28. Mai 2018

Der Herausgeber. Zum Tod von Gardner Dozois


(Bildquelle Wikimedia)

"I know that journalism largely consists in saying 'Lord Jones Dead' to people who never knew that Lord Jones was alive," schrieb G. K. Chesteron vor mehr als 100 Jahren im zweiten Band seiner Pater-Brown-Erzählungen, The Wisdom of Father Brown (1914), und der Protokollant sieht sich im Fall von Gardner Dozois in genau dieser Situation.

Zu den Besonderheiten der Science Fiction als literarischem Genre - neben der Tatsache, daß sie die Gesamtheit der Welt, in all ihrer Bedeutung: das gesamte Universum, die Tiefe der Zeit bis zu ihrem Beginn im Big Bang (und zu den hypotethischen Zuständen davor) bis zu ihrem Ende, in sämtlichen Variationen, dem menschlichen Urbedürfnis des Geschichtenerzählens zugänglich macht - zählt das, was man als ein "dialogisches Verhältnis" mit der Leserschaft nennen kann. Der Ideenschatz, die Tropen, die Themen, die Standardsituationen - sie alle bilden ein Kontinuum, in dem sich die Autoren wie die Leser in diesem Mikrosmos des Narrativen bewegen: Texte antworten auf andere Texte, Ideen verselbständigen sich, neue Autoren, die etwas originelles beizutragen haben, werden schon nach wenigen Veröffentlichungen bekannt, selbst wenn es sich dabei nur um einige kurze Erzählungen handelt. In sehr großem Maß verdankt sich diese Besonderheit - die es in dieser Form in keinem anderen literarischen Genre gibt - der Besonderheit, daß ein Großteil der innovativen Texte bis heute in der Form nicht von Romanen, sondern als kürzere Erzählungen publiziert wird. Die SF-Magazine, die sich allein auf Science Fiction kaprizieren, verdanken zwar ihren Ursprung der Spezialisierung des alten "pulp magazines", der amerikanischen Groschenhefte in den 1920er Jahren, die den wachsenden Bedarf als Genreliteratur, als spannender, anspruchsloser, aber themenzentierter Unterhaltungskost bedienten: anders als die Magazine alten Stils, wie etwa des berühmten Strand Magazine (in dem ab 1891 die Abenteuer Sherlock Holmes' abgedruckt wurden, neben den Kinderbüchern von E. Nesbit, zahllosen historischen Romanen, exotischen Abenteuern, und die Gegenwart des Hier & Jetzt ins Auge fassenden "Mainstream"-Texten von Arthur Quiller-Couch bis zum frühen P. G. Wodehouse), lieferten sie Detektiv- und Kriminalstories, Wildwestgeschichten, Seeabenteuer - und nichts sonst. Anders als bei diesen Veröffentlichungen kam es aber in der SF von Anfang an zu einem Austausch der Ideen, zu einer besonderen Bindung der Leserschaft. 

25. Mai 2018

Die große Datenkraken-Show

Das große Finale hat stattgefunden. Die Ritter des Lichts gegen den erzbösen Feind, den großen Kraken. Manche behaupten, der Kraken habe gewonnen. Andere sehen ihn als Verlierer.

Wahrscheinlich haben sie beide recht. Einerseits ist es blamabel, wenn in einer solchen Sitzung nur Wahlkampf getrieben wird auf Kosten von Information und Diskussion. Andererseits ist generell zu befürchten, daß im Bereich Internet unkundige Politer schlechte Gesetze machen.

Das Ganze ist übrigens - bevor das übliche EU-Bashing anfängt - kein spezielles Problem der EU und ihrer Gremien. Auch in jedem anderen Parlament bleibt die Sacharbeit in Wahlkampfzeiten auf der Strecke. Auch in den nationalen Parlamenten wäre nicht mehr aus einer solchen Veranstaltung herausgekommen, siehe das Beispiel USA.
Und speziell der deutsche Bundestag mit seinem bekannten Internet-Analphabetismus und seiner Neigung zur moralisierenden Fachunkenntnis hätte so einen Termin bestimmt noch viel deutlicher versemmelt.

Das eigentliche Problem ist das Veranstaltungsformat selber.

21. Mai 2018

"Kapow! Zong!! In Your Face!!!" - Zum Tod von Tom Wolfe

Im Rückblick, aus der Distanz von mehr als einem halben Jahrhundert, fallen dem Betrachter beim Blick auf die "wilden Sechziger" bestimmen Merkmale ins Auge - gerade auch für deren erste Hälfte, bevor der Zeitgeist entgrenzt wurde, "alles möglich schien", die Farben psychedelisch flackerten und die Vernunft für ein paar Jahre eine Auszeit nahm und die Nachrichten wie die populäre Imagination sich den beiden Polen der rohen Gewalt (auf den Straßen der Großstädte des Westens wie den Dschungeln Südasiens) und des so grenzenlosen wie infantilen Hedonismus in die Arme warfen: davor: in jener Zeit, als "die Zukunft" in Gestalt des "Raumfahrtzeitalters" und der "Elektronengehirne" greifbare Gestalt zu gewinnen schien, als die persönliche Umgestaltung des westlichen Lebensstils im Zuge von "Sexwelle" und Antibabypille, von Cool Jazz bis zum gezähmten Rock'n'Roll sich von der Enge und dem pastosen Einerlei der fünfziger Jahre freizuschwimmen schienen, als das Stilideal in den frühen James-Bond-Filmen mustergültig zu betrachten war: das gleichzeitige Auftreten, in dieser Kurzperide, von einigen Kulturphänomenen, die dies eint: ein nicht zu übersetzender Name und die Tatsache, daß sie als Brechung, Reflexion, fundamentale Kritik an dieser Zeit gedacht waren und sofort zu ihrem Kennzeichen wurden, von der "Pop Art", die eben keine "populäre Kunst" war, sondern eine höchst elitäre Grundsatzkritik der als seicht und schundig empfundenen Warenkultur des Westens mit seinen eigenen Mitteln. Der Bossa Nova (eigentlich die B.N.), die im Upsrungsland einen recht radikalen Bruch mit den Gepflogenheiten des Samba darstellte, sofort im Rest der Welt als seicht-plätschernde "Fahrstuhlmusik" aber den Soundtrack für zahllose Filme im Milieu des internationalen Jetsets abgab, akustisches Pendant zu den Palmenstränden der Copacabana, und die eben nicht mit ihrer wörtlichen Bedeutung "Neue Welle" einzufangen ist; sowenig wie die "Nouvelle Vague" des französischen Kinos oder die "New Wave" der englischen Science Fiction um Michael Moorcock, die die als verstaubt empfundenen Konventionen der Nachkriegszukünfte um die avantgardistischen literarischen Techniken von Autoren wie James Joyce oder John Dos Passos und die nihilistische Welthaltung des Existenzialismus zu erweitern suchten. Und so ist auch der "New Journalism", der um diese Zeit in den USA entstand, mehr (und zugleich viel weniger) als einfach "neuer Journalismus": der Anspruch war nicht eine Auflockerung des bislang gepflegten Reportagestils, sondern eine grundsätzliche Infragestellung der Trennung zwischen nüchterner, dem Leser eine Deutung überlassenden Darstellung und dem direkten Involvement des Berichterstatters - und vor allem: seiner Persönlichkeit - nicht zuletzt dem direkten Engagement für das Berichtete und dem Stil, in dem dieser Bericht erfolgte. Und verbunden war dieser "neue Journalismus" vor allem mit einem Namen: Tom Wolfe.

Wolfe hat diesen "persönlichen Stil", auch in seinem Land und zu seiner Zeit, geprägt von den Befindlichkeiten der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, nicht entwickelt: vorangegangen waren etwa Norman Mailer mit Essays wie "The White Negro" von 1957, Gore Vidal, Truman Capote (von dem er ein Kapitel auf In Cold Blood/Kaltblütig in seiner Referenzanthologie The New Journalism von 1793 abdruckte) oder Guy Talese. Und natürlich ist die Aufbereitung als literarischer Text, das bewußte Verschwimmen der Grenzen zwischen Roman, mehr oder minder skrupulöser Reportage und satirischer Überspitzung beziehungsweise sarkastischer Anklage der Zeitläufe, alles andere als neu: Mark Twains sardonischer Reisebericht einer touristischen "Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Christentums", The Innocents Abroad von 1869, dürfte das erste namhafte Beispiel dieses Genres darstellen; und seitdem zieht sich diese Haltung wie ein roter Faden durch nicht nur den amerikanischen Sektor der Gutenberg-Galaxis: von den muckraking journalists, die in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende soziale Mißstände der wuchernden Metropolen schilderten, mit Upton Sinclairs The Jungle, der Schilderung der verheerenden Zustände in den Schlachthöfen Chicagos von 1903 als wirkungsvollstem Beispiel. Und natürlich ist dieser Stil nicht auf die USA beschränkt geblieben. Für den deutschen Sprachraum dürfte das Paradebeispiel der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch sein, dessen Bücher aus den 20er und 30er Jahren die hastige Rastlosigkeit, das hemmungslose In-den-Vordergrund-Stellen der eigenen Persönlichkeit, das ostentative Kultivieren "linker" Positionen bis zum Extremismus und - last not least - die Tendenz, jeden Knalleffekt bis zum Anschlag auszureizen und es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, gerade was die Augenzeugenschaft betrifft, ihn als mustergültiges Exemplar dieser Gattung ausweisen. (Wobei die beiden letztgenannten Punkte naturgemäß in jeder Art von journalistischer Tätigkeit als tödliche Versuchung lauern.)

Was Wolfe vor allem auszeichnete, war sein ganz persönlicher, unverwechselbarer, manchmal (manchmal? eigentlich immer) bis ins Extrem überdrehter Stil, der in vielen seiner Texte droht, die Substanz des dort Geschilderten unter sich zu begraben (in einer Rezension der Zeitschrift TIME hieß es bündig: "He uses a language that explodes with comic-book words like "POW!" and "boing." His sentences are shot with ellipses, stabbed with exclamation points, or bombarded with long lists of brand names and anatomical terms. He is irritating, but he did develop a new journalistic idiom that has brought relief from standard Middle-High Journalese."), ein fast marktschreierischer Ton, eine Wildheit der Tonlage, die jeden Lehrmeister des "klassischen" Reporterhandwerks so zur Verzweiflung getrieben hätte wie die Bühnenauftritte eines James Brown einen Tanzlehrer des Barock, der jede Konzentration auf die 5-W-Fragen ("Wer ist beteiligt? Was ist geschehen? Wo? Wann? Wie?") rücksichtslos in Grund und Boden fährt, und der der eine eigentliche Grund ist, warum seiner Bücher, den Zeitgeist der Sixties wie keine anderen repräsentierend, bis heute aufgelegt und gelesen werden, während zahllose andere Texte, die genau dies auch für sich beanspruchen können, so vergessen und verschollen sind, daß selbst ihr Verschollensein der Vergessenheit anheimgefallen ist: von A. S. Neills Autobiographie (für alle "antiautoriäten" Erziehungsbewegungen der 60er und 70er Jahre der grundlegende Anstoß) über die Schriften Herbert Marcuses theoretischen Schriften und besonders seiner späten Programmschrift Der eindimensionale Mensch, Richard Farinas Been Down So Long It Looks Like Up to Me  oder die, nun, "Romane" Richard Brautigans, aber auch andere Texte aus dem Umfeld des New Journalism: Norman Mailers The Armies of the Night (über den Vietnamkireg) oder Of a Fire on the Moon  (das wahrscheinlich das schlechteste und uninformierteste Buch ist, das über das Apolloprojekt der ersten bemannten Mondlandung je geschrieben worden ist: Wolfes Schilderung der "Mercury Seven", The Right Stuff von 1979, darf als direktes Kontrastprogramm zu Mailers Text gelesen werden: während Mailer das Raumfahrtprogramm nur zu einer Rundumanklage der menschlichen Hybris im Besonderen und des American Way of Life im Allgemeinen nutzt, leuchtet unter Wolfes hemdsärmlig-burschikoser Oberfläche die Bewunderung für das technische Können, den Pioniergeist, die Transposition des zupackenden Ingenieur-Ingeniums flächendeckend hervor), die grellen Texte Terry Southerns (dessen Neigung zur bizarren Groteske sie ebenfalls in einer Kategorie jenseitsvongutundböse, beziehungsweise faktisch versus dadaistisch, verortet) oder Hunter S. Thompsons.

Um einen Eindruck von Wolfes kobolzschlagendem Stil zu vermitteln, gibt es kein besseres Beispiel als die Auftaktsequenz von From Bauhaus to Our House, seinem Rundumschlag gegen die Zumutungen der modernen Architektur von 1981 (deutsch unter dem Titel Mit dem Bauhaus leben), angefangen mit den "drei weißen Göttern" Walter Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier und den desaströsen Auswirkungen ihres vermeintlich funktionalen Minimalismus:

O BEAUTIFUL, for spacious skies, for amber waves of grain, has there ever been another place on earth where so many people of wealth and power have paid for and put up with so much architecture they detested as within thy blessed borders today?

I doubt it seriously. Every child goes to school in a building that looks like a duplicating-machine replacement-parts wholesale distribution warehouse. Not even the school commissioners, who commissioned it and approved the plans, can figure out how it happened. The main thing is to try to avoid having to explain it to the parents.

Every new $900,000 summer house in the north woods of Michigan or on the shore of Long Island has so many pipe railings, ramps, hob-tread metal spiral stairways, sheets of industrial plate glass, banks of tungsten-halogen lamps, and white cylindrical shapes, it looks like an insecticide refinery. I once saw the owners of such a place driven to the edge of sensory deprivation by the whiteness & lightness & leanness & cleanness & bareness & spareness of it all. They became desperate for an antidote, such as coziness & color. They tried to bury the obligatory white sofas under Thai-silk throw pillows of every rebellious, iridescent shade of magenta, pink, and tropical green imaginable. But the architect returned, as he always does, like the conscience of a Calvinist, and he lectured them and hectored them and chucked the shimmering little sweet things out.

Every great law firm in New York moves without a sputter of protest into a glass-box office building with concrete slab floors and seven-foot-ten-inch-high concrete slab ceilings and plasterboard walls and pygmy corridors—and then hires a decorator and gives him a budget of hundreds of thousands of dollars to turn these mean cubes and grids into a horizontal fantasy of a Restoration townhouse. I have seen the carpenters and cabinetmakers and search-and-acquire girls hauling in more cornices, covings, pilasters, carved moldings, and recessed domes, more linenfold paneling, more (fireless) fireplaces with festoons of fruit carved in mahogany on the mantels, more chandeliers, sconces, girandoles, chestnut leather sofas, and chiming clocks than Wren, Inigo Jones, the brothers Adam, Lord Burlington, and the Dilettanti, working in concert, could have dreamed of.

*Uff* 

(An dieser Passage zeigt sich auch, was Übersetzer an Wolfes Texten zur Verzweiflung treiben kann: jedem amerikanischen Leser sind die ersten Worte O Beautiful, for spacious skies / amber waves of grain als die Auftaktzeilen von Amerikas "inoffizieller Nationalhymne", "America the Beautiful" von 1910, tausendfach bei Sportveranstaltungen und Schulfeiern gespielt und gesungen, geläufig: für Nichtamerikaner lassen sich solche Assonanzen, solche Anspielungen, deren Hallraum einen großen Teil des Reizes ausmacht, schlechterdings nicht nachbilden.) 

Der andere Grund dafür, daß Wolfes Texte bis heute aufgelegt und gelesen werden, dürfte ein letzthin als politisch zu kategorisierender sein. Was Autoren wie Norman Mailer, Hunter S. Thompson, Michael Herr, Guy Talese schrieben, war von einem direkten Handlungsimpetus getragen: die Haltung dieser Autoren war nicht nur "extrem links", sie fußte auch auf einer generellen Ablehnung des amerikanischen Systems, seiner Erscheinungen und seiner Politik, nicht nur in jenen Jahren, sondern aus Prinzip: als zerstörerisch, als "entfremdend" und unmenschlich. Das Ziel war immer, durchaus unverhohlen: es zu überwinden, abzuschaffen, es grundsätzlich durch etwas Neues - also Utopisches - zu ersetzen, und dazu in fundamentale Opposition zu treten. Genau das war auch die Haltung der underground culture, der Studentenrevolte, darin suchte sie sich ihre Symbole und Heldengestalten, daraus, eben aus der Fundamentalopposition zu allem, was sie um sich herum sahen, erklärt sich ihre verhängnisvolle Verehrung für die Diktatoren und Massenmörder der "3. Welt", von Mao Tse-tungs Revolutionsgarden über den Schlächter Ernesto "Che Guevara" bis zu Fidel Castro. Wolfe hingegen stand au-dessus de la mêlée: ihm war das Treiben seiner Zeitgenossen - von den "Merry Pranksters" um Ken Kesey (des Autors von One Flew Over the Cuckoo's Nest) und ihres wilden Trip mit einem wracken Schulbus durch den Wilden Westen Kaliforniens mitsamt dem Ziel, ihre haschrebellischen Kommilitonen mit LSD zu beglücken (The Electric Kool Aid Acid Test, die Schilderung dieses Unterfangens, in dem schon alle schwarzen Züge der Hippie-Lebensweise, vom Drogenmißbrauch bis zur mörderischen Gewalt der Hells Angels, anklingen, erschien 1968, vor einem halben Jahrhundert, in jenem Kulminationsjahr, am gleichen Tag wie seine zweite Sammlung von Reportagen, The Pump House Gang, die sich eben jenen eingangs erwähnten "007"-Zeitgeistlichkeiten widmet: kalifornischen Surfern, dem Lebensstils Hugh Hefners, Marshall McLuhan und Natalie Wood, den Symbolen und Lebensstilen jener Jahre, die dann "1968" unter sich begrub - bis hin zu den Gen X-Vertretern der 1990er Jahre - stets nur eine Facette des absurden Welttheaters, in dem die conditio humana  so aussichtslos wie für den abgeklärten Beobachter ebenso erheiternd wie ermüdend ihre immergleichen Tragikomödien aufführt, ohne Hoffnung auf Erlösung oder Genesung. Hinter der Maske des Clowns und des Marktschreiers verbarg sich in Wolfes Fall ein genuiner Konservativer. In diesem Belang trifft er sich mit Joan Didion, der anderen Vertreterin des New Journalism, deren die Zeitumstände referierende Texte, begonnen mit dem Band Slouching Toward Bethlehem von 1968 bis heute lesbar geblieben sind. In Didions Texten zeigt sich eine andere Facette nicht so sehr der Konservatismus, sondern der amerikanischen Lebensphilosophie: sie sind durch einen Quietismus geprägt, durch eine Konzentration auf das Private, Kleinteilige, Persönliche (bei Didion zeigt es sich vor allem in ihrem Buch The Year of Magical Thinking von 2005, Autobiographie, Selbsttherapie und bescheidener Gedenkaltar nach dem Verlust ihres Mannes und ihrer Tochter in den beiden Jahren zuvor. Wolfe wäre, aufgrund seiner prinzipiell satirischen und sarkastischen Lebenshaltung, das läßt sich wohl ohne Maliziösität sagen, zu einer solchen asketischen wie aufrichtigen Trauerarbeit nicht imstande gewesen). Das allerdings, ohne mit den Ideen, dem Denkrahmen des klassischen Konservatismus Hand in Hand zu gehen. Wie so oft handelte es sich in beiden Fällen um ein Lebensgefühl, eine Haltung, nicht um eine politische Philosophie. Daß Wolfe ein genuiner Konservativer war, zeigt sich in seinem vielleicht gelungendsten fiktinalen Text, der längeren Erzählung "Ambush at Fort Bragg", gesammelt in der letzten Kollektion von Reportagen, Hooking Up von 2000: der Schilderung eines mutmaßlichen Mißhandlungsskandals an einer Militärakademie, bei dem Rekruten unter Verdacht stehen, einen homosexuellen Kameraden aufgrund seiner sexuellen Orientierung schwer mißhandelt zu haben. Die mitgeschnittenen Telefonate, die Gespräche der Soldaten scheinen zunächst den Fall eindeutig zu entscheiden: aus vielen dampft nachgerade eine tiefe Ablehnung und Verachtung von "Tunten", von der Grellheit und Verantwortungslosigkeit vieler schwuler Lebensführungen. Wirklich aufgeklärt wird des Casus nicht, aber für den Leser sind die drei Seiten wichtig, an dem ein Offiziersanwärter dem Ich-Erzähler und Wolfe-Substitut erklärt, warum es kein Marine gewesen sein kann: bei aller Ablehnung ist dies nicht ihr Stil; solche Gewalt, solche Mißhandlung widerspricht allem, wofür sie mit ihrer Ausbildung, ihrem Gewissen, mit der Entscheidung, in einer Eliteeinheit für die Werte, für die Amerika steht, gegebenenfalls ihr Leben in die Bresche zu werfen. Diese Passage, die von einem vierschrötigen, tätowierten Glatzkopf stammt, läßt am Ende den Leser begeistert zurück. Nicht, weil Konservative  -oder Wolfe-Leser - homophobe Vorurteile hegen oder bestätigt sehen wollen - beides trifft nicht zu - sondern weil hier auf einen grundsätzlichen Anstand, auf Toleranz (auch in Sinne des "Aushaltenmüssens") abgehoben wird, diese jeder politischen Korrektheit und Minderheitenhofierung um Lichtjahre vorgeschaltet ist und sie überflüssig macht.

Ob Wolfes vier Romane die Zeitläufe überstehen werden, jene Produkte der zweiten Hälfte seiner Autorenlaufbahn, wird die Zeit zeigen. The Bonfire of the Vanities von 1985, hat immerhin noch die Vorteile der konzisen Konzentration und der Zeitgeistsatire, mit denen die Welthaltung und der Lebensstil der "Masters of the Universe", der New Yorker Börsenmakler gnadenlos aufgespießt werden. Das Buch verdankt sich einer Wette Wolfes mit dem Herausgeber des Rolling Stone, in dem der Text zwischen Juni 1984 und August in 27 Fortsetzungen erschien. Wolfe hatte daran erinnert, daß viele Autoren des 19. Jahrhunderts - von Charles Dickens, George Eliot, Balzac (und nicht zuletzt Alexandre Dumas pêre) ihre Werke unter Termindruck verfaßt haben, sich von Fortsetzung zu Fortsetzung hangelnd, dem Leser nur ein oder zwei Monate oder gar Wochen voraus, und das dies eine gute Kur gegen die Ausuferung und Fahrigkeit der zeitgenössischen Literatur sei. Auch würde die Konzentration auf kurze Spannungsbögen der uferlosen Salbarei und Selbstspiegelung heilsam einen Riegel vorschieben. Der Roman selbst verdankt sich der Tatsache, daß Wolfe erklärte: unter solchen Umständen könne jeder, auch er, einen brauchbaren Roman verfassen; der Wetteinsatz des Rolling Stone von 200.000 Dollar tat ein übriges. Daß an dieser Einstellung etwa sein mag, zeigt der Umstand, daß Wolfe für die gut 850 Seiten seines zweiten Romans, A Man in Full, danach mehr als zwölf Jahre Arbeitszeit und unzählige Anläufe benötigte.

Als Mißgriff dürfte hingegen sein letzter Titel, The Kingdom of Speech, erschienen im August 2016, zu werten sein. In diesem Zangenangriff auf Charles Darwin und Noam Chomsky zieht Wolfes Polemik, man muß es so sagen, auf beiden Fronten den Kürzeren. Mit Charles Darwin und der Evolutionstheorie sich anzulegen hat sich schon hunderte von Malen als intellektueller Offenbarungseid erwiesen; dieses Gerüst der Naturerklärung steht felsenfest; und Wolfes Vorwurf, Darwin und seiner Nachfolger hätten das Werk Alfred Russel Wallaces geplündert und ihm den ihm gebührenden Ruhm vorenthalten, hat nicht einmal den Vorteil der Originalität vor sich: Parteigänger Wallaces verfechten dies seit seinem Tod 1913 - und für die Triftigkeit einer Theorie ist dergleichen absolut bedeutungslos. Chomsky ist, nicht nur für viele konservative wie liberale Denker (im alten, "europäischen" Sinn dieser Vokabel: "liberal" bedeutet im heutigen englischsprachigen Diskurs hingegen das gleiche, was im Deutschen als "linksgrün" bezeichnet wird) eine höchst negative gesehene Figur, eine Bête noir, ein Feind der Offenen Gesellschaft und Prediger des politischen linken Extremismus. Aber seine Sprachtheorie, vor sechzig Jahren entwickelt, steht auf einem anderen Blatt. Zwar haben sich seine Spezifika, die Ableitungsbäumchen, der Unterschied zwischen "Oberflächen-" und "Tiefenstruktur" einer allen allen Sprachen zugrundeliegenden, und damit angeborenen Sprachstruktur, nicht gehalten (nicht zuletzt wegen der Unentscheidbarkeit, ob dergleichen "in den Genen verankert" liegt oder ob die schlichte Notwendigkeit zu bestimmten sprachlichen Ausdrucksleistungen durch die Wirklichkeit vorgegeben ist). Aber seiner Erkenntnis - oder besser: seine Formulierung des schlichten universellen Beobachtung - daß der Mensch einen "angeborenen Sprachinstinkt" habe, eine Anlage zum Erwerb einer Sprache (und sei sie, bei Taubheit, in Gesten kodifiziert), und daß ein Mensch, bei dem es nicht bis zum dritten Lebensjahr zum Spracherwerb kommt, nicht mehr dazu in der Lage sein und ein mentaler Krüppel bleiben wird: daran kann auch Wolfes Indignation nicht rütteln.

Bleiben werden hingegen, aus der Sicht des Protokollanten, zumindest die beiden schmalen Bändchen, mit denen er sich, in Gestalt einer polemischen Kampfschrift, den beiden Ausprägungen der Moderne annimmt, die zu den, nicht angeborenen, aber unvermeidlichen Ausprägungen des Alltag gehören: der Architektur und der abstrakten Kunst, From Bauhaus to Our House (1981) und The Painted Word (1978), Rundumschläge, die beide Abteilungen kreativer Anmaßung und des Anspruchs auf alleinige Gültigkeit restlos niederbügeln.

Am vorigen Montag, dem 14. Mai 2018, ist Tom Wolfe im Alter von 88 Jahren gestorben.




Ulrich Elkmann

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.

19. Mai 2018

Der Zufall – eine schöpferische Ursache?

Dem Zeitgeist erscheinen Wahrheiten, die als absolut und beweisbar ausgegeben werden, als überholte Ideologien. Er anerkennt als neue Leitideen: Nur subjektive Erkenntnisse, einen Pluralismus von Denkmodellen und bestenfalls eine Ökumene der Verschiedenheiten. Er argumentiert: Da die Weltentstehung und die chemische und biologische Evolution des Lebens einem Haufen von Zufällen zu verdanken sind, sei alles zu relativieren und jeder herausgelesene Sinn als hineingelesener zu hinterfragen.

14. Mai 2018

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Ellwangen

­
"Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?"
Dieser wunderschöne Aphorismus stammt wohl von Georg Christoph Lichtenberg und ist inzwischen schon mehr als 200 Jahre alt (und hat kein bischen seiner Aussage eingebüßt). Das erstaunliche daran ist, dass die meisten Menschen, die einem solchen Experiment zum Opfer fallen, auch danach felsenfest davon überzeugt sind, dass es das Buch sein muss, das hohl klingt. Das hätte dann direkt zu der Erkenntnis Descartes geführt (was historisch nicht richtig ist, da Descartes ein gutes Jahrhundert vor Lichtenberg lebte): "Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe."

10. Mai 2018

Meckerecke: Zur Diskussion über die Anti-Abschiebe-Industrie

Der Verfasser dieser Zeilen hat meistens (und derzeit ganz besonders) subjektiv Besseres zu tun, als sich in das einzuschalten, was hierzulande als gesellschaftlich oder politisch relevante Debatte betrachtet wird. Doch in dem konkreten Fall, der im Folgenden zu verhandeln sein wird, lohnt sich ein kurzer Abstecher auf den Schießplatz zu Hornberg, weil das zum Vortrag gebrachte Spektakel so kennzeichnend ist für die Scheindiskussionen, die in dieser Republik als abendfüllend durchgehen.

Der erste Gedanke des endunterfertigten Autors, als er von Alexander Dobrindts Äußerung über die „aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“ las, war der, dass nun wohl die üblichen Verdächtigen (und vielleicht auch einige Unverdächtige) über das ihnen hingehaltene Stöckchen springen würden. Und so kam es dann auch.

9. Mai 2018

RE: Zur Kündigung des Joint Comprehensive Plan of Action ("Iranabkommen") durch die USA




Aufgrund der aktuellen Entwicklung im Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zur theokratischen Diktatur des Irans, nämlich der Aufkündigung des im Juni 2015 in Wien unterzeichneten Joint Comprehensive Plan of Action (J.C.P.O.A) und die Wiedereinsetzung der vor diesem Abkommen geltenden wirtschaftlichen Sanktionen scheint es angezeigt, die Begründung, die Präsident Donald Trump gestern gestern im Weißen Haus vor der Presse verlas, vollständig und im Wortlaut zu dokumentieren. Die Neigung der Medien, insbesondere der deutschen, solche ausführlichen Begründungen extrem verkürzend zusammenzuschneiden, zu unterschlagen und unweigerlich mit negativ abwertenden Kommentaren zu versehen, ohne dem Zuschauer die Chance auf die Bildung eines eigenständigen Urteil zuzugestehen, darf, nach den Erfahrungen der ersten 18 Monate der Amtzeit von Präsident Trump, für die deutschen Medien als eisernes Gesetz gewertet werden. Nichts zuletzt etwa angesichts einer so unsäglichen wie unsäglich dummen Äußerung, zu der sich ein Georg Restle, Redaktionsleiter des ARD-Politmagazins "Monitor" als Reaktion auf die Meldung der Deutschen Presse Agentur auf das Ende des "Iran-Deals" hinreißen ließ:

 @georgrestle
Folgen @georgrestle folgen
Und das am 8.Mai: Oberster Kriegstreiber sitzt im Weißen Haus.
11:45 Uhr - 8. Mai 2018


Nirgendwo sonst die die negative Einstellung zu einem der leitenden politischen Führer der freien westlichen Welt so ausgeprägt, nirgendwo sonst werden seine Erfolge dermaßen beharrlich verschwiegen. Das Internet, die sozialen Medien, die Netztagebücher können hier ein bescheidenes Gegengewicht setzen. Das sei hiermit versucht.

*          *          *




­
(Videoquelle: PBS News Hour)

6. Mai 2018

1841: "Ein Tag auf dem Planeten Pluto"

"Die 'Hohlwelten' zumal haben etwas so Weichselzöpfiges, daß eine abschließende Aufklärung noch nicht möglich ist." (Arno Schmidt)

The Earth has holes at both its poles,
And in the land between them
There dwells a race from Inner Space
(No mortal man has seen them).
F. Gwynplaine MacIntyre, "Improbable Bestiary: The Hollow Earthers"



(Alexander v. Ungern-Sternberg. Bildquelle Wikimedia)

Der Sonntag den Künsten!

Vor einigen Wochen hieß es aus Gelegenheit einer kleinen, durchaus trivialen literarischen Archäologie zu Levin Schücking und seinem im Morgenblatt für gebildete Leser erschienenen Fragment über "Swift in Moor-Park":

Im selben Jahrgang, 1841, erschien in den ersten Ausgaben des Januars, in den Nummern 2 bis 4 (2.-4. Januar) eine kleine Erzählung des ebenfalls heute verschollenen Freiherrn von Sternberg (einer der Hauptbeyträger des Blattes), dessen vollständiger Name Alexander von Ungern Sternberg (1806-1866) heute nur noch mit dem Titel seiner Sammlung von Kunstmärchen von 1850, Braune Märchen, in schemenhafter Erinnerung ist, die zu ihrer Zeit im Gewand des Volkstümlich-Burlesken das seinerzeit Äußerste an Erotisch-Anzüglichem austesteten. (Der Titel war zur jener Zeit selbstredend unverfänglich. Heute wäre es genau andersherum.) In dieser Fingerübung im Genre dessen, was Fachleute heute als "Proto-Science Fiction", als Vorläufer des Genres vor den ersten "richtigen" Verfassern dieser Spielart wie H.G. Wells und Kurd Laßwitz, bezeichnen, geht es um einen "Tag auf dem Planeten Pluto." Wenn man im Hinterkopf behält, daß die Entdeckung des neunten Planeten (seit 2006 leider seiner planetaren Würde entkleidet) mitsamt seiner Benennung erst 90 Jahre später, 1930, erfolgte, dann könnte man mutmaßen, hier sei einem Autor in absolut unheimlicher Weise ein Blick hinter die Nebel des Zukünftigen gewährt worden. Enfin, es verhält sich anders. Dazu demnächst mehr.
Wie versprochen, hier nun der (freilich literarisch ebenfalls durchaus unbedeutende) kleine Text:

*          *          *

"Ein Tag auf dem Planeten Pluto". Vom Freiherrn von Sternberg