12. Mai 2018

Richard Feynman@100



Mit Richard Feynman, der gestern, am 11. Mai, vor genau 100 Jahren geboren wurde, tritt, zumindest was das Verhältnis der modernen Physik, ihrer Erkenntnisleisutng, ihres Theoriegebäudes zu ihrer Vermittlung, zu ihrer allgemeinen Bekanntheit betrifft, eine neue Phase in Kraft. Seit der Einsteinschen Relativitätstheorie, seit der Quantentheorie (in ihrer "klassischen", Kopenhagener Ausprägung wie in den konkurrierenden Modellansätzen), eigtnlich schon wohl seit den Feldgleichungen von James Clerk Maxwell aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, war es immer ein Gemeinplatz: daß die moderne Physik für einen Laien nicht mehr zu erfassen sei, daß sie unzugänglich und ihrem Wesen nach eine esoterische Disziplin darstelle. Die Anekdote, die Sir Arthur Eddington zugeschrieben wird - wie üblich bei guten Wissenschaftsanekdoten gibt es keinerlei belastbaren Nachweis, daß sich die Sache so zugetragen hat, so wie bei Galileis "eppur se muove", Newton Apfel, Thomas Henry Huxleys rhetorischem Sieg über Bishop Wilberforce oder Kekulé's Traum von der Raumstruktur des Benzolrings: sie sei also als gesichert angeführt - zeigt das exemplarisch: bei einem Vortrag an der Universität Oxford um das Jahr 1919, bei der der britische Astronom, dem in diesem Jahr der erste experimentelle Nachweis von Einsteins Theorien gelang, soll Eddington von Ludwig Silberstel (der eines der ersten Bücher über die Relativitätstheorie verfaßt hat) gesagt worden sein: "Professor: Sie gehören zu den einzigen drei Menschen auf der Welt, die diese Theorie verstehen!", und der, als Eddington abwehrte, hinzusetzte: "Seien Sie doch nicht so bescheiden!" Worauf Eddington entgegnete: "Im Gegenteil. Ich überlege gerade nur, wer der dritte sein könnte." Feynman hat dieses Denkbild aufgegriffen, als er in seiner Nobelpreisrede 1965 sagte: "There was a time when the newspapers said that only twelve men understood the theory of relativity. I do not believe there ever was such a time. There might have been a time when only one man did, because he was the only guy who caught on, before he wrote his paper. But after people read the paper a lot of people understood the theory of relativity in some way or other, certainly more than twelve. On the other hand, I think I can safely say that nobody understands quantum mechanics." 

Dennoch: auch wenn die tieferen Gründe, die Details dieser Weltmodelle dem interessierten Laien ein Buch mit sieben Siegeln blieben: es war immer bekannt, worum es ging, das geneigte Publikum hatte davon vernommen, in den Gazetten waren Berichte erschienen, es gab eine allgemeine Vorstellung nicht nur der Theorie, der Beispiele, mit denen sie in den populären Darstellungen illustriert wurden (für die Quantenphysik dürfte das Schrödingers Katze sein, von der man zumindest vernommen hat, daß sie tatsächlich gleichzeitig lebendig und tot ist): auch die Forscher waren durch den Bezug mit ihren Forschungen, ihren Theorien bekannt. Von Einstein hat sich zwar das Bild des spaßigen Professors mit ungebändigter Frisur, der der Kamera die Zunge herausstreckt, ins Gedächtnis geprägt, aber dies ist unverbrüchlich gekoppelt mit Begriffen wie "Zeitdilation" und "alles ist relativ." Im Fall Feynmans dürften seine bahnbrechenden Leistungen auch Leuten, die mit seinem Namen etwas verbinden, in aller Regel - wenn es sich nicht eben um Fachkollegen handelt - völlig ungeläufig sein; selbst das Gebiet, auf dem diese Leistungen erbracht worden sind - nämlich die Quantenelektrodynamik -  dürfte unbekannt sein (sie beschreibt alle Phänomene, die durch die Wechselwirkung von geladenen Punktteilchen, Elektronen und Positronen sowie von Photonen als Quantenphänomene und behandelt die Phänomene der klassischen Elektrodynamik - Stichwort: Maxwellsche Gleichungen - als Grenzfall, der bei starken Feldern oder Energien auftritt; so wie die klassische Newtonsche Physik einen Grenzfall relativisticher Phänomene darstellt); gewissermaßen ein Bohm'sches Dorf.­

Ebenso dürfte seine für die Praxis der Physik sicher folgenreichste Innovation den meisten Laien völlig unbekannt sein: die Feynman-Diagramme, mit deren Hilfe sich höchst komplexe und intuitiv nicht erschließbare Formeln der Wechselwirkungen von Partikeln in schlichte und sofort verständliche Diagramme überführen lassen (das obige Diagramm zeigt die Wechselwirkung zwischen einem Elektron, einem Positron und dem bei ihrem Aufeinandertreffen wechselwirkenden Photon), die Feynman 1949 aufgrund seiner unorthodoxen Herangehensweise an die theoretische Physik entwickelt hat: anders als die klassische Physik, und die "klassische" Quantentheorie Heisenbergscher, Bohmscher, Oppenheimerscher Prägung arbeitete Feynman vollständig ohne Formeln; er mußte sich die Grundlagen dieser Theorie während seines Studiums in Princeton unter John Archibald Wheeler vollständig selbst neu erarbeiten. Feynman setzte nun ein paar ad-hoc-Annahmen, um die Meßergebnisse einer Reihe von Experimenten zu erklären, bei denen die Ladung und die Masse des Elektron um den Faktor 1000 genauer als je zuvor gemessen worden waren und die leichte Abweichungen von den theoretischen Voraussagen aufwiesen. Das unten stehende Feynmann-Diagramm etwa zeigt die gegenseitige Abstoßung zweier miteinander wechselwirkenden Elektronen. Postuliert wird, daß diese Abstoßungswirkung duch die Emissionen eines Photons - γ - erfolgt, das für diese wechelseitige Beeinflussung sorgt - und zwar ein "virtuelles Photon": es ist vollkommen unwichtig, von welcher Seite es erzeugt wird, und welches sein Verhalten während der Transmission ist (ob die Emission ein oder zwei Photonen umfaßt, ob das Photon kurzzeitig zu einem Elektronen/Positronen-Paar zerfällt): das Ergebnis sieht in jedem Fall so aus, als ob ein Photon, mit diskreter Ladung, ausgetauscht wird, und nichts weiter.



Freeman Dyson, in den späten 1940er Jahren einer des besten Bekannten von Feynman in Princeton, schreibt in seiner intellektuellen Autobiographie Disturbing the Universe von 1979:

Dick (= Richard, Feynman) was also a profundly original scientist. He refused to take anybody's word for anything. That meant that he was forced to  rediscover or reinvent for himself almost the whole of physics. It took him five years of concentrate work to reinvent quantum mechanics. He said he couldn't understand the official version that was taught in textbooks, and so he had to begin afresh from the beginning. That was a heroic enterprise. He worked harder during those years than anybody I ever knew. At the end he had a version of quantum mechanics that he could understand He then went on to calculate with his version of quantum mechanics how an electron should behave. He was able to reproduce the result that Hans (Bethe) had calculated using orthodox theories a little earlier. But Dick could go much further. He calculated with his own theory fine details of the electron's behavior that Hans's method could not touch. Dick could calculate these things far more accurately, and far more easily, than anybody else could. The calculation that I did for Hans, using the orthodox theory,, took me several months of work and several hundred sheets of paper. Dick could get the same answer, calculating on a blackboard, in half an hour. ... The reason Dick's physics was so hard for ordinary people to graps was that he did not use equations. The usual way theoretical physics was done since Newton was to begin by writing down some equations and then to work hard calculation solutions to the equations. ..  Dick just wrote down the solutions out of his head without ever writing down the equations He had a physical picture of the way thing happen, and the picture gave him the solutions directly with a minimum of calculation. It was no wonder that people who had spent their lives solving equations were baffled by him. Their minds were analytical; his was pictorial. (*)
(Basic Books, New York, S. 54-56)

Von all diesen Dingen ist im Gedächtnis der Allgemeinheit nichts geblieben. Wenn von Feynman, zumindest in den USA, ein Eindruck geblieben ist, dann sein letzter öffentlicher Auftritt, als er im Juni 1986, zwei Jahre vor seinem Krebstod und schon schwer von der Krankheit gezeichnet, als Mitglied der Untersuchungskommission für die Ursachen der Explosion des Space Shuttles Challenger ein halbes Jahr zuvor, dem amerikanischen Kongreß und der amerikanischen Öffentlichkeit demonstrierte, daß die Hartgummi-Dichtungsringe ("O rings") unter den eisigen Temperaturen starr wurden und ihre Anpassungsfähigkeit an die von den beim Start auftretenden Vibrationen durchgerüttelten Verkleidungs-Segmente der Feststoffbooster eingebüßt hatten.



Wirklich geblieben ist aber von Feynman der Eindruck, den seine 1985 erschienen Erinnerungen, Surely You Are Joking, Mr. Feynman, zementiert haben: der Wissenschaftler als Spaßvogel, als Exzentriker, als Clown, der nicht durch sein Werk, sondern seine Unkonventionalität einnimmt, der Anspruch auf Aufmerksamkeit dadurch erzielt, daß er wider den Stachel löckt - nicht, indem er winzige Mosaiksteinchen zum unendlichen Bild der Wirklichkeit beiträgt, bei denen 999 von 1000 wieder verworfen werden. Es ist das Bild des bongospielenden Practical Joker, dessen Mitwirkung am Manhattan Project sich darauf beschränkt, als Hobby-Safeeinbrecher J. Robert Oppenheimer zu dessen Arbeitspapieren verholfen zu haben, nachdem dieser seinen Safeschlüssel vorschnell bei der Aufsicht hinterlegt hatte. Ein bohemienhafter Bonvivant, der seiner Arbeit auch an netten Lokalitäten nachging, während er gleichzeitig auch die höchstens mit einem Hut bekleideten Damen des Stripklubs auf seinem Notizblatt skizzierte - während seine durchaus auch für interessierte Laien mit großem Gewinn zu lesende Einführung in die Quantenelektrodynamik QED: The Strange Theory of Light and Matter (auf deutsch bei Piper unter dem Titel QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie lieferbar) praktisch unbekannt ist.


(Die vier Vorträge der Douglas Robb Memorial Lectures an der Universität von Auckland von 1979 von je gut eineinhalb Stunden, deren schriftliche Fassung die Textgrundlage von  QED darstellt gibt es übrigens unter diese Addresse zum Ansehen:

http://www.vega.org.uk/video/subseries/8

- Part 1: Photons - Corpuscles of Light. A gentle lead-in to the subject, Feynman starts by discussing photons and their properties.
- Part 2: Fits of Reflection and Transmission - Quantum Behaviour. What are reflection and transmission, and how do they work?
- Part 3: Electrons and their Interactions. Feynman diagrams and the intricacies of particle interaction.
- Part 4: New Queries . What does it mean, and where is it all leading?
"Feynman gives us not just a lesson in basic physics but also a deep insight into the scientific mind of a 20th century genius analyzing the approach of the 17th century genius Newton. For the young scientist, brought up in this age of hi-tech PC/Power Point-based presentations, we also get an object lesson in how to give a lecture with nothing other than a piece of chalk and a blackboard. Furthermore we are shown how to respond with wit and panache to the technical mishaps that are part-and-parcel of the lecturer`s life.")

Feynman war hier, in beider Hinsicht, nicht der erste. In der eigenwilligen Variante der Reduktion auf die "fröhliche Wissenschaft" war ihm in der Öffentlichkeit James D. Watsons The Double Helix vorausgegangen, 1968, also vor genau einem halben Jahrhundert, zuerst erschienen, das in seiner Schilderung der Suche nach der Struktur des Erbmoleküls als akademische Ehrgeizkabale und sportlichem Ereignis aber nie seinen Forschungsgegenstand komplett aus dem Blick verliert. Zum anderen ist das Fatum, daß das Werk und die tatsächliche Forscherleistung nur den Spezialisten und den Wissenschaftshistorikern geläufig sind, gerade in den Reihen der großen Physiker der letzten 120 Jahre, seit dem Beginn des "Physikalischen Revolution" (egal, ob man sie mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 oder dem Michelson-Morley-Experiment elf Jahr früher ansetzt) geläufig: Von Max Planck, Nils Bohr, Hugh B. Everett, Otto Hahn bis hin zu den Begründern des Stringtheorie wie Edward Witten haben wir es ebenfalls nicht mit dem Äquivalent von Popstars-mit-Rechenschiebern zu tun: ein Fokus, der, etwa im Fall von Stephen Hawking, nichts zur Förderung der Wissenschaft beträgt und mitunter sogar peinliche Fehltritte im Gefolge hat: etwa bei der vorschnellen Verkündigung der vermeintlichen "kalten Fusion" durch Stanley Pons und Martin Fleischmann im Frühjahr 1989 oder der Bekanntgabe der "Entdeckung" außerirdischer Lebensspuren im vom Mars stammenden Meteoriten ALH84001 im Sommer 1996 auf dem Rasen vor dem Weißen Haus im Beisein von Präsident Clinton.

*          *          *
Als Antidot zur "Bruder Leichtfuß"-Einstellung, die nur die Oberfläche darstellte, schreibt Freeman Dyson in seiner Autobiographie dies zu Feynman, der mit siebenundzwanzig Jahren seine Frau verloren hatte, kurz vor dem Ende des Krieges, die er im Wissen um ihre tödliche Tuberkuloseerkrankung geheiratet hatte - und hier gibt es einen (wenn auch äußerst dünnen) Konnex zu Deutschland (und zur Universität Münster, der Alma mater des Protokollanten):

After a few months I was able to identify the quality that I found strange and attractive in the American students. They lacked the tragic sense of life wihch was deeply ingrained in every European of my generatoin. They had never lived with tragedy and had no feeling for it. ... Dick Feynman was in this respect, as in almost every other respect, an exception.
[...]
Dick had his own view of the future of nuclear weapons. He thought that wars would continue from time to time, and that nuclear weapons would be used. He expected that somebody would  sooner or later come back to give us a taste of our own medicine. As we drove through Celveland and St. Louis, he wa smeasuring in his mind's eye distances distances from ground zero,, ranges of lethal radiation and blast and fire damage. His view of the future was very bleak indeed. I felt as if I was taking a ride with Lot through Sodom and Gomorrah.

And yet Dick was never gloomy. He had absolute confidence in the ability of ordinary people to survive the crimes and follies of their rulers. ... It happened that just a year earlier, in the summer of 1947, I had lived for three weeks in a city of rubble, the bombed-out German city of Münster. The University of Münster had invited a group of foreign students to come there to give the German students their first contact with the world outside. We had a street plan of the city to help us find our way around  the mountains of rubble. "Even a city in rubble," it said on the street plan, "in a time of poverty and misery, can express in the appearance of its streets and sidewalks and parks and garden the pride and the resilience and the public spirit of its people." That was true. Every evening when the weather was not too bad, the hungry people of Münster emerged from their cellar with violins and cellos and bassoons to give first-rate orchestral concerts in the open air. One night they even put on an opera, Cavalleria Rusticana. The opera was not the greatest, but the theatre, a grassy amphitheatre overshadowed by magnificent been and chestnut trees, and the beauty of the evening, and the silhouette of the ruined castle, amply made up for the imperfectoins of the performance. By then I had become so accustomed to being hungry an dwalking over piles of rubble that I did not notice it any more. Even in three weeks  you get completely use to living in a world of hunger and rubble. I talked to Dick about these experiences in Germany, and he said it was just as he had expected. He could not imagine that any bombs, even nuclear bombs, could crush the spirit of humanity for long. "If you just think of all the crazy things we have survived," he said, "the atomic bomb is not such a big deal." 
(S. 60-61)




U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.