Im Rückblick, aus der Distanz von mehr als einem halben Jahrhundert, fallen dem Betrachter beim Blick auf die "wilden Sechziger" bestimmen Merkmale ins Auge - gerade auch für deren erste Hälfte, bevor der Zeitgeist entgrenzt wurde, "alles möglich schien", die Farben psychedelisch flackerten und die Vernunft für ein paar Jahre eine Auszeit nahm und die Nachrichten wie die populäre Imagination sich den beiden Polen der rohen Gewalt (auf den Straßen der Großstädte des Westens wie den Dschungeln Südasiens) und des so grenzenlosen wie infantilen Hedonismus in die Arme warfen: davor: in jener Zeit, als "die Zukunft" in Gestalt des "Raumfahrtzeitalters" und der "Elektronengehirne" greifbare Gestalt zu gewinnen schien, als die persönliche Umgestaltung des westlichen Lebensstils im Zuge von "Sexwelle" und Antibabypille, von Cool Jazz bis zum gezähmten Rock'n'Roll sich von der Enge und dem pastosen Einerlei der fünfziger Jahre freizuschwimmen schienen, als das Stilideal in den frühen James-Bond-Filmen mustergültig zu betrachten war: das gleichzeitige Auftreten, in dieser Kurzperide, von einigen Kulturphänomenen, die dies eint: ein nicht zu übersetzender Name und die Tatsache, daß sie als Brechung, Reflexion, fundamentale Kritik an dieser Zeit gedacht waren und sofort zu ihrem Kennzeichen wurden, von der "Pop Art", die eben keine "populäre Kunst" war, sondern eine höchst elitäre Grundsatzkritik der als seicht und schundig empfundenen Warenkultur des Westens mit seinen eigenen Mitteln. Der Bossa Nova (eigentlich die B.N.), die im Upsrungsland einen recht radikalen Bruch mit den Gepflogenheiten des Samba darstellte, sofort im Rest der Welt als seicht-plätschernde "Fahrstuhlmusik" aber den Soundtrack für zahllose Filme im Milieu des internationalen Jetsets abgab, akustisches Pendant zu den Palmenstränden der Copacabana, und die eben nicht mit ihrer wörtlichen Bedeutung "Neue Welle" einzufangen ist; sowenig wie die "Nouvelle Vague" des französischen Kinos oder die "New Wave" der englischen Science Fiction um Michael Moorcock, die die als verstaubt empfundenen Konventionen der Nachkriegszukünfte um die avantgardistischen literarischen Techniken von Autoren wie James Joyce oder John Dos Passos und die nihilistische Welthaltung des Existenzialismus zu erweitern suchten. Und so ist auch der "New Journalism", der um diese Zeit in den USA entstand, mehr (und zugleich viel weniger) als einfach "neuer Journalismus": der Anspruch war nicht eine Auflockerung des bislang gepflegten Reportagestils, sondern eine grundsätzliche Infragestellung der Trennung zwischen nüchterner, dem Leser eine Deutung überlassenden Darstellung und dem direkten Involvement des Berichterstatters - und vor allem: seiner Persönlichkeit - nicht zuletzt dem direkten Engagement für das Berichtete und dem Stil, in dem dieser Bericht erfolgte. Und verbunden war dieser "neue Journalismus" vor allem mit einem Namen: Tom Wolfe.
Wolfe hat diesen "persönlichen Stil", auch in seinem Land und zu seiner Zeit, geprägt von den Befindlichkeiten der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, nicht entwickelt: vorangegangen waren etwa Norman Mailer mit Essays wie "The White Negro" von 1957, Gore Vidal, Truman Capote (von dem er ein Kapitel auf In Cold Blood/Kaltblütig in seiner Referenzanthologie The New Journalism von 1793 abdruckte) oder Guy Talese. Und natürlich ist die Aufbereitung als literarischer Text, das bewußte Verschwimmen der Grenzen zwischen Roman, mehr oder minder skrupulöser Reportage und satirischer Überspitzung beziehungsweise sarkastischer Anklage der Zeitläufe, alles andere als neu: Mark Twains sardonischer Reisebericht einer touristischen "Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Christentums", The Innocents Abroad von 1869, dürfte das erste namhafte Beispiel dieses Genres darstellen; und seitdem zieht sich diese Haltung wie ein roter Faden durch nicht nur den amerikanischen Sektor der Gutenberg-Galaxis: von den muckraking journalists, die in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende soziale Mißstände der wuchernden Metropolen schilderten, mit Upton Sinclairs The Jungle, der Schilderung der verheerenden Zustände in den Schlachthöfen Chicagos von 1903 als wirkungsvollstem Beispiel. Und natürlich ist dieser Stil nicht auf die USA beschränkt geblieben. Für den deutschen Sprachraum dürfte das Paradebeispiel der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch sein, dessen Bücher aus den 20er und 30er Jahren die hastige Rastlosigkeit, das hemmungslose In-den-Vordergrund-Stellen der eigenen Persönlichkeit, das ostentative Kultivieren "linker" Positionen bis zum Extremismus und - last not least - die Tendenz, jeden Knalleffekt bis zum Anschlag auszureizen und es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, gerade was die Augenzeugenschaft betrifft, ihn als mustergültiges Exemplar dieser Gattung ausweisen. (Wobei die beiden letztgenannten Punkte naturgemäß in jeder Art von journalistischer Tätigkeit als tödliche Versuchung lauern.)
Was Wolfe vor allem auszeichnete, war sein ganz persönlicher, unverwechselbarer, manchmal (manchmal? eigentlich immer) bis ins Extrem überdrehter Stil, der in vielen seiner Texte droht, die Substanz des dort Geschilderten unter sich zu begraben (in einer Rezension der Zeitschrift TIME hieß es bündig: "He uses a language that explodes with comic-book words like "POW!" and "boing." His sentences are shot with ellipses, stabbed with exclamation points, or bombarded with long lists of brand names and anatomical terms. He is irritating, but he did develop a new journalistic idiom that has brought relief from standard Middle-High Journalese."), ein fast marktschreierischer Ton, eine Wildheit der Tonlage, die jeden Lehrmeister des "klassischen" Reporterhandwerks so zur Verzweiflung getrieben hätte wie die Bühnenauftritte eines James Brown einen Tanzlehrer des Barock, der jede Konzentration auf die 5-W-Fragen ("Wer ist beteiligt? Was ist geschehen? Wo? Wann? Wie?") rücksichtslos in Grund und Boden fährt, und der der eine eigentliche Grund ist, warum seiner Bücher, den Zeitgeist der Sixties wie keine anderen repräsentierend, bis heute aufgelegt und gelesen werden, während zahllose andere Texte, die genau dies auch für sich beanspruchen können, so vergessen und verschollen sind, daß selbst ihr Verschollensein der Vergessenheit anheimgefallen ist: von A. S. Neills Autobiographie (für alle "antiautoriäten" Erziehungsbewegungen der 60er und 70er Jahre der grundlegende Anstoß) über die Schriften Herbert Marcuses theoretischen Schriften und besonders seiner späten Programmschrift Der eindimensionale Mensch, Richard Farinas Been Down So Long It Looks Like Up to Me oder die, nun, "Romane" Richard Brautigans, aber auch andere Texte aus dem Umfeld des New Journalism: Norman Mailers The Armies of the Night (über den Vietnamkireg) oder Of a Fire on the Moon (das wahrscheinlich das schlechteste und uninformierteste Buch ist, das über das Apolloprojekt der ersten bemannten Mondlandung je geschrieben worden ist: Wolfes Schilderung der "Mercury Seven", The Right Stuff von 1979, darf als direktes Kontrastprogramm zu Mailers Text gelesen werden: während Mailer das Raumfahrtprogramm nur zu einer Rundumanklage der menschlichen Hybris im Besonderen und des American Way of Life im Allgemeinen nutzt, leuchtet unter Wolfes hemdsärmlig-burschikoser Oberfläche die Bewunderung für das technische Können, den Pioniergeist, die Transposition des zupackenden Ingenieur-Ingeniums flächendeckend hervor), die grellen Texte Terry Southerns (dessen Neigung zur bizarren Groteske sie ebenfalls in einer Kategorie jenseitsvongutundböse, beziehungsweise faktisch versus dadaistisch, verortet) oder Hunter S. Thompsons.
Um einen Eindruck von Wolfes kobolzschlagendem Stil zu vermitteln, gibt es kein besseres Beispiel als die Auftaktsequenz von From Bauhaus to Our House, seinem Rundumschlag gegen die Zumutungen der modernen Architektur von 1981 (deutsch unter dem Titel Mit dem Bauhaus leben), angefangen mit den "drei weißen Göttern" Walter Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier und den desaströsen Auswirkungen ihres vermeintlich funktionalen Minimalismus:
O BEAUTIFUL, for spacious skies, for amber waves of grain, has there ever been another place on earth where so many people of wealth and power have paid for and put up with so much architecture they detested as within thy blessed borders today?
I doubt it seriously. Every child goes to school in a building that looks like a duplicating-machine replacement-parts wholesale distribution warehouse. Not even the school commissioners, who commissioned it and approved the plans, can figure out how it happened. The main thing is to try to avoid having to explain it to the parents.
Every new $900,000 summer house in the north woods of Michigan or on the shore of Long Island has so many pipe railings, ramps, hob-tread metal spiral stairways, sheets of industrial plate glass, banks of tungsten-halogen lamps, and white cylindrical shapes, it looks like an insecticide refinery. I once saw the owners of such a place driven to the edge of sensory deprivation by the whiteness & lightness & leanness & cleanness & bareness & spareness of it all. They became desperate for an antidote, such as coziness & color. They tried to bury the obligatory white sofas under Thai-silk throw pillows of every rebellious, iridescent shade of magenta, pink, and tropical green imaginable. But the architect returned, as he always does, like the conscience of a Calvinist, and he lectured them and hectored them and chucked the shimmering little sweet things out.
Every great law firm in New York moves without a sputter of protest into a glass-box office building with concrete slab floors and seven-foot-ten-inch-high concrete slab ceilings and plasterboard walls and pygmy corridors—and then hires a decorator and gives him a budget of hundreds of thousands of dollars to turn these mean cubes and grids into a horizontal fantasy of a Restoration townhouse. I have seen the carpenters and cabinetmakers and search-and-acquire girls hauling in more cornices, covings, pilasters, carved moldings, and recessed domes, more linenfold paneling, more (fireless) fireplaces with festoons of fruit carved in mahogany on the mantels, more chandeliers, sconces, girandoles, chestnut leather sofas, and chiming clocks than Wren, Inigo Jones, the brothers Adam, Lord Burlington, and the Dilettanti, working in concert, could have dreamed of.
*Uff*
(An dieser Passage zeigt sich auch, was Übersetzer an Wolfes Texten zur Verzweiflung treiben kann: jedem amerikanischen Leser sind die ersten Worte O Beautiful, for spacious skies / amber waves of grain als die Auftaktzeilen von Amerikas "inoffizieller Nationalhymne", "America the Beautiful" von 1910, tausendfach bei Sportveranstaltungen und Schulfeiern gespielt und gesungen, geläufig: für Nichtamerikaner lassen sich solche Assonanzen, solche Anspielungen, deren Hallraum einen großen Teil des Reizes ausmacht, schlechterdings nicht nachbilden.)
Der andere Grund dafür, daß Wolfes Texte bis heute aufgelegt und gelesen werden, dürfte ein letzthin als politisch zu kategorisierender sein. Was Autoren wie Norman Mailer, Hunter S. Thompson, Michael Herr, Guy Talese schrieben, war von einem direkten Handlungsimpetus getragen: die Haltung dieser Autoren war nicht nur "extrem links", sie fußte auch auf einer generellen Ablehnung des amerikanischen Systems, seiner Erscheinungen und seiner Politik, nicht nur in jenen Jahren, sondern aus Prinzip: als zerstörerisch, als "entfremdend" und unmenschlich. Das Ziel war immer, durchaus unverhohlen: es zu überwinden, abzuschaffen, es grundsätzlich durch etwas Neues - also Utopisches - zu ersetzen, und dazu in fundamentale Opposition zu treten. Genau das war auch die Haltung der underground culture, der Studentenrevolte, darin suchte sie sich ihre Symbole und Heldengestalten, daraus, eben aus der Fundamentalopposition zu allem, was sie um sich herum sahen, erklärt sich ihre verhängnisvolle Verehrung für die Diktatoren und Massenmörder der "3. Welt", von Mao Tse-tungs Revolutionsgarden über den Schlächter Ernesto "Che Guevara" bis zu Fidel Castro. Wolfe hingegen stand au-dessus de la mêlée: ihm war das Treiben seiner Zeitgenossen - von den "Merry Pranksters" um Ken Kesey (des Autors von One Flew Over the Cuckoo's Nest) und ihres wilden Trip mit einem wracken Schulbus durch den Wilden Westen Kaliforniens mitsamt dem Ziel, ihre haschrebellischen Kommilitonen mit LSD zu beglücken (The Electric Kool Aid Acid Test, die Schilderung dieses Unterfangens, in dem schon alle schwarzen Züge der Hippie-Lebensweise, vom Drogenmißbrauch bis zur mörderischen Gewalt der Hells Angels, anklingen, erschien 1968, vor einem halben Jahrhundert, in jenem Kulminationsjahr, am gleichen Tag wie seine zweite Sammlung von Reportagen, The Pump House Gang, die sich eben jenen eingangs erwähnten "007"-Zeitgeistlichkeiten widmet: kalifornischen Surfern, dem Lebensstils Hugh Hefners, Marshall McLuhan und Natalie Wood, den Symbolen und Lebensstilen jener Jahre, die dann "1968" unter sich begrub - bis hin zu den Gen X-Vertretern der 1990er Jahre - stets nur eine Facette des absurden Welttheaters, in dem die conditio humana so aussichtslos wie für den abgeklärten Beobachter ebenso erheiternd wie ermüdend ihre immergleichen Tragikomödien aufführt, ohne Hoffnung auf Erlösung oder Genesung. Hinter der Maske des Clowns und des Marktschreiers verbarg sich in Wolfes Fall ein genuiner Konservativer. In diesem Belang trifft er sich mit Joan Didion, der anderen Vertreterin des New Journalism, deren die Zeitumstände referierende Texte, begonnen mit dem Band Slouching Toward Bethlehem von 1968 bis heute lesbar geblieben sind. In Didions Texten zeigt sich eine andere Facette nicht so sehr der Konservatismus, sondern der amerikanischen Lebensphilosophie: sie sind durch einen Quietismus geprägt, durch eine Konzentration auf das Private, Kleinteilige, Persönliche (bei Didion zeigt es sich vor allem in ihrem Buch The Year of Magical Thinking von 2005, Autobiographie, Selbsttherapie und bescheidener Gedenkaltar nach dem Verlust ihres Mannes und ihrer Tochter in den beiden Jahren zuvor. Wolfe wäre, aufgrund seiner prinzipiell satirischen und sarkastischen Lebenshaltung, das läßt sich wohl ohne Maliziösität sagen, zu einer solchen asketischen wie aufrichtigen Trauerarbeit nicht imstande gewesen). Das allerdings, ohne mit den Ideen, dem Denkrahmen des klassischen Konservatismus Hand in Hand zu gehen. Wie so oft handelte es sich in beiden Fällen um ein Lebensgefühl, eine Haltung, nicht um eine politische Philosophie. Daß Wolfe ein genuiner Konservativer war, zeigt sich in seinem vielleicht gelungendsten fiktinalen Text, der längeren Erzählung "Ambush at Fort Bragg", gesammelt in der letzten Kollektion von Reportagen, Hooking Up von 2000: der Schilderung eines mutmaßlichen Mißhandlungsskandals an einer Militärakademie, bei dem Rekruten unter Verdacht stehen, einen homosexuellen Kameraden aufgrund seiner sexuellen Orientierung schwer mißhandelt zu haben. Die mitgeschnittenen Telefonate, die Gespräche der Soldaten scheinen zunächst den Fall eindeutig zu entscheiden: aus vielen dampft nachgerade eine tiefe Ablehnung und Verachtung von "Tunten", von der Grellheit und Verantwortungslosigkeit vieler schwuler Lebensführungen. Wirklich aufgeklärt wird des Casus nicht, aber für den Leser sind die drei Seiten wichtig, an dem ein Offiziersanwärter dem Ich-Erzähler und Wolfe-Substitut erklärt, warum es kein Marine gewesen sein kann: bei aller Ablehnung ist dies nicht ihr Stil; solche Gewalt, solche Mißhandlung widerspricht allem, wofür sie mit ihrer Ausbildung, ihrem Gewissen, mit der Entscheidung, in einer Eliteeinheit für die Werte, für die Amerika steht, gegebenenfalls ihr Leben in die Bresche zu werfen. Diese Passage, die von einem vierschrötigen, tätowierten Glatzkopf stammt, läßt am Ende den Leser begeistert zurück. Nicht, weil Konservative -oder Wolfe-Leser - homophobe Vorurteile hegen oder bestätigt sehen wollen - beides trifft nicht zu - sondern weil hier auf einen grundsätzlichen Anstand, auf Toleranz (auch in Sinne des "Aushaltenmüssens") abgehoben wird, diese jeder politischen Korrektheit und Minderheitenhofierung um Lichtjahre vorgeschaltet ist und sie überflüssig macht.
Ob Wolfes vier Romane die Zeitläufe überstehen werden, jene Produkte der zweiten Hälfte seiner Autorenlaufbahn, wird die Zeit zeigen. The Bonfire of the Vanities von 1985, hat immerhin noch die Vorteile der konzisen Konzentration und der Zeitgeistsatire, mit denen die Welthaltung und der Lebensstil der "Masters of the Universe", der New Yorker Börsenmakler gnadenlos aufgespießt werden. Das Buch verdankt sich einer Wette Wolfes mit dem Herausgeber des Rolling Stone, in dem der Text zwischen Juni 1984 und August in 27 Fortsetzungen erschien. Wolfe hatte daran erinnert, daß viele Autoren des 19. Jahrhunderts - von Charles Dickens, George Eliot, Balzac (und nicht zuletzt Alexandre Dumas pêre) ihre Werke unter Termindruck verfaßt haben, sich von Fortsetzung zu Fortsetzung hangelnd, dem Leser nur ein oder zwei Monate oder gar Wochen voraus, und das dies eine gute Kur gegen die Ausuferung und Fahrigkeit der zeitgenössischen Literatur sei. Auch würde die Konzentration auf kurze Spannungsbögen der uferlosen Salbarei und Selbstspiegelung heilsam einen Riegel vorschieben. Der Roman selbst verdankt sich der Tatsache, daß Wolfe erklärte: unter solchen Umständen könne jeder, auch er, einen brauchbaren Roman verfassen; der Wetteinsatz des Rolling Stone von 200.000 Dollar tat ein übriges. Daß an dieser Einstellung etwa sein mag, zeigt der Umstand, daß Wolfe für die gut 850 Seiten seines zweiten Romans, A Man in Full, danach mehr als zwölf Jahre Arbeitszeit und unzählige Anläufe benötigte.
Als Mißgriff dürfte hingegen sein letzter Titel, The Kingdom of Speech, erschienen im August 2016, zu werten sein. In diesem Zangenangriff auf Charles Darwin und Noam Chomsky zieht Wolfes Polemik, man muß es so sagen, auf beiden Fronten den Kürzeren. Mit Charles Darwin und der Evolutionstheorie sich anzulegen hat sich schon hunderte von Malen als intellektueller Offenbarungseid erwiesen; dieses Gerüst der Naturerklärung steht felsenfest; und Wolfes Vorwurf, Darwin und seiner Nachfolger hätten das Werk Alfred Russel Wallaces geplündert und ihm den ihm gebührenden Ruhm vorenthalten, hat nicht einmal den Vorteil der Originalität vor sich: Parteigänger Wallaces verfechten dies seit seinem Tod 1913 - und für die Triftigkeit einer Theorie ist dergleichen absolut bedeutungslos. Chomsky ist, nicht nur für viele konservative wie liberale Denker (im alten, "europäischen" Sinn dieser Vokabel: "liberal" bedeutet im heutigen englischsprachigen Diskurs hingegen das gleiche, was im Deutschen als "linksgrün" bezeichnet wird) eine höchst negative gesehene Figur, eine Bête noir, ein Feind der Offenen Gesellschaft und Prediger des politischen linken Extremismus. Aber seine Sprachtheorie, vor sechzig Jahren entwickelt, steht auf einem anderen Blatt. Zwar haben sich seine Spezifika, die Ableitungsbäumchen, der Unterschied zwischen "Oberflächen-" und "Tiefenstruktur" einer allen allen Sprachen zugrundeliegenden, und damit angeborenen Sprachstruktur, nicht gehalten (nicht zuletzt wegen der Unentscheidbarkeit, ob dergleichen "in den Genen verankert" liegt oder ob die schlichte Notwendigkeit zu bestimmten sprachlichen Ausdrucksleistungen durch die Wirklichkeit vorgegeben ist). Aber seiner Erkenntnis - oder besser: seine Formulierung des schlichten universellen Beobachtung - daß der Mensch einen "angeborenen Sprachinstinkt" habe, eine Anlage zum Erwerb einer Sprache (und sei sie, bei Taubheit, in Gesten kodifiziert), und daß ein Mensch, bei dem es nicht bis zum dritten Lebensjahr zum Spracherwerb kommt, nicht mehr dazu in der Lage sein und ein mentaler Krüppel bleiben wird: daran kann auch Wolfes Indignation nicht rütteln.
Bleiben werden hingegen, aus der Sicht des Protokollanten, zumindest die beiden schmalen Bändchen, mit denen er sich, in Gestalt einer polemischen Kampfschrift, den beiden Ausprägungen der Moderne annimmt, die zu den, nicht angeborenen, aber unvermeidlichen Ausprägungen des Alltag gehören: der Architektur und der abstrakten Kunst, From Bauhaus to Our House (1981) und The Painted Word (1978), Rundumschläge, die beide Abteilungen kreativer Anmaßung und des Anspruchs auf alleinige Gültigkeit restlos niederbügeln.
Am vorigen Montag, dem 14. Mai 2018, ist Tom Wolfe im Alter von 88 Jahren gestorben.
Ob Wolfes vier Romane die Zeitläufe überstehen werden, jene Produkte der zweiten Hälfte seiner Autorenlaufbahn, wird die Zeit zeigen. The Bonfire of the Vanities von 1985, hat immerhin noch die Vorteile der konzisen Konzentration und der Zeitgeistsatire, mit denen die Welthaltung und der Lebensstil der "Masters of the Universe", der New Yorker Börsenmakler gnadenlos aufgespießt werden. Das Buch verdankt sich einer Wette Wolfes mit dem Herausgeber des Rolling Stone, in dem der Text zwischen Juni 1984 und August in 27 Fortsetzungen erschien. Wolfe hatte daran erinnert, daß viele Autoren des 19. Jahrhunderts - von Charles Dickens, George Eliot, Balzac (und nicht zuletzt Alexandre Dumas pêre) ihre Werke unter Termindruck verfaßt haben, sich von Fortsetzung zu Fortsetzung hangelnd, dem Leser nur ein oder zwei Monate oder gar Wochen voraus, und das dies eine gute Kur gegen die Ausuferung und Fahrigkeit der zeitgenössischen Literatur sei. Auch würde die Konzentration auf kurze Spannungsbögen der uferlosen Salbarei und Selbstspiegelung heilsam einen Riegel vorschieben. Der Roman selbst verdankt sich der Tatsache, daß Wolfe erklärte: unter solchen Umständen könne jeder, auch er, einen brauchbaren Roman verfassen; der Wetteinsatz des Rolling Stone von 200.000 Dollar tat ein übriges. Daß an dieser Einstellung etwa sein mag, zeigt der Umstand, daß Wolfe für die gut 850 Seiten seines zweiten Romans, A Man in Full, danach mehr als zwölf Jahre Arbeitszeit und unzählige Anläufe benötigte.
Als Mißgriff dürfte hingegen sein letzter Titel, The Kingdom of Speech, erschienen im August 2016, zu werten sein. In diesem Zangenangriff auf Charles Darwin und Noam Chomsky zieht Wolfes Polemik, man muß es so sagen, auf beiden Fronten den Kürzeren. Mit Charles Darwin und der Evolutionstheorie sich anzulegen hat sich schon hunderte von Malen als intellektueller Offenbarungseid erwiesen; dieses Gerüst der Naturerklärung steht felsenfest; und Wolfes Vorwurf, Darwin und seiner Nachfolger hätten das Werk Alfred Russel Wallaces geplündert und ihm den ihm gebührenden Ruhm vorenthalten, hat nicht einmal den Vorteil der Originalität vor sich: Parteigänger Wallaces verfechten dies seit seinem Tod 1913 - und für die Triftigkeit einer Theorie ist dergleichen absolut bedeutungslos. Chomsky ist, nicht nur für viele konservative wie liberale Denker (im alten, "europäischen" Sinn dieser Vokabel: "liberal" bedeutet im heutigen englischsprachigen Diskurs hingegen das gleiche, was im Deutschen als "linksgrün" bezeichnet wird) eine höchst negative gesehene Figur, eine Bête noir, ein Feind der Offenen Gesellschaft und Prediger des politischen linken Extremismus. Aber seine Sprachtheorie, vor sechzig Jahren entwickelt, steht auf einem anderen Blatt. Zwar haben sich seine Spezifika, die Ableitungsbäumchen, der Unterschied zwischen "Oberflächen-" und "Tiefenstruktur" einer allen allen Sprachen zugrundeliegenden, und damit angeborenen Sprachstruktur, nicht gehalten (nicht zuletzt wegen der Unentscheidbarkeit, ob dergleichen "in den Genen verankert" liegt oder ob die schlichte Notwendigkeit zu bestimmten sprachlichen Ausdrucksleistungen durch die Wirklichkeit vorgegeben ist). Aber seiner Erkenntnis - oder besser: seine Formulierung des schlichten universellen Beobachtung - daß der Mensch einen "angeborenen Sprachinstinkt" habe, eine Anlage zum Erwerb einer Sprache (und sei sie, bei Taubheit, in Gesten kodifiziert), und daß ein Mensch, bei dem es nicht bis zum dritten Lebensjahr zum Spracherwerb kommt, nicht mehr dazu in der Lage sein und ein mentaler Krüppel bleiben wird: daran kann auch Wolfes Indignation nicht rütteln.
Bleiben werden hingegen, aus der Sicht des Protokollanten, zumindest die beiden schmalen Bändchen, mit denen er sich, in Gestalt einer polemischen Kampfschrift, den beiden Ausprägungen der Moderne annimmt, die zu den, nicht angeborenen, aber unvermeidlichen Ausprägungen des Alltag gehören: der Architektur und der abstrakten Kunst, From Bauhaus to Our House (1981) und The Painted Word (1978), Rundumschläge, die beide Abteilungen kreativer Anmaßung und des Anspruchs auf alleinige Gültigkeit restlos niederbügeln.
Am vorigen Montag, dem 14. Mai 2018, ist Tom Wolfe im Alter von 88 Jahren gestorben.
Ulrich Elkmann
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