Geschichte steckt voller Zufälle. Sie hätte nicht zum gegenwärtigen Zustand der menschlichen Welt führen müssen; und wir wissen nicht, in welchem Zustand sich die Menschheit in tausend oder in zehntausend Jahren befinden wird.

Soweit hat Gray Recht. Aber irritierenderweise bewegt er sich, kaum daß er der einen Geschichtsmetaphysik den Garaus gemacht hat, schon selbst mitten in eine andere Metaphysik der Geschichte hinein:
Der Nihilismus (...) verliert seinen Schrecken, wenn wir uns von der Zwangsvorstellung lösen, das menschliche Leben müsse vor dem Sturz in den Abgrund der Sinnlosigkeit bewahrt werden. Ein gelungenes oder erfülltes Leben beruht nicht auf der Kapazität, einen Beitrag zur Weltverbesserung zu leisten. Die Gewissheit, dass es kein Heil gibt, ist selbst das Heil, so hat es der Schriftsteller E. M. Cioran formuliert. Das Leben hat keine Bedeutung, die über es selbst hinausweist.
Wenn das keine metaphysische Haltung ist!

Gray kritisiert die metaphysische Gewißheit, daß der Gang der Geschichte aus seinem Wesen heraus ein Weg des Fortschritts sei. Aber statt zu erkennen, daß es im Hinblick auf die Geschichte folglich eben keine Gewißheit gibt, setzt er dagegen seine eigene metaphyische Gewißheit: Die Welt sei nicht zu verbessern, der Fortschritt sei eine Illusion.

Woher weiß John Gray das? Es gibt nicht nur materiellen Fortschritt, sondern es hat auch ethischen Fortschritt gegeben. Die Macht und das Ansehen eines Herrschers bemißt sich heute nicht mehr an der Grausamkeit, mit der er besiegte Feinde zum Tod befördert. Es ist nicht mehr die Regel, daß Menschen als Objekte betrachtet werden, die man kaufen und verkaufen und über die ihr Herr nach Belieben verfügen kann. Die allgemeinen Menschenrechte - ein Konzept, das der Antike ganz fremd war, erst recht den frühen Hochkulturen - sind zumindest nominell in den meisten Ländern anerkannt.

Es hat ethischen Fortschritt gegeben. Nur ist das keine Garantie dafür, daß es ihn weiter geben wird. Es hat nicht nur diesen Fortschritt gegeben, sondern es gab auch das fürchterliche 20. Jahrhundert mit den Taten Maos, Stalins, Hitlers und Pol Pots.

Der Fortschrittsglaube des 18. und des 19. Jahrhunderts ist uns verloren gegangen. Aber wir sollten nicht den Fehler Grays machen, gegen ihn den Glauben an einen Nicht- Fortschritt zu setzen.

Die Geschichte ist offen. Vielleicht waren die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts die Vorboten einer Wende zurück in die Barbarei; vielleicht markierten sie das Ende des ethischen Fortschritts, der mit Buddha, Sokrates und Christus begann und der in der humanistischen Ethik gipfelte, wie sie durch Kant und - auf eine andere Art - auch durch Schopenhauer repräsentiert wird. Vielleicht waren es aber auch nur temporäre Rückschläge. Wir wissen es nicht.

Da wir das nicht wissen, ist es vernünftig, für die Freiheit, für den Rechtsstaat, für die Achtung insbesondere der Menschenrechte einzutreten.

Nicht, weil man sich damit auf die Seite dessen stellt, was mit objektiver Notwendigkeit eintreten wird; was als Gang der Geschichte vorgezeichnet wäre. Nichts ist vorgezeichnet. Aber eben auch nicht das, was Gray behauptet und was der "Spiegel" in der Überschrift zu dem Gespräch zitiert. Daß es keinen ethischen Fortschritt gebe, daß also "Humanismus ein Aberglaube" sei.

Ethischer Fortschritt ist nicht gewiß, aber er ist möglich. Das ist Grund genug, sich für ihn einzusetzen.



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27. Februar 2010

Zitat des Tages: Verfassungsrichter Papier äußert sich zu einer Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger. Oder äußert er sich gerade nicht dazu?

Welt am Sonntag: Wäre eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger verfassungsgemäß?

Papier: Juristisch handelt es sich genau genommen nicht um "Pflichten", sondern um "Obliegenheiten" zur Erlangung einer Leistung. Und die sind im geltenden Recht durchaus schon vorgesehen. Wer eine zumutbare Arbeit ohne triftige Gründe ablehnt, muss mit einer Leistungskürzung rechnen. Sozialleistungen des Staates sind prinzipiell subsidiärer Natur, sie sollen nur dann gezahlt werden, wenn jemand in einer Notlage ist, aus der er mit eigener Kraft nicht herauskommt.


Aus einem Interview, das Thorsten Jungholt mit dem scheidenden Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier führte und das morgen in der "Welt am Sonntag" erscheint.


Kommentar: Interessanterweise verneint der Präsident nicht, daß eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger verfassungsgemäß wäre; er bejaht es aber auch nicht explizit.

Man hat eher den Eindruck, daß er die Frage mißversteht. Denn das, worum es in der aktuellen Diskussion geht, ist ja eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger, die gerade keine Arbeit haben und die während ihrer Arbeitslosigkeit zu gemeinnütziger Arbeit wie Schneeschippen herangezogen werden könnten. Papier bezieht sich aber, wie es scheint, auf die Pflicht, eine zumutbare Arbeit anzunehmen.

Könnte es sein, daß Papier sich zurückhält, weil in dieser Frage verfassungsrechtlicher Klärungsbedarf besteht?



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Chrome - glänzend. Die Leser dieses Blogs sind Individualisten. Ist kommenden Montag "Wahltag im Windows-Land"? Über Freiheit im EU-Land

Das Besondere - ein Besonderes, sollte ich besser sagen - an den Lesern dieses Blogs ist die Wahl des Browsers. 52,6 Prozent benutzen den Firefox (die meisten Version 3.x) und 30,3 Prozent den IE (überwiegend noch 7.x). Safari verwenden 8,6 Prozent, Opera 5,7 Prozent. Aber nur 2,1 Prozent rufen ZR vom Google Chrome aus auf. (Die Zahlen basieren auf der Auswertung von rund 430.000 Besuchen durch Histats).

Warum "nur"? Weil das obige Muster eigentlich auf Individualismus hindeutet. Denn auf dieser Grafik von "Spiegel-Online" sehen Sie, daß bei allen Nutzern des Internet der Firefox (45,4) und der IE (44,5) zusammen fast neunzig Prozent des Marktes einnehmen. Die kleinen, aber feinen Browser Safari (4,4) und Opera (2,7) sind deutlich schwächer vertreten als bei den Lesern von ZR. Diese letzteren bevorzugen außerdem den Firefox gegenüber dem IE; ein Zeichen zwar nicht (mehr) von Individualismus, aber doch von einer gewissen Informiertheit.

Den Chrome hingegen verwenden 2,3 Prozent aller Nutzer und 2,1 Prozent der Besucher von ZR. Also kein Unterschied.

Wenn die Besucher dieses Blogs Individualisten sind, warum nutzen sie dann nicht häufiger als die Gesamtheit der Surfer den Chrome?

Eine naheliegende Erklärung liegt im Erhebungszeitraum. Die von "Spiegel-Online" publizierten Daten stammen vom Dezember 2009. Die Zahlen für ZR basieren auf einer Zählung ab dem März 2008; aber erst seit Dezember 2008 wird Chrome überhaupt angeboten. Gut möglich also, daß in letzter Zeit mehr Besucher auf den Chrome umgestiegen sind. Dafür spricht, daß z.B. gestern immerhin 7 Prozent den Chrome verwendeten.



Warum mache ich ein solches Aufhebens um den Chrome? Weil ich selbst erst vor ein paar Wochen auf ihn umgestiegen bin und ihn seither immer mehr schätzen gelernt habe.

Ein überraschender Browser. Nachdem ich ihn heruntergeladen und installiert hatte (problemlos die englische Version, während mir Firefox die deutsche aufgedrängt hatte), kam die erste Überraschung: Ich wollte die Google Toolbar herunterladen - aber ausgerechnet für den Browser von Google wird sie nicht angeboten!

Nach ein wenig Suchen kannte ich den Grund. Ein Nutzer formulierte ihn so: Der Chrome ist eine Google Toolbar. Aber wo ist das Eingabefenster für Suchbegriffe? Es ist einfach das Adressfenster. "Omnibox" nennen es stolz die Entwickler von Google. Der Browser erkennt, ob man eine URL eingibt oder einen Suchbegriff und verhält sich entsprechend.

Bookmarks wurden sofort automatisch vom Firefox importiert. Es gibt eine komfortable Bookmark- Verwaltung und eine History, die man in einem eigenen Fenster oder Tab öffnen kann und die die besuchten WebSites übersichtlich darstellt.

Nach kurzer Zeit habe ich mich beim Chrome zu Hause gefühlt. Zum Wohlbefinden trägt auch bei, daß er erheblich schneller als der Firefox lädt und auch beim Surfen nach meinem Eindruck schneller ist.

Und es gibt inzwischen feine Extensions. AdThwart zum Beispiel, das nicht nur Popups, sondern fast auch jede sonstige Reklame blockiert. Vocabbi, das aus vielen Sprachen Wörter, die man anklickt, ins Englische übersetzt; und aus dem Englischen z.B. ins Deutsche. Angeboten werden Resultate zahlreicher Lexika, so daß auch die Bedeutungen seltener Wörter umfassend zur Verfügung stehen.

Oder Google Quick Scroll, das bei durch Googeln aufgefundenen Dokumenten die relevanten Textstellen anzeigt. Oder etwas sehr Nützliches, wenn man - wie ich - oft viele Tabs zugleich verwendet: TooManyTabs, das die aktuellen Tabs als Thumbnails in einer übersichtlichen, dreidimensionalen Darstellung anzeigt. Ich habe bisher nichts vermißt, das ich vom Firefox gewohnt gewesen war.



Der gestrige Artikel von Frank Patalong in "Spiegel- Online", dem ich die verlinkte Grafik entnommen habe, trägt die Überschrift "Wahltag im Windows-Land" und berichtet:
Ab dem 1. März dürfte so mancher Windows-Nutzer in Europa eine Überraschung erleben: Nach einem automatischen Update des Betriebssystems wird sich ein Programm öffnen und zunächst eine Erklärung, dann ein Auswahlfenster präsentieren. "Wählen Sie Ihre(n) Webbrowser" wird darüber stehen. (...)

Die Aktion ist der Abschluss eines europäischen Kartellverfahrens gegen Microsoft, in dem es wie im großen Kartellprozess in den USA vor allem um die Koppelung von Betriebssystem und Browser ging. Die wurde Microsoft als unfaire Geschäftsmethode vorgeworfen, die darauf abzielte, die gesamte Konkurrenz kleinzumachen und ein Monopol auf dem Browser-Markt zu erreichen.
Ich habe bis heute nicht verstanden, was dieses Kartellverfahren sollte.

Jeder Käufer von Windows bekam - und bekommt weiter - den IE mitgeliefert. Ob er ihn nutzt oder einen anderen Browser herunterlädt, ist seine Sache.

Auch ohne das Eingreifen der europäischen Bürokraten lag der IE bereits hinter dem Firefox; von den Lesern von ZR nutzte den IE bereits nur noch weniger als jeder Dritte.

Wo war da also Handlungsbedarf? Warum in aller Welt muß man die Nutzer von Windows mit diesem Popup belästigen, das wir ab dem 1. März sehen werden?

Was muß man uns mit der Nase darauf stoßen, daß es verschiedene Browser zur Auswahl gibt? Wer das wußte - also die meisten -, der braucht diese Nachhilfe nicht. Und wer sich so wenig auskennt, daß er bisher vom Firefox, von Safari und Opera und vom Chrome noch nichts gehört hatte - sollte man den nicht auch weiter mit seinem IE glücklich sein lassen?

Es ist immer dasselbe mit diesen Eurokraten: Statt uns Bürgern der EU einfach unsere Freiheit zu lassen, wollen sie sie uns gewähren, sie uns verschaffen. Was aber ist eine Freiheit wert, die man aus der Hand der Obrigkeit entgegennimmt?



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Logo des Open-Source-Projekts Chromium. Von den Autoren unter Creative Commons attribution 2.5 und BSD freigegeben.

26. Februar 2010

Mal wieder ein kleines Quiz: Was wissen Sie über Deutschlands Kinder und Jugendliche?

Im aktuellen "Zeit-Magazin" (9/2010) findet man auf den Seiten 18 bis 23 keinen Text, sondern nur viele Bilder. Genauer gesagt: Grafiken. Sogenannte Infografiken, die allerlei Daten über deutsche Kinder und deutsche Jugendliche visualisieren. Titel: "Kleines Deutschland".

Das ist hübsch gemacht und unterhaltsam; und es ist auch ein wenig informativ. So, wie die wöchentliche "Deutschlandkarte" auf Seite zehn, die uns diesmal verrät, wo in Deutschland wieviele der Staatsanwälte Staatsanwältinnen sind. (Höchster Prozentsatz in München, wer hätte das gedacht?). Und der Autor ist auch derselben: Matthias Stolz; ich habe schon einmal über ihn geschrieben.

Hübsch gemacht und unterhaltsam; aber eben nur ein wenig informativ. Nicht so informativ jedenfalls, wie es sein könnte, wenn wir erstens nicht nur allerlei Diagramme sehen würden, sondern die dargestellten Daten stets auch numerisch geboten bekämen. So kann man die Werte zum Teil nur schätzen.

Und informativer wären diese Seiten zweitens, wenn man zu jeder Infografik die Quelle erfahren würde. Leider sind die Quellen nur pauschal aufgelistet. Welche zu welcher Grafik gehört, kann man allenfalls raten. Das Jahr der jeweiligen Befragung oder Erhebung ist oft auch nicht angegeben.

Dies gesagt: Ich habe mir die Grafiken dennoch angeschaut und manchmal gestaunt. Vielleicht staunen Sie ja auch, wenn Sie sich an dem kleinen Quiz beteiligen, das ich aus diesen Daten herausgezogen habe. Damit es nicht zu einfach ist, sind natürlich nicht immer die erstaunlichen Antworten auch die richtigen.



Hier die Fragen:
1. Wo ist der Anteil der Kinder am höchsten, die einen eigenen Fernseher haben?
(A) Oberschicht
(B) Mittelschicht
(C) Unterschicht

2. Wo ist der Anteil der Kinder am höchsten, die keinen eigenen Computer haben?
(A) Oberschicht
(B) Mittelschicht
(C) Unterschicht

3. Welches sind die beiden Sportarten, die von den 7- bis 14-jährigen Mädchen am häufigsten betrieben werden (Kriterium: Anzahl der Mitglieder in den betreffenden Sportvereinen)?
(A) Turnen, Fußball
(B) Reiten, Schwimmen
(C) Leichtathletik, Tennis

4. Wie hat sich bei den 12- bis 17-Jährigen der Konsum von Cannabis seit 2000 entwickelt (Prozentsatz der Konsumenten?
(A) Er hat zugenommen
(B) Er hat abgenommen
(C) Er hat sich nicht bedeutsam verändert

5. In welchem Alter hatte knapp die Hälfte der Jugendlichen (48 Prozent; nicht nach Geschlechtern getrennt) bereits Geschlechtsverkehr?
(A) 14 Jahre
(B) 16 Jahre
(C) 18 Jahre

6. In welchem von 18 untersuchten Ländern liegt der Anteil der 15-Jährigen, die später einen geringqualifizierten Job erwarten, mit 24,6 Prozent am höchsten?
(A) Deutschland
(B) Polen
(C) USA

7. In welchem Land liegt er mit 8,6 Prozent am niedrigsten?
(A) Deutschland
(B) Polen
(C) USA

8. Mädchen und Jungen im Alter zwischen 8 und 19 Jahren wurden nach ihrem Berufswunsch gefragt. Wieviele Berufe waren sowohl unter denjenigen 10, die von den Mädchen am häufigsten genannt wurden, als auch unter den 10, die von den Jungen am häufigsten genannt wurden?
(A) einer
(B) drei
(C) fünf

Die Lösung finden Sie wie immer in Zettels kleinem Zimmer.



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25. Februar 2010

Zitat des Tages: "Die Aufgabe von Panorama ist es, alle Parteien kritisch zu begleiten". Agitprop gegen die FDP, Methode Karl-Eduard von Schnitzler

Die Aufgabe von Panorama ist es, alle Parteien kritisch zu begleiten. Und das tun wir auch. Egal ob SPD, CDU, Die Linke, die Grünen oder die FDP.

Der Redakteur des NDR-Sendung "Panorama" Ben Bolz über sein Magazin; zitiert gestern in der "Süddeutschen Zeitung".


Kommentar: Den Hintergrund dieses Zitats beschreibt Marc Felix Serrao in dem Artikel der SZ: Die FDP beging in Karlsruhe vergangene Woche ihren "Politischen Aschermittwoch". Dazu wurde ein Reporter- und Kamerateam von "Panorama" erwartet. Der Hauptgeschäftsführer des Landesverbandes der FDP Baden- Württemberg, Sebastian Haag, versandte an einige Parteifreunde E-Mails, in dem dies mitgeteilt wurde. Weiter Serrao:
Dann folgt die Warnung: "Da von dieser Redaktion nach den kürzlich gemachten Erfahrungen kein objektiver Journalismus erwartet werden kann", schreibt Haag, "möchte ich Sie auf die Gefahr aufmerksam machen, bei Interviews als ungewollter Stichwortgeber einer gegen uns gerichteten Medienberichterstattung aufzutreten." Differenzierte Meinungen würden dort nicht wiedergegeben: "Das 'aber' hinter dem 'ja' wird nicht gesendet."
Darauf reagierte der "Panorama"- Redakteur Bolz u.a. mit dem zitierten Satz.

Wenn Sie, lieber Leser, die Zeit dazu haben, dann sehen Sie sich bitte die ersten vier Minuten der "Panorama"- Sendung vom 18. 2. 2010 an, in welcher der Beitrag von Ben Bolz und anderen gesendet wurde. Sie werden feststellen, daß Sebastin Haag untertrieben hat.

Die Sendung ist nach dem klassischen Muster der Agitprop- Sendungen des "Schwarzen Kanal" des "Deutschen Fernsehfunks" der DDR aufgebaut, moderiert von jenem Karl- Eduard von Schnitzler, der in der DDR allgemein der "Sudel-Ede" genannt wurde:

Es beginnt mit einer unsachlichen Anmoderation, die dem Zuschauer die richtige Sicht auf das liefern soll, was dann kommen wird. Westerwelle wird zugeschrieben: "Wenn wir es den Arbeitslosen weiter reinschieben, geht hier alles den Bach runter". Das hat er zwar nicht gesagt, aber nun gut, man wird doch noch interpretieren dürfen.

Es folgt ein Block von Statements von Arbeitslosen, die alle ihre schlimme Situation schildern und kein Verständnis für Westerwelle zeigen. Dergleichen war Standard bei v. Schnitzler; es sollte belegen, wie schlecht es den Menschen in der "BRD" ging.

Dann beginnt der eigentliche Bericht. Er folgt dem klassischen Agitprop- Muster "Denunziation durch manipulativen Filmschnitt".

Zunächst wird ein kurzer Ausschnitt der Rede von Westerwelle gezeigt, in dem er seine Kritik zusammenfaßt.

Schnitt. Es folgen zusammengeschnittene Schnipsel; Äußerungen von Menschen, die allerlei Dummheiten sagen. Laut Untertiteln "FDP Straubing" und "FDP Karlsruhe".

Offenbar hatten die Redakteure von "Panorama" solange Interviews geführt, bis sie ein paar schlicht gestrickte Hansln, zum Teil offensichtlich Angetrunkene, gefunden hatten, die kein Fremdwort richtig herausbekamen, die nicht wußten, was "spätrömische Dekadenz" ist, die auf Hartz-IV-Empfänger schimpften, so wie das "Panorama" hören wollte.

Schnitt. Man sah wieder Westerwelle. Und er sagte: "Diese Diskussion war überfällig. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit".



Das war als Agitation so professionell wie v. Schnitzlers "Schwarzer Kanal". Der Informationswert dieses Beitrags für den Zuschauer war null. Dem Anspruch, die FDP "kritisch zu begleiten", wurde dieser Beitrag ungefähr so gut gerecht, wie Hundefutter dem Anspruch an ein kulinarisches Menü gerecht wird.



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24. Februar 2010

Marginalie: Eine unfaire, eine zum Teil lachhafte Kampagne gegen Präsident Obama

Leser dieses Blogs wissen, daß ich Präsident Obama sehr kritisch gegenüberstehe.

Er hat hochfliegende, nachgerade messianische Erwartungen geweckt, von denen er bisher keine einzige auch nur annähernd erfüllen konnte. Er hat die amerikanische Nation nicht, wie versprochen, geeint, sondern er spaltet sie wie kaum ein Präsident zuvor.

Seine Außenpolitik hat bisher nur das Ergebnis gebracht, die Feinde der Freiheit zu stärken. Innenpolitisch hat er im Wahlkampf eine Politik der Mitte versprochen und versucht jetzt eine linke Politik zu realisieren.

Mir scheint, daß seine bisher einzige bemerkenswerte Leistung darin besteht, gute, manchmal ausgezeichnete Reden zu halten; zwar vom Teleprompter abgelesen, aber oft glänzend geschrieben und überzeugend vorgetragen.

Diese Bilanz hat ihm - das eben ist die Spaltung der Nation - heftige Ablehnung durch die konservative Hälfte der Amerikaner eingetragen; eine Ablehnung, die keineswegs von Anfang an bestanden hatte.

Fair, wie die Amerikaner sind, haben sie ihm nach seiner Wahl zunächst einen Vertrauensvorschuß eingeräumt. Bei einer Gallup- Umfrage, die vom 9. bis 11. Januar 2009 durchgeführt wurde, gaben zum Beispiel 78 Prozent an, von Obama eine gute Meinung zu haben; nur 18 Prozent hatten eine schlechte Meinung. Die Daten der anderen Institute waren damals ähnlich, wie man in dieser Grafik von Pollster.com sehen kann.

Aber jetzt hat Obamas Politik eben zu einer heftigen Opposition geführt; auch wenn die guten Meinungen über ihn als Person noch immer leicht überwiegen. (Bei den Urteilen über seine Amtsführung hingegen halten sich inzwischen positive und negative Meinungen die Waage; und das Herzstück seiner Innenpolitik, die Gesundheitsreform, wird im Augenblick mit 54 zu 38 Prozent abgelehnt).



Ich habe das vorausgeschickt, damit das Folgende nicht mißverstanden wird.

Es gibt nämlich nicht nur die begründete, wenn auch weit bis an den rechten Rand reichende Opposition gegen Obama, wie sie sich in der Republikanischen Partei, aber zum Beispiel auch in der Tea- Party- Bewegung manifestiert (siehe Amerikanische Populisten, europäische Populisten; ZR vom 12. 2. 2010). Sondern es gibt auch eine unfaire Kampagne gegen ihn, die zum Teil lachhafte Züge trägt. Ein Beispiel war der Vorwurf um die Weihnachtszeit, Obama hätte seinen Christbaum mit einer Kugel geschmückt, die ein Porträt Maos zeige.

In diese Kategorie gehört auch das, was ich jetzt schildern möchte. Eigentlich eine Lächerlichkeit, aber sie ist symptomatisch.

Ich wurde auf die WebSite einer Organisation namens "TownHall" aufmerksam gemacht; genauer: auf einen Artikel, in dem dies über Präsident Obama behauptet wurde:
President Barack Obama's budget has added more than $100 billion of federal taxpayers' money to what is called "education," so that means it will be spent by alumni of the Saul Alinsky school of radical community organizing and/or the Chicago Democratic machine. (...)

Obama is using the public schools to recruit a private army of high- schoolers to "build on the movement that elected President Obama by empowering students across the country to help us bring about our agenda." (...)

Obama's Internet outreach during his campaign, Obama for America, has been renamed Organizing for America (OFA) in order to recruit students to join a cult of Obama and become activists for his goals.

Präsident Obamas Haushaltsplan stellt mehr als 100 Milliarden Dollar zusätzlich vom Geld des Steuerzahlers für das bereit, was "Unterricht" genannt wird; was bedeutet, daß sie von Absolventen der Saul- Alinksy- Schule für extremistische Gemeinde- Organisation und/oder der Parteimaschine der Demokraten in Chicago ausgegeben werden. (...)

Obama gebraucht die staatlichen Schulen dazu, eine Privatarmee von Oberschülern zu rekrutieren, "aufgebaut auf der Bewegung, die Präsident Obama wählte, indem sie Schüler überall im Land dazu befähigte, uns bei der Umsetzung unserer Agenda zu helfen". (...)

Obamas Internet- Auftritt während seines Wahlkampfs, Obama for America, wurde in Organization for America (OFA) umbenannt, um Schüler dafür zu rekrutieren, sich einem Obama- Kult anzuschließen und zu Aktivisten für seine Ziele zu werden.
Nicht wahr, das klingt erschreckend? Hundert Milliarden Dollar für Absolventen einer extremistischen Schule und der berüchtigten Parteimaschine von Chicago? Das Rekrutieren einer Privatarmee von Schülern, die einem Obama- Kult huldigen sollen?



"TownHall" beruft sich auf einen Artikel in dem Blog "Atlas Shrugged" von Pamela Geller.

Dort erfährt man, daß es in der Tat diese umbenannte Organisation OFA gibt und daß sie um Schüler wirbt. Was ja nicht zu beanstanden ist; jede politische Jugendorganisation wirbt um Schüler. "Atlas Shrugged" zeigt das Faksimile eines Aufnahmeformulars für OFA. Die Schüler können dort - in amerikanischen Schulen üblich - ein Praktikum (internship) absolvieren, für das sie Leistungspunkte (credits) erhalten.

Soweit ist nichts Beanstandenswertes zu erkennen. Allerdings schreibt Pamela Geller auch dies:
An Atlas reader, Chuck, has a student in the eleventh grade in an Ohio High School. Her government class passed out this propaganda recruiting paper so students could sign up as interns for Obama's Organizing for America (...). Obama is using our public school system to recruit for his Alinsky- inspired private army.

Ein Leser von "Atlas", Chuck, hat eine Tochter, welche die elfte Klasse einer High School in Ohio besucht. Im Gemeinschaftskunde- Unterricht wurde dieses Propaganda- Formular ausgeteilt, damit die Schüler sich als Praktikanten für Obamas Organizing for America eintragen konnten. (...) Obama benutzt unser staatliches Schulsystem zur Rekrutierung für seine von Alinksy inspirierte Privatarmee.
Saul Alinsky war ein linker Aktivist, der jene Bewegung der "Gemeinde- Organisatoren" gründete, innerhalb derer auch Barack Obama einst in Chicago gearbeitet hatte.

Das klingt in der Tat schlimm. Sollte Präsident Obama wirklich in dieser Weise staatliche Schulen mißbrauchen, um seiner eigenen politischen Organisation Mitglieder zuzuführen?

In dem Artikel wird das behauptet. Aber es ist nicht so. Über den tatsächlichen Sachverhalt berichtete der konservative Sender Fox News: Es handelte sich um einen einzigen Fall, in dem ein Lehrer solche Formulare in seiner Klasse verteilt hatte. Der zuständige Superintendent (vergleichbar einem Schulrat) John Richard wurde dazu von Fox News befragt:
... Richard acknowledged that distribution of the forms violated school policy and said they were never submitted to school administrators for approval, but the teacher remains on the job.

"We don't take sides politically, nor should we, and we certainly would not support students being indoctrinated politically or religiously or anything along those lines," he said.

Richard said the social studies teacher, whom he did not name, had no intent of proselytizing his students and was "given the material by another person." Richard said he "addressed" the issue with the teacher, though he declined to say what disciplinary action, if any, had been taken.

Richard räumte ein, daß die Verteilung der Formulare gegen die Politik der Schule verstieß und sagte, daß sie niemals dem Schulleiter zur Genehmigung vorgelegt worden seien. Der Lehrer würde jedoch seine Stelle behalten.

"Wir nehmen politisch nicht Stellung, und das sollten wir auch nicht, und wir würden es mit Sicherheit nicht unterstützen, wenn Schüler politisch oder religiös oder sonstwie indoktriniert werden würden", sagte er.

Richard sagte, daß der Gemeinschaftskunde- Lehrer, dessen Namen er nicht nannte, nicht die Absicht gehabt hätte, die Schüler politisch zu beeinflussen und "daß er das Material von einer anderen Person erhalten" hätte. Richard sagte, er habe den Lehrer auf den Vorfall "angesprochen"; er war allerdings nicht bereit, zu sagen, ob Disziplinarmaßnahmen eingeleitet worden seien, und wenn ja, welche.


Der Berg kreißte und gebar ein Mäuslein. Was Pamela Geller aufgebauscht und was "TownHall" zu dem Versuch Obamas gemacht hatte, eine Privatarmee von Schülern zu rekrutieren, entpuppt sich als das Fehlverhalten eines einzigen Lehrers. Eines Lehrers, der gegen die Richtlinien seiner Schule verstieß und der natürlich in keiner Weise im Auftrag von Präsident Obama handelte.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Werner Stenzig.

Zitat des Tages: "Israel hat soeben einen Angriff auf iranische Kernanlagen begonnen. Was dann?"

But even if Obama does not bomb Iran, that doesn't mean that no one else will. (...) The defining moment of his presidency may well come at 2 a.m. some day when he picks up the phone and is told that the Israeli prime minister is on the line: Israel has just carried out a raid on Iranian nuclear sites. What then?

(Aber auch wenn Obama den Iran nicht bombardiert, bedeutet das nicht, daß niemand anders das tun wird. (...) Der bestimmende Augenblick seiner Präsidentschaft wird an einem Tag um zwei Uhr morgens kommen, wenn er ans Telefon geht und mitgeteilt bekommt, daß der israelische Premierminister ihn anruft: Israel hat soeben einen Angriff auf iranische Kernanlagen begonnen. Was dann?)

Anne Applebaum in ihrer gestrigen Kolumne in der Washington Post.


Kommentar: Anne Applebaums Argumentation ist ebenso simpel wie beklemmend:

Erstens, schreibt sie, wird Präsident Obama den Iran nicht bombardieren. Nicht, weil er ein Linker oder ein Peacenik ist. (Ich wußte gar nicht, daß diese Bezeichnung für die pazifistischen Gegner des Vietnam- Kriegs im Amerikanischen noch aktuell ist). Sondern er werde das aus denselben Gründen nicht tun, aus denen es George W. Bush nicht tat:
  • Weil man nicht weiß, wo sich die Nuklearanlagen befinden.

  • Weil unsicher ist, ob ein solcher Angriff mehr erreichen würde, als das iranische Atomprogramm für ein paar Monate zu unterbrechen.

  • Weil die USA nicht mit den Reaktionen konfrontiert werden wollen, die der Iran für einen solchen Fall angedroht hat - Angriffe gegen die USA und Israel durch Verbündete des Iran im Irak, in Afghanistan, in Palästina und im Libanon.

  • Weil höhere Ölpreise die Folge eines solchen Angriffs wären.

  • Weil es die USA sich nicht leisten können, während ihre Truppen im Irak und in Afghanistan stehen, einen weiteren Krieg zu beginnen.
  • Und schließlich "... no American president could expect public support for more than a nanosecond" - könne kein amerikanischer Präsident erwarten, daß er für einen solchen Angriff mehr als eine Nanosekunde lang Unterstützung in der Öffentlichkeit finden würde.

    Das ist aus Applebaums Sicht die eine Seite. Die andere, meint sie, ist die Perspektive Israels:
    Many Israelis regard the Iranian nuclear program as a matter of life and death. The prospect of a nuclear Iran isn't an irritant or a distant threat. It is understood directly in the context of the Iranian president's provocative attacks on Israel's right to exist and his public support for historians who deny the Holocaust. If you want to make Israelis paranoid, hint that they might be the target of an attempted mass murder. Mahmoud Ahmadinejad does exactly that.

    Viele Israelis sehen das iranische Nuklearprogramm als eine Sache von Leben und Tod an. Die Aussicht auf einen atomar bewaffneten Iran ist nicht nur ein Ärgernis oder eine entfernte Drohung. Man versteht sie unmittelbar im Kontext der provokanten Angriffe des iranischen Präsidenten auf das Existenzrecht Israels und seine öffentliche Unterstützung für Historiker, die den Holocaust leugnen. Wenn man Israelis paranoid machen will, braucht man nur die Möglichkeit anzudeuten, daß sie das Ziel eines versuchten Massenmords werden könnten. Mahmoud Ahmadinedschad tut genau dies.
    Soweit Anne Applebaum. Am Ende des Kommentars äußert sie die Hoffnung, daß Präsident Obama auf einen solchen Fall vorbereitet sei.

    Ich fürchte, sie hat Recht mit ihrer Diagnose, und ich fürchte, daß sie mit ihrer Hoffnung nicht Recht hat.

    Präsident Obama hat schon im Wahlkampf angekündigt, daß er als Präsident den Herrschern des Iran zusichern werde, keinen Regimewechsel anzustreben (siehe "Ein Versprechen, keinen Regimewechsel anzustreben"; ZR vom 22. 6. 2009); und er hat im Mai vergangenen Jahres offensichtlich dem Ayatollah Khamenei eine "bilaterale und regionale Zusammenarbeit" angeboten (siehe Richard Herzinger zur Lage im Iran; ZR vom 25. 6. 2009).

    Wenn Ahmadinedschad sich wieder einmal eine besonders dreiste Rhetorik leistet, dann hat Präsident Obama keine Wahl, als dagegen mit der Schärfe zu protestieren, die man von ihm nun einmal erwartet. Dafür, daß er seit dem Mai vergangenen Jahres einen Politikwechsel vollzogen hat und jetzt auf Härte gegenüber dem Iran setzt, gibt es keinen Anhaltspunkt.

    Israel kann von Obama keine Unterstützung erwarten, sollte es sich zum Angriff auf den Iran entschließen. Der Präsident wird - beurteilt man ihn nach seinem bisherigen Verhalten - selbst dann weiter die Beschwichtigung suchen, wenn als Vergeltung für einen israelischen Angriff Helfer des Iran amerikanische Einrichtungen attackieren sollten.



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    23. Februar 2010

    Zitat des Tages: Bischöfin Käßmann erschrickt über sich selbst

    Ich bin über mich selbst erschrocken, dass ich einen so schlimmen Fehler gemacht habe. (...) Mir ist bewusst, wie gefährlich und unverantwortlich Alkohol am Steuer ist. Den rechtlichen Konsequenzen werde ich mich selbstverständlich stellen.

    Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, laut "Bild", zitiert in "Welt- Online", zu der Fahrt man vergangenen Samstag in Hannover, bei der sie betrunken eine rote Ampel überfuhr. Das Zitat wurde inzwischen von der Pressesprecherin der EKD Silke Römhild gegenüber "Spiegel- Online" bestätigt.


    Kommentar: Daß Käßmann nach erheblichem Trinken Auto fuhr, hätte mich für sich genommen nicht zu einem Kommentar veranlaßt. Auch der wohlfeilen Häme, die jetzt über sie hereinbricht (Leserkommentar bei "Welt- Online" heute um 7.45 Uhr: "Oh, ist das peinlich für diesen Moralapostel"), kann ich nichts abgewinnen.

    Aber daß jemand, der sich ein solches Delikt hat zuschulden kommen lassen (der Sachverhalt ist unbestritten, der Führerschein eingezogen), mit pastoralem Gewäsch reagiert, das hat scheint mir nun doch eine Anmerkung wert zu sein.

    Sie werde sich den rechtlichen Konsequenzen selbstverständlich stellen, sagt die Bischöfin. Ja, hat sie denn eine Wahl?

    Mir scheint, sie will das, was sie an von ihr überhaupt nicht beeinflußbaren juristischen Folgen in Gang gesetzt hat, in einen Akt ihres Gutmenschentums ummünzen. Hier stehe ich, ich stelle mich.

    Sie sei über sich selbst erschrocken, sagt sie. Margot Käßmann ist eine Frau von 51 Jahren. Und nun erkennt sie wie ein Heranwachsender, der noch auf der Suche nach seinem Selbstbild ist, daß sie zu einer Tat fähig ist, die sie sich gar nicht zugetraut hatte?

    Mir scheint, wir sollen merken: Sie ist ja eigentlich gar nicht so, daß sie so etwas tun könnte, die Bischöfin. Ihr eigentliches Ich, das gutmenschliche, erschrickt über das, was da offenbar auch noch in ihr steckt. Das klassische Muster der Bigotterie.

    Und das, was da in der Bischöfin steckt und worüber sie erschrickt, das hat einen "schlimmen Fehler" gemacht. Man ist versucht, zu fragen, ob sie vielleicht auf die bekannte Äußerung von Bonapartes Polizeiminister Joseph Fouché anspielen wollte "C'est pire qu'un crime, c'est une faute" - das sei schlimmer als ein Verbrechen, es sei ein Fehler.

    Aber Scherz beiseite: Unverantwortliches Handeln einen "Fehler" zu nennen, das zeigt wieder diese Tendenz, sich vom eigenen Handeln zu distanzieren. Ein Fehler unterläuft einem. Eine Tat begeht man.

    Mir scheint, die Bischöfin will uns sagen: Niemals hätte sie sich dafür frei entschieden, sich betrunken ans Steuer zu setzen. Aber irgendwie hat sich da ein Fehler in ihr Verhalten eingeschlichen, ein schlimmer.

    Und dann auch noch dies: "Mir ist bewusst, wie gefährlich und unverantwortlich Alkohol am Steuer ist". Fehlt nur noch, daß sie gesagt hätte: Also bitte nicht nachmachen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    22. Februar 2010

    Eine beunruhigende Bemerkung von Helmut Schmidt. Die Deutschen und der Antisemitismus

    In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" ist ein Auszug aus einem Buch vorabgedruckt, das am heutigen Montag auf den Markt kommt: "Unser Jahrhundert"; basierend auf der Aufzeichnung von Gesprächen, die Helmut Schmidt im vergangenen Sommer mit dem Historiker Fritz Stern führte, einem alten Freund Schmidts. Es geht in der abgedruckten Passage um die Deutschen und den Antisemitismus. Was Schmidt sagt, ist beunruhigend.

    Schmidt beginnt mit einer Frage (oder drei Fragen), die er fast schon selbst beantwortet; schon in der Fagestellung und dann anschließend im Gespräch:
    Schmidt: Antisemitismus hat es in vielen europäischen Staaten gegeben. Meine Frage ist: Was waren die entscheidenden Ursachen dafür, dass der Antisemitismus sich in Deutschland bis zum millionenfachen Genozid übersteigern konnte. Oder anders gefragt: Wie groß darf unser Vertrauen darauf sein, dass wir Deutschen künftig psychotischen Gefährdungen erfolgreich widerstehen werden? Oder noch anders gefragt: Ist die deutsche Nation in höherem Maße verführbar als andere europäische Nationen – und warum ist das so?
    Stern wendet ein, daß auch in anderen europäischen Ländern der Antisemitismus heftig und weit verbreitet gewesen sei. Man redet über die Vorgeschichte des Nationalsozialismus, über Hitler. Dann aber kommt Schmidt auf sein Anliegen zurück, und der in der "Zeit" publizierte Text endet so:
    Schmidt: Ich habe ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass es irgendwelche Gene gibt, die dabei eine Rolle spielen. (...) ... dass jemand in großer Zahl fabrikmäßig Menschen ermordet – das ist einmalig. Und das ist für mich der Grund, weshalb mir mein eigenes Volk nach wie vor ein bisschen unheimlich ist. Mein Vertrauen in die Deutschen ist nicht unbeschränkt groß, muss ich bekennen.

    Stern: Ich bin nicht glücklich mit dem Wort Gene. Es kommt mir einfach zu biologistisch vor, fast schon rassistisch. Ich glaube auch nicht, dass Sie es wirklich meinen: Gene. (...)

    Schmidt: Man kann das Wort Gene von mir aus ersetzen und sagen, dass es irgendeine Veranlagung gibt. Das kann man machen, dann ist die Konnotation, die mit dem Wort Gene verbunden ist, vermieden. Aber das Rätsel bleibt, was die Deutschen hier gemacht haben.


    Daß Schmidt an Gene denkt, finde ich ebenso seltsam, wie es offenbar Fritz Stern eigenartig vorkam; stattdessen "Veranlagung" zu sagen, ändert ja nichts. Aber ich denke, das sollte man ausklammern. Ich möchte Schmidts Frage, seine Sorge in der etwas allgemeineren Form aufgreifen: Gibt es eine spezifisch deutsche Neigung - was immer ihre Ursachen -, die sich im eliminatorischen Antisemitismus der Nazis Bahn gebrochen hat?

    Eine solche Neigung, die sich in einer besonderen Weise ausschließlich gegen Juden richten würde, kann ich nicht erkennen. Antisemitismus gab es - das betont Fritz Stern zu Recht - fast überall in Europa.

    Zwar fehlten in Deutschland, darüber sind sich Stern und Schmidt einig, die starken republikanischen Gegenkräfte, wie sie in Frankreich zum Beispiel in der Dreyfus- Affäre durch Émile Zola und Jean Jaurès personifiziert wurden. Aber eine generell in Deutschland ungewöhnlich ausgeprägte Neigung zum Antisemitismus zu diagnostizieren, dafür scheinen mir die empirischen Belege zu fehlen.

    Es könnte aber sehr wohl eine spezifisch deutsche Neigung geben, die sich im Antisemitismus - unter anderem im Antisemitismus - lediglich einen Ausdruck verschafft hat: Eine besondere Neigung zu einer kollektiven, sich feindselig gegen andere richtenden Empörtheit. Zu einer kollektiven Empörtheit, die man mit dem Wort Schmidts durchaus in die Nähe des Psychotischen rücken kann.



    Ich habe drei Epochen erlebt, in denen diese Tendenz zutage trat.

    Zum ersten Mal ist sie mir Ende der sechziger Jahre aufgefallen, als aus dem, was man zunächst die "APO" (Außerparlamentarische Opposition) nannte, die sogenannte Studentenbewegung hervorging. Ich habe diese Jahre an einer Universität erlebt und einiges von diesen Erlebnissen in der Serie Wir Achtundsechziger geschildert; siehe im jetzigen Zusammenhang besonders die Folgen Die Zeit der Pausenclowns; ZR vom 7. 7. 2007, Die Nachkriegskinder; ZR vom 4. 5. 2008 und Eine deutsche, eine sehr deutsche Bewegung; ZR vom 19. 5. 2008.

    Es war am Anfang eine befreiende, eine fast überschwenglich heitere Bewegung. Aber buchstäblich innerhalb von Monaten nahm sie immer bedrohlichere Züge an.

    Andersdenkende wurden niedergeschrieen. Es erschienen "Wandzeitungen", in denen Professoren verleumdet wurden. Einige Professoren wurden an den besonders politisch aktiven Universitäten so ständig und so massiv bedrängt, daß sie den ersten besten Ruf ins Ausland oder an eine ruhigere Provinz- Universität in Deutschland annahmen.

    Immer mehr breitete sich eine sozusagen chronische Aufgeregtheit aus; ein Freund- Feind- Denken; auch ein Gruppenzwang, der es immer schwerer machte, abweichende Meinungen auch nur zu äußern. Gewiß, es wurde ständig "diskutiert"; Tag und Nacht sozusagen. Aber das waren keine Gespräche, in denen man Meinungen ausgetauscht hätte, sondern es waren penetrante Bekehrungsversuche. Die sich freilich nur innerhalb der Linken abspielten. Wer als "Rechter" galt, den agitierte man nicht, sondern den bekämpfte man.

    Damals sind mir das erste Mal Zweifel daran gekommen, daß Deutschland wirklich schon das Denken der Nazis hinter sich gelassen hatte. Ich bin in dieser Zeit in die SPD eingetreten, weil sie mir als ein Bollwerk der Demokratie gegen diese neuen SA-Leute erschien.



    Diese Neigung zu einer kollektiven, sich feindselig gegen andere richtenden Empörtheit hat dann in den siebziger Jahren die Form politischen Mordens angenommen.

    Es gab in den späten sechziger und in den siebziger Jahren in vielen Ländern politische Unruhen. Es war eine Zeit des Gärens; der Wechsel von der Kriegsgeneration zu einer jungen Generation, die in Frieden und Wohlstand aufgewachsen war und die jetzt alles haben wollte, und zwar sofort. Aber nirgendwo (sieht man ab von der durch Mao inszenierten barbarischen "Kulturrevolution") war diese Bewegung derart mörderisch wie in Deutschland.

    Die RAF zeigte mir damals, daß das Denken der Nazis nicht nur als eine Einstellung noch gegenwärtig war, sondern daß es, in die blutige Praxis umgesetzt, auch noch dieselben Züge trug (wenn auch, das versteht sich, in einer ganz anderen Dimension):

    Eine elitäre Arroganz. Ein Sendungsbewußtsein, das die eigenen Mordtaten als instrumentell zur Verwirklichung hehrer historischer Aufträge rechtfertigte. Eine Gefühllosigkeit den Opfern gegenüber, wie sie zum Beispiel einer der Mörder, der heute auf freiem Fuß befindliche Karlheinz Dellwo, an den Tag legt (siehe Die Aktualität der RAF; ZR vom 19. 3. 2007).

    Und vor allem die Entmenschlichung des Anderen. Für die Nazis waren die Juden Untermenschen, Parasiten usw. Als die RAF Hanns- Martin Schleyer durch Genickschuß ermordet hatte, teilte anschließend eine Anruferin mit, man habe "seine klägliche und korrupte Existenz beendet". Die Sprache des Unmenschen; das Denken des Unmenschen.



    Das dritte Mal ist mir diese deutsche Neigung zu einer kollektiven, sich feindselig gegen andere richtenden Empörtheit in einem Kontext aufgefallen, der an der Oberfläche gerade Friedlichkeit zu beinhalten schien: Der Stimmung Anfang 2002.

    Die Ereignisse des 11. September 2001 waren noch in frischer Erinnerung. Damals habe ich mit meiner Frau ein Konzert des Sängers Konstantin Wecker besucht. Nein, "Konzert" ist die falsche Bezeichnung. Es war, in einer großen Halle, eine Agitations- Veranstaltung gegen die USA, gegen den Westen, gegen den Kapitalismus.

    Wecker leistete zu Beginn Lippendienst und äußerte sein Bedauern über den Anschlag auf die Twin Towers. Nachdem er das hinter sich gebracht hatte, begann die Agitation. Immer wieder längere gesprochene Zwischentexte, dann der eine oder andere Song. Es war das, was man im Englischen heute hate speech nennt, die Sprache des Hasses.

    Nun gut, man kennt Konstantin Wecker. Das wirklich Schlimme war die Reaktion des überwiegend jungen Publikums. Wecker wurde nicht etwa ausgebuht oder ausgezischt, sondern das Publikum ging voll mit. Immer wieder tosender Beifall; je haßerfüllter Wecker sprach, umso lautstärker.

    Wecker verstand es, eine aufgeheizte Stimmung zu erzeugen, wie ich sie noch nie zuvor live erlebt hatte. Eine Stimmung, wie ich sie nur aus Filmaufnahmen gekannt hatte, etwa denjenigen von der berüchtigten "Sportpalast"- Rede des Josef Goebbels.

    Ich bin damals in der Pause gegangen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte; überzeugt davon, daß diese deutsche Neigung zu einer selbstgerechten Empörtheit, zu einer bedingungs- und grenzenlosen Feindseligkeit "Schädlingen" gegenüber noch immer virulent ist.



    Sie hatte nur ein anderes Objekt gefunden als "die Juden". Jedenfalls, was das äußere Verhalten angeht. Was an latentem Antisemitismus auch jetzt noch vorhanden ist und sich zum Beispiel als "kritische Haltung gegenüber Israel" geriert, das ist schwer zu beurteilen.

    Ich fürchte, Helmut Schmidt könnte Recht haben mit dem, was er ganz am Beginn des in der "Zeit" vorabgedruckten Abschnitts sagte: "Unter uns gesagt: Mein Vertrauen in die Kontinuität der deutschen Entwicklung ist nicht sonderlich groß. Die Deutschen bleiben eine verführbare Nation – in höherem Maße verführbar als andere".



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Helmut Schmidt im Oktober 2008. Vom Autor Aconcagua unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, in die Public Domain gestellt.

    Kurioses, kurz kommentiert: Axolotl, wasserdicht verpackt. Helene Hegemann, überanstrengt auf der Klobrille. Und Lurchi auf dem Karussell

    Der Debütroman "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann hat nicht nur Debatten über geistiges Eigentum angestoßen, sondern zugleich einer bisher nur in Lurchenfankreisen bekannten Tierart zu neuer Aufmerksamkeit verholfen: dem mexikanischen Schwanzlurchen Axolotl, der niemals dem Larvenstadium entwächst und dessen Gliedmaßen und innere Organe regenerationsfähig sind. ... der jüngst erschienene Roman mache sich in Form gestiegener Nachfrage bemerkbar, sagt ... Nacira Richi, die selbst auch Axolotl züchtet und – wie in der Branche üblich – wasserdicht verpackt per Post versendet.

    Marie Katharina Wagner gestern in FAZ.Net.


    Kommentar: Da sage noch einer, die Kunst würde nicht in die Gesellschaft hineinwirken.

    Der Artikel enthält übrigens auch eine Kostprobe von Hegemanns Stil:
    Ich sitze überanstrengt auf einer Klobrille. Das Axolotl hängt an dem nicht mehr funktionstüchtigen Abschließscheiß der Toilettenkabine.
    Ich denke, ich werde es bei der Lektüre dieser Kostprobe belassen und mir den Kauf des Buchs ersparen.



    Und dann sind da noch die Biologiekenntnisse der Redakteurin Marie Katharina Wagner:
    Nur wenige Zoofachgeschäfte und einzelne Baumärkte führten Axolotl, weil sie eine bestimmte Wassertemperatur brauchten und nicht mit anderen Fischen gehalten werden könnten.
    Nein, liebe Frau Wagner, ein Lurch ist kein Fisch. Wie ein Lurch aussieht, das weiß doch jedes Kind; nämlich nicht wie ein Fisch, sondern wie Lurchi.

    Gern hätte ich Ihnen, liebe Frau Wagner, den Lurchi in seiner vollen Pracht gezeigt, aber da ist das Copyright davor. Immerhin können Sie ihn auf diesem Karussell sehen; es ist der Schwarz- Gelbe ganz am linken und rechten Rand:




    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: Lurchi-Karussell, Werbung für die Fa. Salamander, ca. 1970. Landesmuseum Württemberg (Außenstelle Museum für Volkskultur in Württemberg, Waldenbuch). Vom Autor Andreas Praefcke in die Public Domain gestellt.

    21. Februar 2010

    Zitat des Tages: "Das Thema der nationalen Identität richtet sich gebieterisch an jeden von uns"

    Prenons maintenant la nation, avec tout ce gâchis autour du thème tout à fait défendable de l'identité nationale. (...) Qui avons-nous été, qui sommes-nous, que serons-nous? Comment faire désormais pour vivre ensemble et au nom de quelles valeurs? Ce ne sont pas seulement des questions pour les historiens, les sociologues, les hommes politiques en général, les assemblées, mais elles s'imposent à chacun d'entre nous.

    (Nehmen wir jetzt die Nation, mit allem dem Wirrwarr um dieses doch ganz und gar verfechtbare Thema der nationalen Identität. (...) Wer waren wir, wer sind wir, was werden wir sein? Was ist zu tun, um in Zukunft zusammenzuleben, und im Namen welcher Werte? Das sind Fragen nicht nur für die Historiker, die Soziologen, allgemein die Politiker, die Parlamente, sondern sie richten sich gebieterisch an jeden von uns.)

    Jean Daniel, Leitartikler und bis 2008 auch Herausgeber des linken Nouvel Observateur, in seinem Leitartikel in der aktuellen Ausgabe (Nº2363 vom 18. 2. 2010). Titel: "Ce vif désir d'être français", dieser heftige Wunsch, Franzose zu sein.


    Kommentar: Jean Daniel ist mit seinen fast neunzig Jahren der Doyen der französischen Publizistik; ein Mann von ungebrochener Aktivität. Jede Woche erscheint im Nouvel Observateur sein Leitartikel; eine Sammlung dieser Artikel - jeder aus meiner Sicht lesenswert, viele brillant - finden Sie hier. Sein jüngstes Buch kam 2009 heraus, die Autobiografie "Les miens" (Die Meinen).

    Das Thema der nationalen Identität verkörpert Jean Daniel wie kaum ein anderer französischer Intellektueller. Er wurde in Blida nah bei Alger geboren. Seine Vorfahren sind Berber, die zum Judentum übergetreten waren. Er wuchs in der Kultur des französischen Algerien auf, begeistert für Literatur und Philosophie, für die Werte der französischen Republik. Er kämpfte für Frankreich; erst in der Résistance und dann in der Befreiungsarmee des General de Gaulle.

    Mit sechsundzwanzig Jahren begann er im befreiten Paris als Journalist zu arbeiten; 1947 gründete er seine erste Zeitschrift, Caliban. Er schloß Freundschaft mit Albert Camus, arbeitete mit Sartre zusammen und war politisch in der nichtkommunistischen Linken engagiert. In den fünfziger Jahren kam er zum Nachrichtenmagazin L'Express; 1964 gehörte er zu den Gründern des Nouvel Observateur, der heute mit einer Auflage von zwischen 500.000 und 600.000 Exemplaren gleichauf mit dem Express liegt.

    Ich erwähne diese Details, weil aus ihnen deutlich wird, vor welchem Hintergrund sich Jean Daniel zum Thema der nationalen Identität äußert: Als Franzose, als Nordafrikaner, als Jude, vor allem als Aufklärer mit einem linken politischen Engagement.

    Es stand in diesem Blog schon früher zu lesen (beispielsweise hier mit einer Hommage an Jean Daniel und hier in Gestalt eines kleinen Quiz), aber es erscheint mir wichtig genug, es zu wiederholen:

    Das Thema der nationalen Identität ist in Frankreich kein Thema ausschließlich der Konservativen; und es ist kein Thema ausschließlich derer, die ihre Wurzeln in einer französischen Ahnenreihe haben. Es ist gerade auch ein Thema der Linken und der Liberalen; es ist gerade auch ein Thema derer, die sich zur französischen Nation bekennen, ohne dieser durch ihre Abstammung anzugehören.



    Es ist ein Thema, das selbstredend durch die Einwanderung von Moslems und die Frage von deren Assimilation an Brisanz gewonnen hat.

    Sollte der Staat auf die Religion der Einwanderer Rücksicht nehmen? Jean Daniel hat dazu eine einfache und vollkommen klare Meinung, die er in diesem Satz zusammenfaßt: Der Staat dürfe keine Rücksicht auf Religion nehmen, sondern "C'est aux fidèles de vérifier que la pratique de leur religion n'est pas contraire aux valeurs de la République"; es sei Sache der Gläubigen, dafür Sorge zu tragen, daß das Praktizieren ihrer Religion nicht im Widerspruch zu den Werten der Republik steht.

    Damit zitiert Jean Daniel Mohammed Arkoun; Moslem, Islamwissenschaftler, Professor unter anderem an der Sorbonne, Offizier der französischen Ehrenlegion.



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    20. Februar 2010

    Marginalie: Die holländische Regierung ist zerbrochen. Afghanistan war nur der Anlaß. Ceterum Censeo: Wir brauchen ein Mehrheitswahlrecht

    Zum Ende der holländischen Regierungskoalition schreibt heute Karsten Polke- Majewski in "Zeit- Online":
    Mal gewann Fortuyns Partei eine erschreckend hohe Zahl an Parlamentssitzen, mal waren es die ebenso populistischen Sozialisten, die die Wut der Bevölkerung zu bedienen und zu nutzen verstanden. (...)

    In diesem wilden Schwanken zwischen den Extremen hat Ministerpräsident Jan Peter Balkenende ständig versucht, der politischen Mitte Gewicht zu verleihen. Mal koalierte er mit der rechtsliberalen VVD und der Liste Pim Fortuyn, dann wieder bildeten seine Christdemokraten mit der VVD und der linksliberalen D66 ein bürgerliches Bündnis. Zuletzt ließ er sich auf eine große Koalition mit den Sozialdemokraten ein, die allerdings der Hilfe der kleinen Splitterpartei ChristenUnie bedurfte, um überhaupt mehrheitsfähig zu sein. Alle diese Bündnisse waren von extremen Spannungen und dem Kampf um Partikulärinteressen geprägt.
    Dieses Szenario könnte ein Blick in die deutsche Zukunft sein.

    Es stimmt ja nicht, daß wir in Deutschland keine relevante populistische Partei haben. Sie ist nur links orientiert; statt (wie der FN in Frankreich) rechts oder (wie in der Schweiz die SVP und wie die Liste Pim Fortuyn) liberalkonservativ.

    Das Schlimme am Populismus ist weniger, daß die Populisten ihr politisches Programm umzusetzen versuchen könnten; das geht ja in der Regel gar nicht. Aber sie treiben die anderen Parteien vor sich her.

    Die deutschen Kommunisten haben die SPD nach links getrieben, weil man nicht noch mehr Wähler an sie verlieren wollte. Das wiederum hat in der linken Mitte ein Feld geöffnet, das nun die CDU zu besetzen versucht. Gegen diesen Linksruck der Union versucht sich Westerwell im Augenblick mit einem Populismus eigener Art abzusetzen.

    Populismus ist eine Gefahr für das gesamte politische System. Aber nur unter dem Verhältniswahlrecht. Denn nur dann müssen die großen Parteien fürchten, so viele Wähler an die Populisten zu verlieren, daß sie lieber deren Themen übernehmen.

    Sie haben außerdem die Wahl, ob sie die Populisten aus der Regierung heraushalten oder sie aufnehmen wollen. Tun sie das erstere, dann entstehen Mehrheitsverhältnisse, die häufig nur noch unnatürliche Koalitionen zulassen, mit einem vorprogrammierten Streit (wie jetzt in Holland). Nehmen sie sie in die Regierung auf, dann ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis diese zerbricht; Romano Prodi hat das in Italien erlebt.



    Die Regel unter dem Verhältniswahlrecht sind instabile Regierungen; Verhältnisse wie in der Weimarer Republik, wie in der Vierten Republik Frankreichs, wie in Italien, wie in Israel, wie inzwischen in Holland und in Belgien.

    Wir sind in der Bundesrepublik bisher davon verschont geblieben, weil eine Reihe von historischen Glücksfällen uns große Volksparteien beschert hat. Beispielsweise die Persönlichkeit Adenauers und der Erfolg der Wirtschaftspolitik Erhards, denen die Union ihren Weg zur Volkspartei verdankt; auf der anderen Seite das Fehlen einer relevanten politischen Kraft links von der SPD aufgrund der deutschen Teilung.

    Damit ist es vorbei. Die am 27. September 2009 "siegreiche" Union hat ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1949 erreicht, die einstige Volkspartei SPD ihr schlechtestes. Wir steuern jetzt auf die Situation zu, die für das Verhältniswahlrecht typisch ist; ein Thema, das in diesem Blog immer wieder angesprochen wurde (siehe z.B. Noch einmal ein Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht; ZR vom 29. 5. 2007, Bald Weimarer Verhältnisse in Berlin?; ZR vom 28. 1. 2008 sowie "Das Wahlsystem ist eklatant gescheitert"; ZR vom 11. 2. 2009).

    Natürlich gibt es keine Chance, in Deutschland das Mehrheitswahlrecht einzuführen; sei es nach amerikanischem, sei es nach französischem Vorbild. Gut möglich also, daß wir von der politischen Stabilität dieser Länder in Deutschland bald nur noch träumen können.



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    Zitat des Tages: "Obamas Sondergesandter für Klimawandel verletzt die Verfassung". Deutliche Worte in der "Washington Post"

    Last week, Todd Stern, America's special envoy for climate change -- yes, there is one; and people wonder where to begin cutting government -- warned that those interested in "undermining action on climate change" will seize on "whatever tidbit they can find." Tidbits like specious science, and the absence of warming?

    It is tempting to say, only half in jest, that Stern's portfolio violates the First Amendment, which forbids government from undertaking the establishment of religion. A religion is what the faith in catastrophic man-made global warming has become. It is now a tissue of assertions impervious to evidence, assertions that everything, including a historic blizzard, supposedly confirms and nothing, not even the absence of warming, can falsify.


    (Letzte Woche warnte Todd Stern, Amerikas Sondergesandter für den Klimawandel - ja, so jemanden gibt es; und die Leute fragen noch, wo man mit der Verkleinerung der Regierung beginnen könnte - , daß diejenigen, die daran interessiert seien, das "Handeln gegen den Klimwandel zu torpedieren", sich "jedes Häppchen" nehmen würden, das sie "finden können". Häppchen wie Pseudowissenschaft und das Fehlen einer Erwärmung?

    Man ist versucht, nur halb im Scherz zu sagen, daß Sterns Amt das First Amendment [ersten Zusatz zur Verfassung] verletzt, wodurch der Regierung jeder Versuch verboten wird, eine Religion zu etablieren. Eine Religion ist das nämlich, was aus dem Glauben an eine menschengemachte Erderwärmung geworden ist. Es ist jetzt ein Geflecht von Behauptungen, die gegen alle Fakten gefeit sind; Behauptungen, die durch alles - sogar einen Blizzard von historischen Ausmaßen - angeblich bestätigt werden und die nichts, noch nicht einmal das Fehlen einer Erwärmung, widerlegen kann).

    George F. Will in seiner Kolumne, die am morgigen Sonntag in der gedruckten Ausgabe der Washington Post erscheint.


    Kommentar: Der Aufhänger für Wills Artikel ist eine Äußerung des Vorsitzenden des IPCC, Rajendra Pachauri, der Klimaskeptiker als "dieselben Leute" bezeichnet hatte, die den Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs sowie die schädliche Wirkung von Asbest leugnen würden. "I hope they put it on their faces every day", er hoffe, daß sie sich den Asbest jeden Tag ins Gesicht schmieren, fügte der menschenfreundliche Inder hinzu.

    Und hier sehen Sie Todd Stern bei seiner Einführung in das Amt des Sondergesandten für Klimawandel durch Außenministerin Clinton am 26. Januar 2009. Man sieht ihm die Bürde dieses schweren Amtes an:





    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Todd Stern bei seiner Amtseinführung. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.

    19. Februar 2010

    Kleines Klima-Kaleidoskop (9): Phil Jones antwortet seinen Kritikern. Klimakämpfer in ihren Schützengräben

    Anders als die meisten Gläubigen sind Wissenschaftler sich klar darüber, daß jeder von ihnen Unrecht haben kann. Das begründet Respekt vor denjenigen, die andere wissenschaftliche Meinungen vertreten. Das ermöglicht die faire Diskussionen mit dem Ziel, gemeinsam der Wahrheit näherzukommen.

    In der Klimawissenschaft fehlte es in den vergangenen Jahrzehnten in nicht unerheblichem Maß an diesen Merkmalen des Wissenschaftsprozesses. Eine offene, kontroverse Diskussion über die Theorie der menschengemachten globalen Erwärmung fand unter der Ägide des Weltklimarats (IPCC) kaum statt. Die Vertreter dieser Theorie - ich nenne sie im Folgenden die IPCC-Theorie - benahmen sich oft so, als seien allein sie im Besitz der Wahrheit.

    Kritikern wurde nicht argumentativ begegnet, sondern man hat sie abgekanzelt; einen besonders unangenehmen Text dieser Art hat beispielsweise vor zweieinhalb Jahren der Ozeanograph Stefan Rahmstorf verfaßt (siehe Diskussionen über das Klima und das Klima von Diskussionen; ZR vom 4. 9. 2007).

    Die Diskussion, die innerhalb der Scientific Community weitgehend nicht stattfand - jedenfalls nicht offiziell, nicht in den Publikationen -, wurde durch diese Methode des Exorzierens nach außen gedrängt. Vieles von dem, was eigentlich im Rahmen des Wissenschaftsprozesses selbst an Kritik hätte vorgebracht werden müssen, wurde in das Umfeld verlagert; es wurde von Autoren formuliert, die selbst auf diesem Gebiet nicht forschen.

    Sie konnten und können sich durch diese Position außerhalb des Wissenschaftsbetriebs unbefangener äußern. Eine Stellungnahme gegen die IPCC-Theorie kann sie nicht ihre Karriere kosten, weil sie gar keine machen. Andererseits ist zu fragen, ob denn jemand, der selbst auf einem Gebiet nicht forscht, überhaupt die Kompetenz haben kann, die Arbeiten von Forschern kritisch zu beurteilen.

    Zwar sind unter den Kritikern des IPCC-Modells auch ausgewiesene Forscher wie Horst Malberg, Fred Singer und Nils-Axel Mörner. Aber es überwiegen bei den Klimaskeptikern doch diejenigen, die nicht selbst in der Klimaforschung arbeiten. Autoren, die nicht in angesehenen Fachzeitschriften publizieren, sondern überwiegend in Blogs. Oft sogar ohne Ausbildung in einer der Mutterwissenschaften der Klimatologie; also z.B. in Physik, Meteorologie, Glaziologie oder Ozeanographie.

    Es ist dadurch eine verfahrene Situation entstanden. An die Stelle einer für alle theoretischen Ansätze offenen, von gegenseitigem Respekt getragenen Diskussion ist ein Kampf zwischen zwei Lagern getreten. Jedes hat sich eingegraben und feuert aus seinen Geschützen.

    Wie schwer da eine Diskussion ist, das zeigen ein am vergangenen Montag von NatureNews publizierter Artikel und die Kommentare dazu. NatureNews ist eine Online- Publikation des Wissenschaftsmagazins Nature, in dem viele der für die IPCC-Theorie maßgeblichen Artikel erschienen sind.



    Der Artikel trägt die Überschrift "'Climategate' scientist speaks out" - "Climagate"- Wissenschaftler meldet sich zu Wort. Der sich zu Wort meldet - der sich gegenüber NatureNews in einem Interview geäußert hat -, ist Phil Jones, einer der führenden Vertreter der IPCC-Theorie. Er ist bekanntlich eine der zentralen Figuren in Climagate, also der Affäre um gehackte Emails mit - wie es scheint - kompromittierendem Inhalt. Gegenwärtig ist er bis zur Klärung des Vorwurfs beurlaubt, er habe die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens verletzt und er habe gegen das Gesetz zur Informationsfreiheit verstoßen.

    Zum zweiten Punkt wollte sich Jones in dem Interview nicht äußern. Zum ersten Vorwurf nimmt er in zwei Punkten Stellung. Es geht um Effekte, die jeweils mit einem Kürzel bezeichnet werden: UHI und MWP.

    UHI steht für "Urban Heat Island", also städtische Hitzeinsel. Gemeint ist der Umstand, daß es innerhalb von Städten wärmer ist als im Umland. Dehnen sich nun Städte aus, dann kann es passieren, daß eine Meßstation, die ursprünglich in einer ländlichen Gegend lag, jetzt von diesem Effekt beeinflußt wird. Weiterhin kann sich innerhalb von Städten die Temperatur ändern, z.B. durch Änderungen in der Bebauung. Ein Anstieg dort gemessener Temperaturen könnte also eine klimatisch bedingte Erwärmung vorgaukeln.

    Prinzipiell könnten somit die Messungen der globalen Temperatur durch UHIs beeinflußt werden. Ob und gegebenenfalls in welchem Maß dies geschieht, ist eine empirische Frage. Um sie zu untersuchen, hat Phil Jones (1990) zusammen mit Koautoren einen Artikel verfaßt, in dem die Daten chinesischer Meßstationen verwendet wurden. Das Ergebnis war, daß die Lokalisation der Stationen keinen wesentlichen Einfluß auf die Meßdaten hatte.

    Verschiedene Klimaskeptiker haben diese Arbeit kritisiert; das ging bis zum Vorwurf des Betrugs.

    Jones räumt in dem Interview ein, daß die Autoren eine unzuverlässige Quelle verwendeten hatten, nämlich Daten eines chinesischen Gewährsmanns des Mitautors Wang. Die Annahme, daß die Stationen in dem untersuchten Zeitraum nicht verlegt wurden, sei wahrscheinlich falsch gewesen.

    "It's not acceptable," sagte Jones in dem Interview. Das sei nicht akzeptabel. Er schloß nicht aus, eine Richtigstellung zu veröffentlichen. Eine spätere Untersuchung hätte aber die ursprüngliche Schlußfolgerung bestätigt, daß der Einfluß von UHIs vernachlässigt werden könne.



    Der zweite strittige Effekt, die MWP, ist eine mittelalterliche Wärmeperiode um das Jahr 1000 herum. Gestritten wird darüber, ob sie einen ähnlich schnellen Anstieg der Temperaturen mit sich gebracht hatte wie den jetzt gemessenen (vorsichtiger gesagt: behaupteten); was implizieren würde, daß auch der jetzige natürliche Ursachen haben könnte. Die berühmte (einige meinen: berüchtigte) Hockeyschläger- Kurve soll, als ein Grundpfeiler der IPCC- Theorie, beweisen, daß der jetzige Temperaturanstieg erheblich schneller vonstatten geht als der seinerzeitige; was auf eine menschliche Verursachung hindeuten würde.

    Woher kennt man die Temperaturen früherer Zeiten? Man verwendet Schätzwerte (proxies) aufgrund der Dicke von Baumringen, die als Indikator für die Temperatur gelten (ein Aspekt der Dendrochronologie).

    Nun weichen aber seit einigen Jahrzehnten die so geschätzten Temperaturen von den gemessenen tatsächlichen Temperaturen ab; und zwar nach unten. In der "Hockeyschläger"- Arbeit haben deshalb Michael Mann und Mitautoren einfach für die vergangenen zwanzig Jahre die Baumring- Schätzwerte durch die gemessenen Temperaturen ersetzt; das ist der berühmte "Trick", den Jones in einer der gehackten Mails erwähnt, "to hide the decline" - um zu verbergen, daß die nach Baumringen geschätzten Daten einen Rückgang der Temperaturen anzeigen.

    Jones äußert sich in dem Interview dazu vage. Ja, die Baumring- Methode sei wohl unzuverlässig. Aber die Daten würden durch andere Schätzungen, etwa aufgrund von Eisbohrkernen, gestützt. Auch sei es unklar, ob es überhaupt eine globale MWP gegeben habe, oder ob diese nur ein lokales Ereignis gewesen sei.



    In den Kommentaren meldet sich auch einer der Hauptkritiker von Jones zu Wort, Douglas J. Keenan. Er ist einer jener Amateure, wie sie unter den Kritikern der IPCC-Theorie zahlreich sind. (Er stellt seinen Werdegang so vor: "I used to do mathematical research and financial trading on Wall Street and in the City of London; I now study independently" - er habe mathematische Forschungen angestellt und an der Wall Street und in der Londoner City Finanzgeschäfte gemacht; jetzt sei er Privatgelehrter).

    Keenan sieht seine Einwände in dem Artikel nicht richtig dargestellt. Sein Haupteinwand sei, daß Jones und Mitautoren die Stationen, deren Daten sie verwendeten, angeblich aufgrund von Kriterien ausgesucht hatten, die aber in Wahrheit gar nicht bekannt gewesen seien.

    Die übrigen Kommentatoren nehmen unterschiedlich Stellung; einige mit Verweis auf publizierte Untersuchungen. Soweit ich es beurteilen kann, ist unter ihnen kein Klimatologe.



    Und da haben wir sie, die ganze verfahrene Situation: Jones räumt Fehler und Unklarheiten ein, sieht diese aber als überhaupt nicht kritisch an. Es gebe genug andere Daten, die für die IPCC-Theorie sprächen, argumentiert er.

    Wenn einmal ein Fehler vorgekommen sei, dann sei das also ohne grundsätzliche Bedeutung. Das ist seine Position, auch durch Climagate nicht erschüttert. Von Bloggern hält er augenscheinlich nichts: "I don't think we should be taking much notice of what's on blogs" - er glaube nicht, daß man viel Notiz von dem nehmen solle, was in den Blogs steht.

    Blogger wie Keenan andererseits setzen sich hartnäckig auf bestimmte Spuren; mit der Zähigkeit eines Terriers. Soweit ich es beurteilen kann, scheint Keenans Kritik im Fall der Arbeit von Jones et al. (1990) begründet zu sein. Das räumt Jones ja auch ein. Aber es beeindruckt ihn eben nicht.

    Keenan aber beeindruckt es schwer. Er hält das, was für Jones ein Versehen ist, vielleicht eine Schlamperei, für Betrug. Und offenbar sehen er und viele andere Klimaskeptiker damit die Gesamtheit dessen entwertet, was an Untersuchungen innerhalb der IPCC-Theorie erschienen ist.

    Wie soll es bei solchen Positionen eine vernünftige Diskussion geben? Man kann eigentlich nur hoffen, daß auf beiden Seiten - vielleicht ja als Ergebnis der jetzigen Diskussion - die Kämpfer aus den Schützengräben kommen. Daß die Befürworter des IPCC-Modells sich zu der Einsicht bequemen, daß auch interessierte Amateure begründete Kritik vortragen können; daß die Klimaskeptiker einsehen, daß sie es ganz überwiegend nicht mit Betrügern zu tun haben, sondern mit Wissenschaftlern, die sich wie sie um die Wahrheit bemühen.

    Ich weiß, daß ich mit einer solchen Beurteilung der Lage nicht viel Zustimmung erwarten kann. Was, man soll Blogger ernst nehmen, die noch nicht einmal in einem einschlägigen Fach promoviert sind, geschweige denn selbst forschen? höre ich es von der einen Seite rufen. Was, man soll Wissenschaftler ernst nehmen, die Daten manipulieren? schallte es mir von der anderen Seite entgegen.

    Ja, man soll. Vielleicht führt ja die jetzige Diskussion in der Öffentlichkeit auch dazu, daß Wissenschaftler wie die oben genannten Horst Malberg und Nils-Axel Mörner oder wie Hans von Storch mehr Gehör finden, die weder ihre Kollegen für Betrüger noch jeden Kritiker an der IPCC-Theorie für unseriös halten.

    Vor allem Hans von Storch traue ich zu, Erhebliches zur Überwindung des Grabenkriegs beizutragen. Ein hochkarätiger Wissenschaftler, der so humorvoll und souverän ist, in seiner Freizeit donaldistische Forschung zu betreiben, könnte dafür das Format haben.




    Nachtrag um 19.00 Uhr: In "Zettels kleinem Zimmer" hat Dirk jetzt auf ein BBC-Interview mit Phil Jones aufmerksam gemacht, in dem er ausführlicher als in dem Interview mit NatureNews seine Ansichten darlegt.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Drei Bilder, die sich durch das Schütteln eines Kaleidoskops ergeben. Fotografiert und in die Public Domain gestellt von rnbc.

    Zitat des Tages: Ein Maserati für die "Außenwirkung". Sozialarbeit in Berlin

    Sozialwirtschaft ist heute auch einfach Wirtschaft. Da ist auch die Außenwirkung einer Hilfsorganisation wichtig.

    Harald Ehlert, Vorsitzender der gemeinnützigen Organisation "Treberhilfe Berlin", gegenüber "Spiegel- Online" als Begründung dafür, daß er einen Maserati im Wert von rund 100.000 Euro als Dienstwagen fährt.


    Kommentar: Gegen die Art von Sozialneid, wie sie jetzt über Ehlert hereinbrechen dürfte, habe ich mich immer gewandt. Wer viel leistet, der soll auch viel verdienen. Und wenn er viel verdient, dann soll mit seinem Geld kaufen dürfen, was immer er will.

    Wenn es sein Geld ist. Nur least Ehlert den Dienstwagen ja nicht von seinem Geld, sondern von unserem Geld. Vom Geld des Steuerzahlers, vom Geld dessen, der in die Arbeitslosenversicherung einzahlt. Vom Geld von Spendern vermutlich.

    Von Geld also, das von den Gebern dazu gedacht ist, Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen. Nicht dem Harald Ehlert einen Luxuschlitten unter dem Hintern.

    Informatives über diesen Harald Ehlert konnte man im Dezember 2008 im "Tagesspiegel" lesen. Er hat Sozialarbeiter gelernt und saß für die SPD im Abgeordnetenhaus. Heute versteht er sich als "Sozialkapitalist". Man sieht, die Sozialarbeit ernährt ihren Mann.

    Interessant finde ich das Wort "Außenwirkung" in dem Zitat. Man sollte ja eigentlich meinen, daß die Außenwirkung miserabel ist, wenn ein Sozialarbeiter im Maserati mit Chauffeur vorfährt. Jedenfalls dann, wenn das "Außen" die Geldgeber sind, oder die Empfänger der Sozialleistungen.

    Welches "Außen" mag also dem Harald Ehlert vor Augen stehen, auf das er mit Hilfe eines Maserati einzuwirken gedenkt?



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    18. Februar 2010

    Marginalie: Fällt die Preisbindung für Bücher? Und macht Amazon Bücher eigentlich billiger oder teurer?

    Manchmal sind die Kommentare zu einem Artikel lesenswerter als dieser selbst.

    In FAZ.Net schreibt heute Hannes Hintermeier über die Preisbindung für Bücher und deren Gefährdung. Der aktuelle Anlaß ist der Fall des Buchhändlers Erich Wienecke, Inhaber der Buchhandlung Schopf in Brunsbüttel. Dieser hat gerade in erster Instanz beim Landgericht Hamburg einen Prozeß gegen Amazon gewonnen; es ging um Verstöße gegen die Preisbindung.

    Hannes Hintermeier sieht dies als Beispielfall für ein allgemeines Problem:
    Es geht bei der Auseinandersetzung um jene Glut, die jederzeit zu einem Flächenbrand werden kann: Ähnlich wie beim Urheberrecht herrscht bei der Preisbindung in Zeiten der Gratis- Netzkultur der Eindruck vor, man habe es mit Auslaufmodellen zu tun, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bevor sie verschwänden.
    Gut möglich. Die allgemeine "Preisbindung der zweiten Hand" (der Hersteller schreibt den Verkaufspreis für seine Ware vor) wurde 1974 deshalb verboten, weil sie faktisch bereits durchlöchert war. Bei Büchern ist sie nicht nur weiter erlaubt, sondern seit 2002 sogar gesetzlich vorgeschrieben. Damit soll das Buch als Kulturgut geschützt werden. Aber wenn er ohnehin nicht mehr durchzuhalten ist, wird auch dieser Schutz vielleicht demnächst fallen.

    Ich will hier nicht das Für und Wider dieser Preisbindung diskutieren; siehe dazu Ab Montag wird der Kindle nach Deutschland ausgeliefert; ZR vom 17. 10. 2009 und insbesondere die Diskussion dazu in "Zettels kleinem Zimmer". Ich möchte aber auf einen Aspekt des Themas aufmerksam machen, der bisher wenig beachtet wurde: Führt eigentlich das Auftreten großer Anbieter wie Amazon mit deren, sagen wir, großzügiger Haltung zur Preisbindung zur Verbilligung von Büchern?

    Auf den ersten Blick scheint das offensichtlich zu sein. Die jetzigen gebundenen Preise entsprechen dem, was auch dem kleinen Sortimenter in Wolfratshausen oder Brunsbüttel noch sein Auskommen sichert. Bilden sich die Preise aber im freien Wettbewerb, dann werden sie sich in Richtung auf das bewegen, was für Amazon noch profitabel ist. Für den kleinen Sortimenter aber nicht mehr; der also ebenso aufgeben muß wie einst die Tante- Emma- Läden, als die großen Ketten den Markt für Lebensmittel zu bestimmen begannen. Das ist, so lautet das Standard- Argument, zwar schlecht für ihn, aber gut für den Kunden.

    Die Sache hat aber auch eine andere Seite; und von ihr handelt der Kommentar zu dem Artikel von Hannes Hintermeier, dessentwegen ich diese Marginalie hauptsächlich schreibe.



    Dieser Kommentar stammt von André Thiele, Inhaber des gleichnamigen Verlags. Sie finden ihn als Lesermeinung unter dem 17. Februar, 23.11 Uhr. Thiele schreibt:
    Mein Kleinverlag könnte seine Bücher zumeist um 20 % billiger anbieten, wenn Amazon nicht wäre. Denn Amazon verlangt von mir 55 % Rabatt statt den im Buch- und Zwischenhandel üblichen 30 bis 40 %.

    Zu den 55 % kommt noch der Versand hinzu. Und: Amazon bestellt, bei mir, nicht in Hunderter- oder wenigstens in Zehnereinheiten, sondern gern in Einzelstücken, manchmal mehrmals pro Woche, das muss jedesmal einzeln verschickt werden. Wir sind dann schnell bei weiteren 10 % "Rabatt".

    Rechnet man zerlesene Retouren und "Verluste" im Amazon-Lager ein, steigt der "Rabatt" weiter.

    Von dem, was Sie bei Amazon bezahlen, kommt bei meinem Verlag deutlich weniger als ein Drittel an. Davon sind dann Herstellung, Druck und - der Autor zu bezahlen. Nun wissen Sie, warum die Buchpreise unaufhaltsam steigen. Amazon bietet Ihnen einen guten Service - aber Sie sollten wissen, was der Sie kostet: Viel Geld.
    Mir kommt diese Argumentation schlüssig vor. Anbieter wie Amazon mögen den gebundenen Preis unterbieten. Aber das schließt ja nicht aus, daß sie diesen gebundenen Preis durch ihr Geschäftsgebaren erst einmal in die Höhe treiben.

    Übrigens: Ein Versender mit einem ähnlich umfassenden Angebot wie Amazon und einem nach meinen Erfahrungen noch besseren Service ist Libri.de, das mit den Sortimentern zusammenarbeitet.

    Man kann dort als Kunde von den Vorteilen einer Bestellung im Internet Gebrauch machen und doch beispielsweise sein Buch wie gewohnt beim Buchhändler abholen, um vielleicht ein kleines literarisches Schwätzchen zu machen. Aber natürlich liefert Libri.de auch zu ebenso günstigen Konditionen wie Amazon direkt ins Haus.



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    17. Februar 2010

    Marginalie: Die ISAF-Offensive in Südafghanistan. Ihre Ziele, ihre Chancen, ihre Risiken

    Kaum hatten am vergangenen Samstag die ISAF-Truppen zusammen mit afghanischen Einheiten ihre Offensive in der Provinz Helmand begonnen, da kamen auch schon die Erfolgsmeldungen. Bereits am Montag berichtete Reuters:
    Die US-Truppen kommen mit ihrer Offensive gegen die Taliban im Süden Afghanistans nach eigenen Angaben gut voran, müssen aber viele Gebiete zunächst von Sprengfallen säubern. (...) In manchen Gegenden von Mardscha seien die Soldaten kaum auf Widerstand gestoßen, hieß es.
    Das ist kein Wunder, folgt man dem Artikel, in dem gestern bei Stratfor, dem auf Geheimdienst- Informationen spezialisierten Informationsdienst, die Autoren Kamran Bokhari, Peter Zeihan und Nathan Hughes diese Offensive analysierten.

    Es handle sich, schreiben sie, um einen klassischen Kampf hochgerüsteter regulärer Truppen gegen Guerrilleros. Jene hätten in einer offenen Schlacht keine Chance. Also würden sie sich bei einer Offensive zurückziehen und später zurückkehren: "The guerrillas always decline combat in the face of a superior military force only to come back and fight at a time and place of their choosing". Die Zeit spiele den Guerrilleros in den Hände, wenn es sich um eine fremde Truppe handle. Denn diese müsse irgendwann abziehen; so lange könnten die Guerrilleros eben mit ihrer Rückkehr warten.

    Dies ist eines der Details aus einem durchweg informativen Artikel. Hier einige weitere:

  • Warum hatten sich die Taliban in der Provinz Helmand festgesetzt?

    Zum einen ist sie eines der besonders religiösen Gebiete Afghanistans und deshalb eine traditionelle Hochburg der Taliban; die heilige Stadt Kandahar ist in der Nähe.

    Sodann ist sie das Haupt- Anbaugebiet für Opium. Helmand erzeugt mehr Heroin als irgendein Land der Erde, und die Stadt Mardschah (die jetzt von den ISAF-Truppen zurückerobert wurde), ist das Zentrum der Heroinherstellung. Es wird geschätzt, daß die Taliban monatlich ungefähr 200.000 Dollar aus diesem Geschäft beziehen.

    Drittens ist diese Gegend im Süden Afghanistans mit ihren vielen Straßen und Kanälen gut dazu geeignet, Invasoren durch Sprengfallen aufzuhalten.


  • Welches sind die Ziele der Offensive?

    Das Ziel ist es nicht, die Taliban vernichtend zu schlagen. Das würde verlangen, daß die internationalen Truppen auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben. Vielmehr soll erreicht werden, daß sie keine Städte und Bevölkerungszentren kontrollieren. Damit wäre ihnen ein wesentlicher Teil ihrer Ressourcen genommen. Sie wären nicht besiegt, könnten aber ihrerseits nicht gewinnen. Damit wäre die Hauptgefahr für den Westen beseitigt; nämlich die, daß in Afghanistan wieder eine Infrastruktur der Kaida entsteht.

    Zweitens sollen die Voraussetzungen für eine Verwaltung der Provinz von Kabul aus geschaffen werden. Die Taliban konnten sich bisher vor allem dann in einer Gegend etablieren, wenn dort die legale Verwaltung schwach, korrupt oder gar inexistent war. Sie wurden dann auch von der Bevölkerung als eine Kraft akzeptiert, die immerhin für eine gewisse Ordnung sorgt. Jetzt soll eine effizientere Verwaltung aufgebaut werden.


  • Wie groß sind die Chancen, daß diese Ziele erreicht werden?

    Die Autoren sind vorsichtig optimistisch. Die eigentliche Herausforderung sei es nicht, Mardschah und die Provinz militärisch zu erobern. Das Problem sei es, das Gebiet auch zu halten.

    Es existiert bereits eine Verwaltung für Mardschah, die nur darauf wartet, dorthin gebracht zu werden, um ihre Tätigkeit aufzunehmen. Es werde, meinen die Autoren, wesentlich auf die Arbeit dieser Verwaltung ankommen, ob die Operation am Ende ein Erfolg werden wird.



  • Ich habe seit dem Amtsantritt von Präsident Obama dessen Afghanistan- Politik immer wieder kritisch kommentiert; von seiner ersten Formulierung einer "neuen Strategie" für das Land im März 2009 (Präsident Obamas verwirrende Strategie für Afghanistan; ZR vom 31. 3. 2009) bis zu der Entscheidung Ende 2009, 30.000 weitere Soldaten zu entsenden (Obama zu Afghanistan; ZR vom 2. 12. 2009).

    Zu dieser Entscheidung gab es einen erhellenden Kommentar (auch wieder in Stratfor, von George Friedman), über den ich einige Tage nach dem zweiten Artikel berichtet habe (Wie zynisch ist die Afghanistan- Politik von Präsident Obama?; ZR vom 9. 12. 2009). Sein Fazit war, daß das jetzige Ziel Obamas nicht mehr die Befriedung Afghanistans oder gar der Aufbau eines demokratischen Landes ist, sondern die Herstellung eines Zustands, in dem Regierungstruppen und Taliban einander auf unbestimmte Zeit bekämpfen können, ohne daß eine Seite siegt.

    Damit wäre den Interessen der USA Genüge getan, nicht wieder ein Afghanistan entstehen zu lassen, das der Kaida Rückzugsgebiete und Trainingsmöglichkeiten geben würde. Sie könnten also zusammen mit ihren Alliierten abziehen.
    Es scheint, daß die jetzige Offensive exakt dieser neuen Strategie folgt.



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    Marginalie: Präsident Obama kündigt Bau eines neuen Kernkraftwerks an. Das Chamäleon wechselt die Farbe

    Im Wahlkampf hatte sich der Kandidat Obama als der Große Grüne präsentiert. Am 30. Dezember 2007 kündigte er ein gigantisches Programm an, "an Apollo Project, a Manhattan Project, where we invest billions of dollars in new energy, ideas and ressources" - ein Projekt Apollo, ein Manhattan- Projekt, in dem wir Milliarden von Dollars in neue Energie, Ideen und Ressourcen investieren (siehe dieses Video ab 3:00).
    Das Manhattan- Projekt zum Bau der Atombombe war bekanntlich die erste große staatlich finanzierte industrielle Anstrengung der USA gewesen, das Projekt Apollo für die Mondlandung die zweite. Nun also die dritte, Barack Obamas Grüne Revolution.

    Der Kernenergie erteilte Obama hingegen im selben Wahlkampfauftritt eine Absage, wenn er sie auch nicht völlig ausschloß:
    So, I am not a nuclear energey proponent. (...) My general view is that until we can make certain that nuclear powerplants are safe, that they have solved the storage problem, ... until nuclear industry has shown that they can produce clean, safe energy without enormeous subsidies from the US government, I don't think that's the best option.

    Also, ich bin kein Befürworter der Kernenergie. (...) Meine allgemeine Sicht ist, daß das nicht die beste Option ist, solange wir nicht sicherstellen können, daß Kernkraftwerke sicher sind, daß sie das Problem der Entsorgung gelöst haben, ... bis die Kernindustrie nachgewiesen hat, daß sie sichere, saubere Energie ohne enorme Subventionen von der amerikanischen Regierung produzieren kann.
    Soweit Barack Obama, der Kandidat, der kein Befürworter der Kernenergie ist; beim selben Auftritt erwähnt er auch die Unsicherheit der amerikanischen Endlagerung aufgrund möglicher Erdbeben.

    Hören wir nun den Präsidenten Obama bei einem Auftritt am gestrigen 16. Februar in einem Ausbildungszentrum in Lanham im US-Staat Maryland, von dem es ebenfalls ein Video gibt:
    We are announcing roughly eight billion dollars in loan guarantees to break ground on the first new nuclear plant in our country in three decades. (...)

    And this is only the beginning. My budget proposes tripling the loan guarantees we provide to help finance safe, clean nuclear facilities. (...)

    Nuclear energy remains our largest source of fuel that produces no carbon emissions. To meet our growing energy needs and prevent the worst consequences of climate change we'll need to increas our supply of nuclear power.

    Wir kündigen hiermit Kreditbürgschaften im Umfang von acht Milliarden Dollar an, um mit dem Bau des ersten neuen Kernkraftwerks in unserem Land in drei Jahrzehnten zu beginnen. (...)

    Und das ist erst der Anfang. Mein Haushaltsplan sieht eine Verdreifachung der Kreditbürgschaften vor, die wir zur Verfügung stellen, um sichere, saubere Kernanlagen zu finanzieren. (...)

    Die Kernenergie bleibt unsere größte Quelle für Brennstoff [sic], die keine Emissionen von Kohlenstoffen produziert. Um unseren wachsenden Bedarf zu decken und um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern, werden wir unsere Versorgung mit Kernenergie steigern müssen.
    Wie Associated Press gestern meldete, sollen im Haushalt 2011 die Kreditbürgschaften um 36 Milliarden Dollar auf insgesamt 54,5 Milliarden Dollar aufgestockt werden. Die von Obama erwähnten 8 Milliarden Dollar sind der Betrag, der an die Southern Co. für den Bau und den Betrieb von zwei neuen Reaktoren in Burke County im Bundesstaat Georgia gehen wird.



    Hat zwischen dem Dezember 2007 und dem Februar 2010 die Technologie der Kernkraftwerke einen Durchbruch erzielt, so daß diese Energie jetzt, anders als offenbar 2007, "sicher und sauber" ist? Wurde in diesen gut zwei Jahren das Problem der Entsorgung gelöst?

    Ach nein. Das Chamäleon hat nur seine Farbe gewechselt. Das Grün schimmert jetzt deutlich gelblich.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Andrew Malcolm und Johanna Neuman von der Los Angeles Times.