31. Januar 2008

Zitat des Tages: "Mut und Demut der Deutschen"

On y commémore partout le 75e anniversaire de la prise du pouvoir par Adolf Hitler et le parti nazi, d'une manière qui fait dire à un ancien ambassadeur d'Israël à Berlin: "Où, dans le monde, a-t-on jamais vu une nation ériger tant de monuments pour immortaliser sa propre honte? Seuls les Allemands ont cette audace et cette humilité."

Il est non moins rare d'entendre un héritier des victimes rendre un hommage si fervent aux héritiers des bourreaux.


(Man erinnert dort [in Deutschland] überall an den 75. Jahrestag der Machtergreifung Adolf Hitlers und der Nazi- Partei, und zwar auf eine Weise, die den früheren Botschafter Israels in Berlin sagen ließ: "Wo in der Welt hat man jemals gesehen, daß eine Nation derart viele Denkmäler errichtete, die an ihre eigene Schande erinnern? Nur die Deutschen haben diesen Mut und diese Demut."

Ebenso selten ist es, daß man einen Erben der Opfer den Erben der Henker eine solche tiefe Ehrerbietung erweisen hört.)

Jean Daniel (87), Doyen der französischen Journalisten, ein jüdischer Humanist algerisch- berberischer Herkunft, in seinem Leitartikel im aktuellen Nouvel Observateur, dessen Herausgeber er ist.

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Marginalie: McCain, Romney und die anderen. Und Reagans Flugzeug

Anders als in früheren Kampagnen für die US-Präsidentschaft fallen heuer schon nach den ersten Vorwahlen und Caucuses die Kandidaten wie die Kegel beim Bowling. Der Januar ist noch nicht zu Ende, und es sind auf jeder Seite nur noch zwei - Obama und Clinton bei den Demokraten, und bei den Republikanern Mitt Romney und John McCain.

Formal gibt es noch ein paar mehr Kandidaten. Bei den Republikanern sind da noch zwei wackere Zählkandidaten, Mike Huckabee und der unverdrossene Ron Paul. Sie trafen sich vergangene Nacht mit Romney und McCain zu einer Diskussion; zu einer für diesen Wahlkampf sehr typischen Diskussion. Aus meiner Sicht war es eine enttäuschende Diskussion, vor allem, was John McCain angeht.

Das Ereignis war unter anderem von CNN und der Los Angeles Times organisiert und fand vor einer eindrucksvollen Kulisse statt: Im Air Force One Pavilion der Ronald Reagan Library in Los Angeles, einer Halle, in der leibhaftig eben jenes Flugzeug Air Force One steht, das Reagan und anderen Präsidenten für ihre Reisen gedient hatte.

Die etwas skurrile Idee, dieses Flugzeug in der Bibliothek aufzustellen, geht auf eine Bemerkung Reagans zurück, daß er es schön fände, das Flugzeug dem amerikanischen Volk zur Verfügung zu stellen. In Amerika, zumal in Californien, reagiert man auf solche Einfälle gern mit einem "Why not?"; und tut's.

Da saßen sie also, die zwei und die zwei. Die zwei wirklichen Kandidaten, Mitt Romney und John McCain, rechts am Tisch nebeneinander. Und links neben ihnen der sympathische Don Quijote Ron Paul, Kämpfer für die Freiheit und gegen den Staat, und der fröhliche Christenmensch Huckabee.

Die beiden fügten sich in ihr Schicksal, nicht mehr als die Staffage für die Diskussion zwischen Romney und McCain abzugeben. Paul mit der betrübten Mine desjenigen, der das gewohnt ist, Huckabee mit bissigem Humor.



Was sagten sie nun, McCain und Romney? Wie kamen sie rüber? Was sie sagten, hat CNN als Transskript ins Netz gestellt; man kann es sich dort auch, wenn man Zeit hat, als Video ansehen.

Mein Eindruck war, daß die beiden Kandidaten in erstaunlichem Maß das waren, was man im Fußball als nickelig bezeichnet.

Mit versteckten Anspielungen, die den Gegner herabsetzen sollten, mit dem Herumgehacke darauf, was wer wann gesagt hätte und was ihn wozu qualifiziere oder nicht qualifiziere.

Die beiden schenkten sich nichts bei diesen ständigen Tacklings und versteckten Fouls. Je mehr sie sich ineinander verbissen, umso mehr ließen sie Huckabee und Ron Paul als zwei ehrlichere und sachlichere Diskutanten aussehen.

Wer machte die bessere Figur bei dem Hickhack? Für die Zuschauer eindeutig Romney. Das war nicht nur am Applaus zu erkennen, sondern ein Panel von Zuschauern hatte auch Eingabegeräte, in die sie fortlaufend ihre Bewertung der Kandidaten tippten. An den kritischen Stellen der Debatte näherte sich Romney oft dem maximalen Wert hundert, während McCain auf unter fünfzig absackte.



Dabei hatte McCain Recht.

Jedenfalls an der wichtigsten Stelle, als es um den Irak- Krieg ging. (Anderson Cooper von CNN meinte nach der Debatte, die größte Überraschung für ihn sei gewesen, wie hartnäckig die beiden bei diesem Thema blieben).

McCain wirft schon seit Tagen Romney vor, in der kritischen Phase im Frühling 2007, als viele Demokraten den sofortigen Abzug forderten und Bush den Surge erwog, herumgeeiert zu haben. Er habe erst eine Stellungnahme mit dem Hinweis darauf verweigert, daß er ja Gouverneur von Massachusetts sei und kein Bundespolitiker, und dann habe er einen Zeitplan für den Abzug befürwortet, wie ihn die Demokraten verlangten.

Romney wies das entrüstet von sich, schwor Stein und Bein, es nie gesagt zu haben und gebrauchte das Wort "Lüge", wenn auch nicht direkt auf McCain bezogen. Wer als er selbst sei eigentlich der Experte dafür, wie er zum Irak-Krieg stehe? Und warum McCain nicht das ganze Zitat vorlese? Was McCain ihm da vorwerfe, das sei eines dieser typischen Manöver, wie sie in Washington an der Tagesordnung seien (Subtext: Er, Romney, dagegen, ist die ehrliche Haut aus Massachusetts).

Das kam bei den Zuschauern gut an, und McCain sah alt aus. Liest man freilich nach, was Romney an jenem 3. April 2007 wirklich gesagt hatte, dann sieht man, daß McCain im Kern Recht hatte: Romney eierte herum. Er sprach sich gegen einen öffentlichen Zeitplan aus, weil dies dem Feind nützen würde. Aber er deutete zumindest an, daß er für einen internen, mit den Irakern auszuhandelnden Zeitplan für einen Abzug der US-Truppen sei.

Nur hatten die Zuschauer, die da in der Ronald Reagan Library saßen und vor der Kulisse der Air Force One den Kandidaten zuhörten, ja nicht die Gelegenheit, das nachzulesen (auch wenn der Moderator Anderson Cooper ein Zitat aus dem Interview beisteuerte).

Sie hatten den Eindruck, die Zuschauer vor Ort (und ich hatte, nur den Auftritt der beiden Kandidaten betrachtet, auch diesen Eindruck), daß McCain seinem Gegner Romney das Wort im Mund herumzudrehen versuchte.

So, wie überhaupt McCain seltsam schwammig und stereotyp debattierte.

Fast formelhaft wiederholte er immer wieder die Versatzstücke, die man wieder und wieder bei seinen Auftritten hört: Daß er ein "Fußsoldat" in der Truppe Ronald Reagans gewesen sei, daß er das "größte Geschwader" der Marineflieger geführt habe, daß er "für diesen Surge gekämpft" habe, als es in Bezug auf den Irak- Krieg Spitz auf Knopf gestanden habe. Man meinte förmlich das Gähnen im Publikum wahrzunehmen.

Auf konkrete Fragen gab er selten konkrete Antworten, sondern er sprach seinen Text in monotoner Wiederholung. Oft lächelnd, mit seiner seltsam sanft schwingenden Stimme wie ein müder Schauspieler, der zum tausendsten Mal dasselbe Stück spielen muß.

Romney wirkte, braungebrannt und elegant wie immer, erheblich dynamischer und auch präziser. Man könnte auch sagen: Er wirkte glatt und geschniegelt.

Wenn es nur um die Art ging, wie jeder der Kandidaten herüberkam, dann war Huckabee der Sieger Er nutzte seine Rolle als Nebendarsteller mit Witz, einer fröhlichen Menschlichkeit, auch mit präzisen Aussagen. Man freute sich geradezu, wenn zwischen den Hinterhältigkeiten, die Romney und McCain austauschten, einmal wieder er oder Ron Paul mit einer Frage bedacht wurde.

Aber es geht ja bei den Wahlentscheidungen der Amerikaner nicht nur um solche Auftritte. Zum Glück nicht.



Weitere Informationen zu der Sendung, auch zum Medienecho darauf, im Blog Pennsylvania Ave, den ich bei dieser Gelegenheit allen empfehlen möchte, die eine ebenso schnelle wie präzise Berichterstattung zum US-Wahlkampf in deutscher Sprache suchen.

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Zettels Meckerecke: Die Spitzen unserer Politik und die degradierten Zukunftsprobleme

"Unions- Spitzenpolitiker gegen Ausländer- Wahlkampf", meldete gestern die "Tagesschau" der ARD.

Ehrlich gesagt - für mich zählten Emine Demirbüken- Wegner, Adolf Sauerland, Fritz Schramma, Wolfgang Schuster, Wolfgang Reiniger, Yasar Bilgin, Dieter Oberndörfer, Bülent Arslan, Ismail Akpinar und Agül Özkan bisher nicht zu den Spitzenpolitikern der CDU. Die meisten dieser Namen habe ich heute zum ersten Mal bewußt gehört oder gelesen; einige sind mir als kommunale Größen bekannt.

Aber nun gut, was ein Spitzenpolitiker ist, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein, und zwei der siebzehn Autoren des Artikels in der aktuellen Ausgabe der "Zeit", auf den sich die "Tagesschau"- Meldung bezieht, wird man in der Tat der CDU-Spitze zurechnen können: Ole von Beust und Ruprecht Polenz. Andere, wie die Landesminister Laschet und Christa Stewens und die einst sehr populäre Rita Süssmuth gehören, sagen wir, ins breitere Umfeld der erweiterten CDU-Spitze.



Warum nennt die "Tagesschau" Leute aus der D-Prominenz wie Wolfgang Schuster und Ismail Akpinar "Unions- Spitzenpolitiker"? Warum tut es nicht schlicht "Unions- Politiker"?

Man darf vermuten, daß das mit dem Inhalt des Artikels zu tun hat, den sie gemeinsam verfaßt haben. Dieser Artikel ist ein Brief. Das geht daraus hervor, daß er eine Anrede trägt; nein, sogar gleich zwei: "Sehr geehrte Bürger!" heißt es in der Überschrift, und dann am Beginn des Textkorpus: "Sehr geehrte Damen und Herren". (Eine Grußfloskel am Schluß fehlt allerdings; insofern endet der Brief ein wenig unhöflich).

An wen wendet sich der Brief? An, so heißt es im Vorspann, "21 prominente Deutschtürken". Diese hatten eine Woche zuvor in einem Offenen Brief, der ebenfalls in der "Zeit" erschienen war, "Wahlkampfpopulismus" kritisiert und "ernsthafte Reaktionen auf eine fehlgeschlagene Integrationspolitik" gefordert.



Die Antwort der siebzehn Spitzenpolitiker ist überwiegend so abgefaßt, daß sie mir keinen Anlaß zu einer Meckerecke geben würde. Es stehen im Gegenteil Sätze darin, die ich als ausgesprochen vernünftig empfinde.

Zum Beispiel: "Gewalt und Kriminalität gedeihen, wo Respektlosigkeit, mangelnde Bildung und Erziehung herrschen."

Oder: "Wir brauchen politische Vorbilder, Erfolgsgeschichten, für die Sie stehen und die in dieser Klarheit sagen, dass abscheuliche Vorgänge wie in der Münchner U-Bahn 'die ganze Härte unserer bestehenden Gesetze' erfahren müssen."

Ja, richtig. Dazu konnte ich, als ich es las, nur innerlich nicken. ich glaube, es war ziemlich genau das, was Roland Koch im Wahlkampf gesagt hatte.

Aber dann stieß ich auf einen Satz, den ich so ungeheuerlich finde, daß ich darüber eigentlich nicht nur meckern, sondern mich über ihn von Herzen empören möchte. Dieser Satz lautet:

"Integrationspolitik ist so fundamental für die Zukunft unseres Landes, dass sie nicht zum Wahlkampfthema degradiert werden darf."

Welche Mißachtung des Wählers, welche Arroganz gegenüber dem Souverän drückt sich in diesem Satz aus!

Was "fundamental für die Zukunft unseres Landes" ist, das darf, so fordern es diese siebzehn Spitzenpolitiker, nicht zum Wahlkampfthema werden.

Nein, zu wenig. Es muß noch eins drauf. Nicht nur nicht im Wahlkampf debattiert werden darf nach Auffassung der siebzehn Spitzenpolitiker das, was die Zukunft unseres Landes fundamental betrifft. Sondern es darf dazu nicht degradiert werden.

Ist so etwas zu fassen? Was glauben sie, die siebzehn Spitzenpolitiker, welche Quittung für ihre Unverschämtheit ihnen Wähler in den USA oder in England dafür geben würden, daß sie es als "Degradierung" eines Themas bezeichnen, wenn es dort debattiert wird, wo allein die Politiker - Spitzen und Fußvolk - mit uns, ihren Wählern diskutieren: im Wahlkampf?



Ich kann mir die hochgezogenen Brauen, die abgesenkten Mundwinkel mancher vorstellen, die soweit gelesen haben. Populismus! höre ich sie rufen. Ja ist Ihnen denn nicht klar, Zettel, höre ich sie sagen, daß das Thema "Integration" eine vorsichtige, eine differenzierte Befassung verlangt? Während im Wahlkampf doch geklotzt, vereinfacht, emotionalisiert wird?

Ja, ist Ihnen denn nicht klar, Zettel, höre ich sie sagen, daß gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte ...

An dieser Stelle höre ich nichts mehr. Vermutlich, weil ich mir die Ohren zugehalten habe. Als wenn die Geschichte des Totalitarismus in Deutschland, die ja nicht 1945, sondern erst 1989 zu Ende ging, es nicht ganz im Gegenteil verlangte, endlich mit der Bevormundung "unserer Menschen" Schluß zu machen.

Wie in aller Welt soll man denn demokratisches Selbstbewußtsein fördern, wenn Politiker in ihrer Arroganz die für unsere Zukunft fundamental wichtigen Themen der Enscheidung durch den Souverän entziehen wollen?

Wenn sie es als die Degradierung eines Themas betrachten, es mit uns, den Bürgern, im Wahlkampf zu diskutieren?

Sehen sie denn nicht, diese siebzehn Spitzenpolitiker, daß sie mit ihrer Forderung den Extremisten in die Hände arbeiten, die behaupten, in unserem Land hätten die Bürger nichts zu sagen, wenn es um die wichtigen Entscheidungen geht?



"Integrationspolitik ist so fundamental für die Zukunft unseres Landes, dass sie nicht zum Wahlkampfthema degradiert werden darf." Dieser eine, entlarvende Satz entwertet - soll ich sagen: degradiert? - in meinen Augen alles das, was in diesem Offenen Brief Vernünftiges steht. Es zeigt, welch Geistes Kind seine Autoren sind.

Eines undemokratischen Geistes sind sie, eines Geistes obrigkeitsstaatlichen Denkens, den man auf der Linken freilich erwartet. Überraschend fand ich allerdings, daß Unions- Politiker so argumentieren.

Trösten kann ich mich allenfalls damit, daß sie, diese Siebzehn, so ganz richtige Spitzenpolitiker ja vielleicht doch nicht sind.

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30. Januar 2008

Bald werden wir alle an Computern wählen. Na und?

In ein paar Jahren werden wir alle an Automaten wählen. Die alte Methode, Wahlzettel per Hand auszuzählen wie weiland die Athener die Tonscherben beim Ostrakismos, wird dann so rührend altmodisch erscheinen wie heute das "Fräulein vom Amt", das einst die Leitungen stöpselte.

Warum wird es so sein? Erstens, weil das nun einmal der Lauf der Welt ist - was eine Maschine billiger tun kann als Menschen mit ihren Händen und Köpfen, das wird eine Maschine auch tun, früher oder später. Zweitens, weil Wahlmaschinen ebenso zuverlässig sein können wie menschliche Wahlhelfer. Freilich mit ein wenig Nachhilfe von diesen.



Wenn wir in diesem Zusammenhang von "Zuverlässigkeit" sprechen, dann müssen zwei Arten der Zuverlässigkeit streng unterschieden werden:

Erstens die Zuverlässigkeit dagegen, daß versehentlich Fehler gemacht werden. Zweitens die Zuverlässigkeit gegenüber der Gefahr systematischer Manipulationen. Die Kritik des "Chaos Computer Club" am Einsatz von Wahlmaschinen in Hessen enthält Beispiele für beides: Ein Computer fiel technisch aus (Problem von Fehlern); Wahlmaschinen wurden in Privatwohnungen aufbewahrt (Gefahr der Manipulation).

Systematische Manipulationen kommen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht regelmäßig vor und werden also in der Bundesrepublik Deutschland, von seltenen Einzelfällen abgesehen, nicht vorkommen, solange nicht die Neonazis oder die Kommunisten einen Teil der Macht oder die ganze Macht erobert haben. Die Wahlbetrügereien der Kommunisten, solange sie in einem Teil Deutschlands die Möglichkeit dazu hatten, sind hinlänglich bekannt. Dazu brauchten sie aber keine Wahlmaschinen, sondern nur die Macht.

Da diese Gefahr vorerst nicht besteht, befasse ich mich jetzt nur mit der Gefahr von Fehlern, die durch Versehen, durch Irrtümer, durch Ausfälle entstehen.



Irren ist nicht nur menschlich, sondern irren ist auch sozusagen maschinlich. Mag sein, daß die meisten Fehlleistungen von Computern auf Menschen zurückzuführen sind - wenn sie auftreten, dann ist es die Maschine, die versagt, und nicht ein Mensch.

Menschen und Maschinen irrren sich aber auf unterschiedliche Art. Menschliche Irrtümer sind häufig, aber sie fallen selten extrem aus. Gut programmierte Computer irren selten, aber wenn sie ein fehlerhaftes Resultat produzieren, dann kann es leicht um Größenordnungen vom wahren Ergebnis abweichen.

Menschliche Fehler sind eher wie die Ungenauigkeit, die sich einstellt, wenn wir zum Beispiel die Höhe eines Turms zu schätzen versuchen - selten ganz genau, aber auch selten ganz daneben.

Die Fehler von Computern sind eher wie das, was passieren kann, wenn wir uns bei einer trigonometrischen Berechnung einer solchen Höhe vertun. Da kann es schon einmal passieren, daß als Höhe des Turms zwölf Zentimeter herauskommen.

So bei der Auszählung von Stimmen: Wenn aus irgendeinem Grund Wahlresultate nachgezählt werden, ergibt sich selten ganz exakt dasselbe Ergebnis wie bei der ersten Zählung. Aber meist sind die Abweichungen gering - zu gering, um den Ausgang der Wahl signifikant zu beeinflussen.

Das ist die Art, wie menschliche Fehler beschaffen sind. Ein Programmierfehler, ein technischer Fehler bei Wahlcomputern könnte hingegen dazu führen, daß sie krass falsche Resultate liefern.



Wie kann man dem begegnen? Man kann, so argumentiert Philip B. Stark von der Abteilung für Statistik der University of California at Berkeley, sich just diesen Umstand zunutze machen, daß die Fehler von Menschen und die von Computern verschieden sind. Einen Bericht über diesen Artikel brachte kürzlich Science News; die PDF-Datei können sich mathematisch Interessierte hier herunterladen.

Starks Grundidee ist, daß die Ergebnisse der maschinellen Auszählung durch Auszählungen per Hand überprüft werden sollten, daß es aber genügt, das für Stichproben zu tun.

Was er nun mathematisch untersucht, das ist die Größe der erforderlichen Stichprobe. Genauer: Die Größe der Stichprobe, die erforderlich ist, wenn man zu 99 Prozent sicher sein möchte, daß das Resultat nicht von dem abweicht, das man bei einer Auszählung per Hand bekäme.

Starks Methode ist eine sogenannte sequentielle Technik.

Zuerst wird eine Stichprobe von einem Prozent der abgegebenen Stimmen gezogen und nachgezählt. Es wird dann die Abweichung vom maschinellen Ergebnis bestimmt. Je nachdem, wie groß diese Abweichung ist, wird eine weitere Stichprobe gezogen oder die Nachzählung abgebrochen.

Entscheidend dabei ist neben der Größe der Abweichung die Wahrscheinlichkeit, daß sich aufgrund einer Nachzählung der Ausgang der Wahl ändern könnte. Der eine Extremfall ist, daß man es bei der Stichprobe von einem Prozent belassen kann (die zum Beispiel in Californien schon jetzt verlangt wird). Das andere Extrem besteht darin, daß eine vollständige Nachzählung erforderlich ist.

Dieses wäre - Stark weist das durch Berechnungen nach - zum Beispiel bei den Ergebnissen aus Florida zu den Präsidentschaftswahlen 2000 nötig gewesen, als Bush und Gore fast gleichauf lagen. Aber in der Regel ist dieser Aufwand eben nicht nötig; er würde ja auch das maschinelle Auszählen erübrigen.

Es wird also so viel nachgezählt wie nötig, aber so wenig wie möglich.

Das ist eine zugleich verläßliche und kostengünstige Methode. Der Staat Californien hatte die Untersuchung bei Stark in Auftrag gegeben, und bei den Vorwahlen in einer Woche soll sie in ausgewählten Counties erprobt werden. Funktioniert sie, dann wird sie voraussichtlich im ganzen Staat Californien Anwendung finden.

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Marginalie: Ist John McCain "unstoppable"?

Soeben - um viertel nach drei in der Nacht zum Mittwoch MEZ - hat CNN John McCain zum Sieger der Vorwahl in Florida erklärt. Nach Auszählung von gut drei Viertel der Stimmen liegt McCain bei 36 Prozent und Romney bei 31 Prozent. Giuliani, der alle seine Hoffnung (und viel von seinem Geld) auf Florida gesetzt hatte, ist mit im Augenblick 15 Prozent abgeschlagen.

Bei CNN wird nur noch darüber spekuliert, wann Giuliani das Handtuch wirft - nach dem Super Tuesday in einer Woche oder schon zuvor. Tut er es zuvor, dann könnte er sein Gewicht für einen der beiden anderen in die Waagschale werfen. Und der wäre sehr wahrscheinlich McCain.



Warum hat McCain gewonnen?

Wie immer hat Bill Schneider die Antworten analysiert, die bei den Exit Polls gegeben wurden. Ergebnisse:
  • McCain liegt bei den Wählern, die sich als gemäßigt bezeichnen, weit vor Romney (41 zu 22 Prozent).

  • Er liegt ebenfalls vorn bei den Senioren, von denen es bekanntlich viele in Florida gibt (38 zu 18 Prozent), bei den Veterans, den ehemaligen Soldaten (40 zu 35) und den Einwohnern cubanischer Herkunft (50 zu 34 Prozent für Giuliani; Romney erreichte in dieser Gruppe nur 10 Prozent).

  • Romney liegt nur in einer Gruppe deutlich vorn: Bei denjenigen Wählern, die sich als konservativ einstufen.

  • Vielleicht am Überraschendsten ist, daß Romney keine größere wirtschaftliche Kompetenz zugeschrieben wird als McCain. Im Gegenteil: Selbst bei denjenigen Wählern, für die das Thema Wirtschaft ausschlaggebend für ihre Entscheidung war, liegt McCain vor Romney (38 zu 32 Prozent).

  • Am wichtigsten aber war, so meinen Bill Schneider und das Team von CNN, die Persönlichkeit von John McCain: Viele Wähler gaben an, ihn nicht wegen seiner Kompetenz in einem bestimmten Bereich zu favorisieren, sondern weil sie in als Person schätzen.
  • McCain sei nicht mehr zu stoppen, unstoppable, wenn er erst einmal Florida gewonnen habe, meinten Leute aus seinem Stab vor dieser Wahl in Florida.

    Könnte sein. Denn er hat jetzt den großen Vorteil, daß Giuliani als Konkurrent so gut wie aus dem Rennen ist. Und in einem Zweikampf mit Romney hat McCain gute Chancen. Zumal Huckabee wohl auch nicht mehr lange wird mithalten können.

    Dann wird eine entscheidende Rolle spielen, welcher republikanische Kandidat eher in der Lage sein wird, auch unentschiedene und sogar demokratische Wähler auf seine Seite zu ziehen. Das ist eindeutig McCain. Wie die jüngsten Umfragen zeigen, könnte nur McCain sowohl Clinton als auch Obama schlagen. Romney würde gegen beide, wenn jetzt Wahlen wären, mit Pauken und Trompeten untergehen.

    Mit genau diesem Argument - der viability - haben die Demokraten vor vier Jahren John Kerry zu ihrem Kandidaten erkoren.



    Also, es könnte gut sein, daß ich mich geirrt habe, als ich fürchtete, daß McCain aufgrund seines Alters die Dynamik fehlt, die die Amerikaner von ihrem Präsidenten erwarten. Aber wie angekündigt - dieser Irrtum würde mich sehr freuen.

    Und noch ein Zitat aus der Rede, die McCain als Sieger eben gehalten hat: "We believe that the Government should do only those things that we cannot do ourselves"; wir glauben daran, daß die Regierung nur das tun sollte, was wir nicht selbst tun können.



    Nachtrag: Soeben meldet CNN, daß morgen Rudy Giuliani in Californien seinen Rücktritt als Kandidat erklären und John McCain unterstützen wird.

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    29. Januar 2008

    Zitat des Tages: "Zumindest in der Westrepublik"

    sueddeutsche.de: Ist die Linke eine koalitionsfähige, demokratische Partei?

    Schreiner: Sie ist eine demokratische Partei. Das steht für mich außer Zweifel. Wir haben ja funktionierende Koalitionen mit den Linken, beispielsweise in Berlin. Ich vertrete seit langem den Grundsatz, der eigentlich immer unstreitig war - zumindest in der Westrepublik -, dass für eine demokratische Partei im Prinzip jede andere demokratische Partei koalitionsfähig sein muss.


    Aus einem Interview mit dem Abgeordneten Ottmar Schreiner, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der SPD- Fraktion im Bundestag und ehemaliger Bundesgeschäftsführer der SPD.

    Kommentar: "Zumindest in der Westrepublik" sagt Schreiner. Hübsch gesagt, aber zu bescheiden formuliert. Denn in der Ostrepublik waren ja nicht nur alle demokratischen Parteien koalitionsfähig, sondern sie waren - SED, CDU, LDPD, DBD, NDPD - sogar in einer Koalition aller Demokraten ("Nationale Front") dauerhaft miteinander verbündet. Nicht wahr, Herr Schreiner, das war noch viel demokratischer?

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    Randbemerkung: Die Lage in Hessen ist einfach. Nebst einer Anmerkung zu Jörg-Uwe Hahn

    Kompliziert scheint mir die Lage nach den Wahlen in Hessen eigentlich nicht zu sein. Im Gegenteil, sie ist denkbar einfach:
  • Nach Paragraph 113, Absatz 2 der Hessischen Landesverfassung müssen der Ministerpräsident und die Landesregierung zurücktreten, sobald ein neugewählter Landtag erstmalig zusammentritt.

  • Dies muß nach Paragraph 83 am 18. Tag nach der Wahl geschehen.

  • Anschließend, so bestimmt es Paragraph 113, Absatz 3, führt die Regierung "die laufenden Geschäfte bis zu deren Übernahme durch die neue Landesregierung weiter".

  • Diese neue Landesregierung wird gebildet, nachdem - so bestimmt es der Paragraph 101 - der Ministerpräsident ohne Aussprache gewählt ist. Er ernennt die Minister, aber die neue Regierung "kann die Geschäfte erst übernehmen, nachdem der Landtag ihr durch besonderen Beschluß das Vertrauen ausgesprochen hat"; so Absatz 4 des Paragraphen 101.



  • Nach dem Rücktritt der Regierung Koch auf der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags wird diese also die Geschäfte zunächst weiterführen. Das Präsidium des Landtags und der Ältestenrat werden sich dann auf einen Termin für die Wahl des Ministerpräsidenten verständigen.

    Tritt Andrea Ypsilanti zu dieser Wahl an, dann wird sie gewählt werden. Sie kann das gar nicht verhindern, denn sie kann ja den Kommunisten nicht verbieten, sie zu wählen. Ihrer Regierung aus Sozialdemokraten und Grünen wird anschließend von denjenigen, die sie gewählt haben, auch das Vertrauen ausgesprochen werden.

    Entscheidet sie sich dafür, nicht anzutreten, dann bleibt Roland Koch geschäftsführend im Amt; auf unbestimmte Zeit. Inzwischen ist dann in Hamburg gewählt, inzwischen ändert sich vielleicht die gesamte politische Lage in Deutschland. Dann wird man weitersehen.



    Nun wird allerdings seit gestern von diversen Seiten versucht, die FDP unter Druck zu setzen. Das Ziel ist es, einer dritten Möglichkeit zur Realität zur verhelfen: Der Wahl einer Ministerpräsidentin Ypsilanti auch mit den Stimmen der FDP, die dann in eine Koalition mit der SPD und den Grünen hinein soll.

    Die Richtung hat wieder einmal "Spiegel Online" vorgegeben, wo gestern unter der Überschrift "Die Braut, die sich nicht traut" ein Artikel von Anna Reimann und Christian Teevs erschien, von dem man, da er nach Art des Hauses gestaltet ist, nicht weiß, ob er Berichterstattung oder Kommentar ist. Jedenfalls zerbrechen sich die Autoren darin den Kopf der FDP:
    Dabei könnte die Beteiligung an einer Regierung für die FDP eine große Chance bedeuten: Gerade in einer Koalition mit Grünen und SPD hätten die Liberalen die Möglichkeit, sich als pragmatische wirtschaftspolitische Kraft zu profilieren. Glaubwürdigkeit entsteht nicht allein durch die Demonstration von Standhaftigkeit, sondern auch durch verlässliche Regierungsarbeit. Zumal in einem so wichtigen Land wie Hessen.

    Aber nachträgliche Kritik an der klaren Festlegung der FDP auf die CDU als einzigen Koalitionspartner will in den Reihen der Liberalen deshalb öffentlich keiner der Spitzenleute äußern.
    Tja, schön blöd, die Spitzenleute der FDP, daß sie bisher nicht auf das gekommen sind, was doch ihre große Chance sein könnte.



    Sie werden nicht in diesen vergifteten Apfel beißen, die Liberalen. Sie werden das Danaergeschenk einer Regierungsbeteiligung nicht annehmen. Sie werden den Sirenenklängen nicht folgen.

    Denn was passieren würde, wenn die FDP, entgegen ihrem Versprechen, entgegen einem förmlichen Beschluß des Landesvorstands, entgegen dem, was ihr Vorsitzender Jörg-Uwe Hahn immer wieder bekräftigt hat, jetzt doch in eine Regierung Ypsilanti einträte, das liegt doch auf der Hand: Ihre Wählerschaft würde auf eine mikroskopische Größenordnung schrumpfen.

    Laut einer gestern gesendeten Umfrage für den HR haben von den bei der Nachbefragung interviewten FDP-Wählern sich gerade einmal 15 Prozent für eine Koalition mit SPD und Grünen ausgesprochen; 80 Prozent für eine Regierung zusammen mit der CDU.

    Und selbst von diesen 15 Prozent würden sich manche überlegen, ob sie noch einmal eine Partei wählen sollen, die nach den Wahlen genau diejenige Koalitions- Entscheidung trifft, die sie vor den Wahlen ausdrücklich ausgeschlossen hat. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert, bekanntlich.

    Daß jetzt der FDP Appetit auf eine Ampel- Koalition gemacht werden soll, ist der sehr durchsichtige Versuch, diese Partei unter fünf Prozent zu drücken; und zwar für unabsehbar lange Zeit.

    Darauf wird Westerwelle nicht hereinfallen. Auf diesen Leim wird schon gar nicht Jörg-Uwe Hahn gehen.



    In den Sendungen, die ich zum Wahlkampf im Hessischen Rundfunk gesehen habe, hat mich dieser Politiker ungewöhnlich beeindruckt: Jörg-Uwe Hahn, der Vorsitzende der hessischen FDP.

    Im Äußeren und im Auftreten wirkt er nicht wie ein Politiker, sondern eher wie ein konservativer Pfarrer, Professor oder Richter. Jurist ist er in der Tat, aber als Rechtsanwalt mit einer Praxis in Frankfurt. Ein Mann, der meist ernst dreinguckt, mit einer eher mageren Mimik, den Blick oft ins Leere hinter der Kamera gerichtet. Einer, der nicht beeindrucken, nicht beeinflussen will, sondern sagt, was er für richtig hält.

    Was er sagt, hat Hand und Fuß. Er redet nicht um eine Sache herum; er kennt die Fakten und nennt sie; er argumentiert rational. So war es jedenfalls in den Diskussionen und Interviews, die ich gesehen habe.

    Ausgerechnet den will man davon überzeugen, es sei eine "Chance" für die FDP, ihr Versprechen zu brechen und in eine Koalition mit Ypsilanti zu gehen?



    Oder will man Westerwelle dazu bringen, sich dem Druck auf die hessische FDP anzuschließen? "Mit dem Image eines Wortbrüchigen bräuchte er bei der Bundestagswahl 2009 erst gar nicht anzutreten", schreibt heute Claus Hulverscheidt in einem Kommentar der "Süddeutschen Zeitung".

    Allerdings meint er damit Kurt Beck, und mit "Wortbruch" eine Bruch des Versprechens der hessischen SPD, nicht mit den Kommunisten zu koalieren. Interessant, daß man sich bei der SZ, daß man sich bei SpOn dieselben Sorgen für den Fall eines Wortbruchs von Westerwelle und Hahn nicht macht.

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    28. Januar 2008

    Berliner Verhältnisse in Wiesbaden. Bald Weimarer Verhältnisse in Berlin?

    Die Wahlen in Hessen haben in Wiesbaden zu Berliner Verhältnissen, zu Bundestags- Verhältnissen also, geführt.

    Sie haben Berliner Verhältnisse ergeben, was die Stärke der Parteien im Parlament angeht: CDU und SPD gleichauf; FDP, Grüne und Kommunisten mit deutlich kleineren Fraktionen im Parlament vertreten. Eine Mehrheit weder für Rotgrün noch für Schwarzgelb.

    Sie haben Berliner Verhältnisse ergeben, was die Optionen für Koalitionen angeht: Solange es keine Zusammenarbeit mit den Kommunisten gibt, sind die drei rechnerischen Möglichkeiten die Ampel, Jamaika und die Große Koalition.



    Es gibt allerdings zwei Unterschiede zwischen der Lage in Berlin nach den Wahlen 2005 und der Lage in Wiesbaden, wie sie seit gestern Abend besteht:
  • In Berlin war eine Große Koalition, wenn auch erst nach viel Hin und Her, möglich. In Hessen ist sie so gut wie unmöglich.

    In Wiesbaden ist sie unter einer Ministerpräsidentin Ypsilanti ausgeschlossen, denn die CDU hat mehr Stimmen bekommen als die SPD.

    Sie ist mit einem Ministerpräsidenten Koch ausgeschlossen, denn die SPD würde mit ihm nicht in eine Koalition gehen.

    Sie ist auch unter einem Ministerpräsidenten Jung sehr unwahrscheinlich; denn wie will man es den hessischen Wählern vermitteln, jemanden zum Ministerpräsidenten zu wählen, der gar nicht für das Amt kandidiert hatte? (Zulässig wäre das nach Paragraph 110 der Hessischen Landesverfassung.)

  • Der zweite Unterschied betrifft die Kommunisten. Im Bundestag haben sie sich 2005 nicht dazu gemeldet, einen sozialdemokratischen Bundeskanzler mitzuwählen. In Hessen haben sie es gestern Abend getan. Wie will Frau Ypsilanti die Kommunisten daran hindern, diese Ankündigung wahrzumachen und sie zu wählen?

    Der Landeswahlleiter in Hessen, Wolfgang Hannappel, hat im Hessischen Fernsehen erklärt, wie es nach den Wahlen weitergehen wird: Der Landtag wird sich konstituieren (laut Paragraph 83 der Landesverfassung am 18. Tag nach der Wahl), es werden Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert, und dann wird ohne Aussprache gewählt. Allerdings ist nicht zwingend vorgeschrieben, daß der Ministerpräsident bereits auf dieser konstituierenden Sitzung gewählt wird.

    Aber auch wenn das erst später geschieht - wenn Koch und Ypsilanti antreten, dann wird Ypsilanti gewählt werden. Vielleicht appelliert sie zuvor an die Abgeordneten aller Parteien, sie zu wählen. Sie wird dann, einmal gewählt, sagen können, daß ja überhaupt nicht feststeht, ob sie ihre Wahl der Fraktion der "Linken" verdankt.
  • Ob es dazu kommt, daß Koch und Ypsilanti gegeneinander antreten, ist eine andere Frage. Und ob eine rotgrüne Minderheitsregierung Bestand hätte, ist auch die Frage. (Man kann ja auch die Kommunisten später ins Boot holen, so wie es seinerzeit Holger Börner mit den Grünen gemacht hat).

    Jedenfalls ist eine solche Regierungsbildung wahrscheinlicher, als daß es zu einer Großen Koalition kommt, zu einer Ampel oder zu einer Jamaika- Koalition. Insofern also ist die Situation anders als 2005 in Berlin.



    Sie ist anders, was mögliche Lösungen angeht. Sie ist nicht anders, was das Problem angeht.

    Dieses Problem ist ein altbekanntes Problem. Es ist das Problem der italienischen Nachkriegsrepublik gewesen, der Französischen IV. Republik, der Weimarer Republik.

    Dieses Problem stellt sich unweigerlich in einem Land ein, in dem es erstens das Verhältniswahlrecht gibt und in dem zweitens die Kommunisten, möglicherweise auch noch Rechtsextremisten, so stark sind, daß sie in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen.

    Denn dann ist - ich habe es hier im Vergleich zwischen der IV. Republik und der Weimarer Republik beschrieben und hier im Zusammenhang mit dem Amt des Bundespräsidenten - der Regelfall derjenige, daß weder die demokratische Linke noch die demokratische Rechte eine parlamentarische Mehrheit hat; aktuell in Deutschland also weder Rotgrün noch Schwarzgelb.

    Das kann in einem Bundesland einmal anders sein, wie jetzt in Niedersachsen. Es kann auch einmal im Bund anders sein, wenn eine besondere Konstellation existiert.

    Aber im Normalfall wird es so sein wie bei den genannten historischen Beispielen: Da weder die demokratische Rechte noch die demokratische Linke für sich allein regierungsfähig ist, müssen unnatürliche und folglich instabile, früher oder später in sich zerstrittene Koalitionen geschlossen werden. Es sei denn, die demokratische Linke verhilft den Kommunisten in die Regierung, wie vor eineinhalb Jahren in Italien, oder die demokratische Rechte verbündet sich mit den Rechtsextremen, wie sie es 1933 in Deutschland getan hat. Mit dem bekannten Ergebnis.

    Solange das in Deutschland nicht eintritt, werden wir als Regelfall zwar immerhin demokratische, aber instabile Regierungen haben.

    Es sei denn, die Union und die SPD rafften sich auf und täten das einzige, was nur eine Große Koalition kann: Das Mehrheitswahlrecht beschließen.

    Aber ich fürchte, eher würde bei uns der Codex Hammurabi eingeführt als das Mehrheitswahlrecht.

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    27. Januar 2008

    Hessen: Alles offen. Niedersachsen: Wulff regiert weiter, die Kommunisten sind drin

    Kommentare und Diskussionen dazu in "Zettels kleinem Zimmer". Siehe auch die Vorab- Analysen von C. im "Kleinen Zimmer" und von mir hier im Blog.




    Nachtrag um 23:23 Uhr: Eben wird das vorläufige amtliche Endergebnis mitgeteilt: Die CDU hat die SPD im Endspurt der Auszählung überflügelt.

    Zitat des Tages: Also sprach Barack Obama

    Don't tell me we can't change. (Cheers, applause.)
    Yes, we can. Yes, we can change.
    (Chants of "Yes, We Can! Yes, We Can!")
    Yes, we can.
    (Continued chants of "Yes, We Can!")
    Yes, we can heal this nation.


    Den gesamten Text der Rede findet man in der New York Times.

    Kommentar: Ein neuer Kennedy? Was die Jugend angeht, was die Dynamik angeht: Ja. Aber bei Kennedy gab es nicht diese Selbst- Inszenierung als der Führer der USA, als der Heiler der Nation, als der Überwinder aller Gegensätze.

    Kennedy hat zu begeistern verstanden, aber er hat nicht versucht, seine Anhänger in einen kollektiven Rausch, in einen Zustand der Verzückung zu versetzen.

    Kennedy hat den Weg zu "neuen Grenzen" versprochen. Aber er hat nicht - auch das ein Zitat aus Obamas Rede - "real leadership" versprochen, die "ability to rally Americans from all walks of life around a common purpose, a higher purpose." Wirkliche Führung. Die Fähgkeit, Amerikaner aus allen Gesellschaftsschichten um ein gemeinsames Ziel, um ein höheres Ziel zu versammeln.

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    Marginalie: The man is the message. Aspekte des Erdrutsch-Siegs von Obama

    Im Augenblick - kurz nach drei Uhr in der Nacht zum Sonntag - sind in South Carolina 93 Prozent der Stimmen ausgezählt. Daß Obama gesiegt hat, wäre ein starkes Understatement: Er führt - so meldet es die New York Times - mit 55 Prozent der Stimmen gegen 26 Prozent für Clinton und ganze 18 Prozent für Edwards, der vor vier Jahren in South Carolina gesiegt hatte.

    Der Sieg war so groß, daß CNN und zwei Agenturen ihn schon bei Schließung der Wahllokale, allein aufgrund der Exit Polls, melden konnten.

    Wie immer hat sich Bill Schneider im Studio von CNN alsbald daran gemacht, aufgrund der Exit Polls eine erste Wahlanalyse zu liefern. Er nannte als Ursachen für den Erdrutsch- Sieg Obamas:
  • Er sprach nicht nur schwarze, sondern auch weiße Wähler an; anders als Jesse Jackson , der in den achtziger Jahren dort kandidiert hatte.

  • Er sprach vor allem die Jugend an. Unter den jungen Wählern hatte er sogar bei den Weißen eine absolute Mehrheit.

  • Er sprach auch die gebildeten Schwarzen an. Von diesen war erwartet worden, daß sie der Empfehlung des "schwarzen Establishments" folgen und Clinton wählen würden.

  • Die Bemerkungen Bill Clintons über Obama ("fairy tale"), die von vielen als rassistisch verstanden worden waren, gingen nach hinten los. Zahlreiche Wähler sagten, diese Bemerkungen hätten sie bei ihrer Wahlentscheidung beeinflußt - für Obama!


  • Daß Obama gewinnen würde, war in den letzten Tagen abzusehen gewesen. Daß er rund doppelt so viele Stimmen bekommen würde wie Clinton, hatte niemand erwartet.

    CNN berichtete soeben, daß in der morgigen New York Times Caroline Kennedy, die Tochter von Präsident Kennedy, Barack Obama unterstützt. Titel: "A President like my father". Sie "springe auf den Zug auf", den Bandwagon, bemerkte dazu einer der Journalisten im CNN-Studio.

    Wenn für einen Kandidaten erst einmal ein Bandwagon rollt, dann hat er beste Chance, am Ende auch nominiert zu werden. Allerdings: Die Gewerkschaften und das Establishment der Demokratischen Partei unterstützen weiter Hillary Clinton. Und am übernächsten Dienstag, dem Super Tuesday, könnte sich das immer noch als entscheidend erweisen.



    Eben spricht Obama. Eine Predigt mehr als eine Rede. Er bringt die Zuhörer in einen Zustand der Verzücktheit. Er bringt sie dazu, gemeinsam immer wieder zu rufen "Yes, we can", als seien sie auf einem Motivations- Seminar.

    "The medium is the message" war einmal ein beliebter Spruch, von dem Medienforscher Marshall McLuhan geprägt, das Medium sei die Botschaft. Für Obama gilt: The man is the message.

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    Marginalie: Ronald Reagans Steuern und das Romney-Wispern im Web

    Als ich vergangene Nacht nach "Romney whisper" gegoogelt habe, gab es 49 Fundstellen. Aktuell sind es 6.480.

    So breiten sich Themen im Web aus. So breitet sich ein Thema aus, das an Albernheit, an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist.

    Donnerstag Abend hatte es eine dieser TV-Debatten zwischen den republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaft gegeben. Mitt Romney hatte sich zu Ronald Reagan bekannt, und da hatte nun ein Journalist namens Mike Russert, der die Debatte moderierte, eine etwas gemeine Frage an Romney gestellt:

    "Governor Romney, you are a big fan of Ronald Reagan. Will you do for Social Security what Ronald Reagan did in 1983?" Romney sei doch ein großer Fan von Reagan. Ob er zugunsten der Sozialversicherung das tun werde, was Ronald Reagan 1983 getan habe.

    Gemein war die Frage deshalb, weil Reagan, eigentlich ein Befürworter von Steuersenkungen, damals die Steuern erhöht hatte. Romney ging aber, so schien es jedenfalls, nicht in die Falle, sondern antwortete, er werde keine Steuern erhöhen.



    So weit, so gut. Nun fiel aber einem Blogger - wer der erste war, habe ich nicht herausgefunden - etwas auf: Unmittelbar bevor Romney antwortet, hört man in der Aufzeichnung ein Wispern. Und diese Flüsterstimme sagt: "He raised taxes", er erhöhte die Steuern. (Nachdem die Sache die Runde in der Blogosphäre gemacht hatte, gab es auch andere Lesarten, zB "Don't raise taxes". Es war halt geflüstert).

    Tja, und nun wissen Sie - falls Sie die Story nicht ohnehin schon kennen -, wie es weiterging. War da nicht schon einmal, es war im Jahr 2004, die Geschichte mit Präsident Bush gewesen, auf dessen Rücken sich unter dem Sakko ein Kasten abgezeichnet hatte, ganz eindeutig ein Empfangsgerät für Einflüsterungen, damit der Dumme nicht allzu dumme Antworten gab?

    Also, offensichtlich hatte da auch jemand Romney eingeflüstert. Jedenfalls breitete sich das im Web aus wie ein Präriefeuer. In einem Blog des Internet- Auftritts der Demokratischen Partei schrieb Bob Fertik zum Beispiel am 25. Januar um 22:05 Uhr:
    Romney Cheats With an Earpiece!

    Well folks that's it for the Mittster - he was caught on tape with an earpiece! Listen for yourself as someone whispers "he raised taxes" (...) Call every radio and TV talk show you can and tell them to play this on the air! Let's expose Romney to the world as the fraud that he is.

    Romney betrügt mit einem Ohrhörer!

    Liebe Leute, das war's für Mittster [Mitt Romney] - er wurde auf dem Tonbandmitschnitt mit einem Ohrhörer erwischt! Hört selbst, wie jemand flüstert "Er erhöhte die Steuern" (...) Ruft alle Radiostationen und TV-Talkshows an, die ihr erreichen könnt, und sagt ihnen, sie sollen das senden! Laßt uns Romney für alle Welt als den Betrüger entlarven, der er ist.
    Andere Blogs waren ein wenig zurückhaltender, aber diskutiert wurde die Theorie, daß Romney mit einem kleinen Mann im Ohr seine Diskussion bestritten habe, quer durch die Blogosphäre. Schnell waren Namen wie "Romney Whisper" oder gar "Romney Mystery" im Umlauf. Auch die deutsche Blogosphäre erreichte das Thema in der Nacht zum Samstag.



    Now wait a minute. Nehmen wir einmal an, Romney hätte einen gut verborgenen Ohrhörer getragen, der ihm die Antworten auf die Fragen der Journalisten zuflüsterte - wie in aller Welt hätte denn das Mikrofon, in das Romney sprach, dieses Geflüster tief in Romneys Ohr aufzeichnen sollen? Und wieso nur das Geflüster zu dieser einzigen Frage?

    Nun, vielleicht hat der Helfer ja nur einmal geflüstert. Und vielleicht wurde das Geflüster gar nicht über Schallwellen aufgenommen, sondern, wer weiß, wer weiß, "somehow the transmission to Romney from his assistant got picked up", irgendwie wurde die Übertragung von dem Assistenten an Romney aufgefangen, wie "Mogie" von Greenpassion.org vermutet.

    Und falls jemand herausfinden sollte, daß auch das technisch nicht gut möglich ist, dann werden die Verschwörungs- Theoretiker eben etwas anderes vermuten; vielleicht war es ja der Schutzengel des Mormonen Romney, dessen Flüstern auf die Tonspur der Aufzeichnung geriet.



    Während ich dies schrieb, lief im Hintergrund auf Al Jazeera ein Interview mit dem Astronauten Edward "Buzz" Aldrin, einem der beiden ersten Menschen auf dem Mond. Er wurde gegen Ende des Interviews nach dem "Moon Hoax" gefragt. Seine Antwort: So etwas werde es immer geben. Es werde immer Menschen geben, die jeden Unsinn verbreiteten, nur um zu zeigen, wie schlau sie selbst seien, und wie dumm die Mehrheit ihrer Mitbürger.

    Und was war nun wirklich geschen? Der Sender NBC, von dem die Aufzeichnung stammt, hat es untersucht und inzwischen die Erklärung gefunden: Wie es oft passiert, war versehentlich nicht nur das Mikrofon Romneys eingeschaltet, als dieser zur Antwort ansetzte. Sondern es war auch noch ein Mikrofon im Publikum aktiviert. Und in dessen Nähe hatte jemand, der offenbar politisch gut informiert war, auf die Frage des Journalisten Russert hin gesagt, vielleicht zu seinem Nachbarn: "He raised taxes".

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    26. Januar 2008

    Zitat des Tages: Giulianis "atemberaubende Arroganz"

    The real Mr. Giuliani, whom many New Yorkers came to know and mistrust, is a narrow, obsessively secretive, vindictive man (...). Mr. Giuliani’s arrogance and bad judgment are breathtaking. (...) The Rudolph Giuliani of 2008 first shamelessly turned the horror of 9/11 into a lucrative business, with a secret client list, then exploited his city’s and the country’s nightmare to promote his presidential campaign.

    (Der wahre Giuliani, den viele New Yorker kennen und dem sie zu mißtrauen gelernt haben, ist ein engstirniger, zwanghaft geheimniskrämerischer, abwehrender Mensch (...). Giulianis Arroganz und sein schlechtes Urteil sind atemberaubend. (...) Der Rudy Giuliani von 2008 machte aus dem Horror von 9/11 erst ein lukratives Geschäft, mit einer geheimen Kundenliste, und beutete dann den Alptraum seiner Stadt und seines Landes zur Förderung seiner Kampagne für die Präsidentschaft aus). - Die New York Times gestern in einem Editorial, in dem sie ihre Untertützung für John McCain als republikanischen Kandidaten erklärte.

    Eine Kommentatorin von CNN meinte dazu, bei den Republikanern könne Giuliani nichts Besseres passieren, als von der in diesen Kreisen verhaßten New York Times heruntergemacht zu werden. So, wie McCain sich alles andere gewünscht haben dürfte, als von der New York Times zu deren Lieblings- Republikaner ernannt zu werden.

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    25. Januar 2008

    Hessenwahl: Eine ungewisse, eine wichtige Entscheidung

    Die Wahl in Hessen verspricht ungewöhnlich spannend zu werden. Erstens wegen der Bedeutung des Wahlausgangs. Zweitens wegen seiner Unsicherheit.



    Diese Unsicherheit hat eine Reihe von Ursachen. Allgemeinere Faktoren, die aber bei dieser Wahl zusammentreffen:
  • Schon seit einiger Zeit beobachten die Demoskopen eine wachsende Zahl von "Verweigerern", also von Personen, die ein Interview ablehnen. Sie fallen bei den meisten Instituten für die ermittelten Rohdaten (die "gemessenen Werte") einfach unter den Tisch. An sich wäre es richtig, wenn die Institute auch den Prozentsatz der Verweigerer publizieren würden; aber das machen sie im Allgemeinen nicht.

    In die gewichteten Daten ("Projektion") gehen die Verweigerer insofern ein, als man Erfahrungswerte hat, wie hoch deren Prozentsatz bei den Anhängern der einzelnen Parteien ist. Er ist zum Beispiel bei Rechtsextremen besonders hoch. Das wird bei der Gewichtung berücksichtigt. Wenn sich aber der Anteil der Verweigerer ändert, dann fehlen gute Erfahrungswerte, und die Gewichtung wird unsicherer.

  • Die Wahlentscheidung wird diesmal in Hessen ungewöhnlich stark von aktuellen Schwankungen in der Stimmung der Wähler bestimmt.

    Roland Kochs Thema "Jugendkriminalität" kam zuerst gut an, bis er die Eselei beging, es auf Kinder auszudehnen und damit eine Abwehrreaktion auszulösen. Die Frage einer möglichen Zusammenarbeit der SPD mit den Kommunisten spielte lange kaum eine Rolle und wurde erst in den letzten Tagen zu einem Wahlkampfthema. Der persönliche Vorsprung Kochs vor Ypsilanti schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne und verkehrte sich schließlich ins Gegenteil.

    An welcher Stelle das Pendel in dieser Hin- und Herbewegung am 27. Januar gerade angekommen sein wird, ist kaum zu prognostizieren. Es kann noch eine Veränderung in letzter Minute geben, ähnlich derjenigen, die kürzlich bei den Vorwahlen von New Hampshire Hillary Clinton nach vorn gebracht hat.

  • Der dritte Unsicherheitsfaktor ist die Wahlbeteiligung. Bei einer geringen Wahlbeteiligung ist das Ergebnis besser zu prognostizieren, denn dann gehen nur die politisch Interessierten zur Wahl, die weniger zum Verweigern tendieren und die ihre Wahlentscheidung auch weniger von Stimmungen abhängig machen.

    Wenn aber - wie jetzt nach einem hitzigen Wahlkampf - mit einer hohen Wahlbeteiligung zu rechnen ist, dann wird das Ergebnis auch von denen mitbestimmt, die französische Wahlforscher le marais nennen, den Sumpf. Menschen, die heute vielleicht selbst noch nicht wissen, wo sie am Sonntag ihr Kreuz machen werden.



  • Die Bedeutung des Wahlausgangs hat ebenfalls verschiedene Aspekte:
  • Erstens ist Hessen seit langem ein zwischen SPD und CDU umkämpftes Bundesland. Es war einmal, unter Georg August Zinn, Albert Osswald und Holger Börner, das "rote Musterländle", so sicher in der Hand der SPD wie Bayern in der Hand der CSU. Es wurde dann, unter den Parteivorsitzenden Alfred Dregger und Walter Wallmann, der es auch zum Ministerpräsidenten brachte, die Hochburg einer besonders konservativen CDU, wie auch jetzt wieder unter Koch. Dazwischen war Hessen, mit Hans Eichel als Ministerpräsidenten, wieder von der SPD regiert worden.

    Immer, wenn Hessen zur anderen Seite hin kippte, hatte das eine bundesdeutsche Signalwirkung. So würde es auch diesmal sein, wenn Ypsilanti siegen sollte.

  • Hinzu kommt zweitens, daß das Kippen diesmal nicht einfach der Wechsel von einer CDU- Regierung zu einer von der SPD geführten wäre. Sondern zugleich würde es möglicherweise in Westdeutschland die erste Regierung geben, an der die Kommunisten, in welcher Form auch immer, beteiligt wären.

    Frau Ypsilanti hat inzwischen so laut gesagt, sie werde nicht mit der Linkspartei "zusammenarbeiten", daß eine Koalition mit ihr oder ein formaler Duldungsvertrag wohl nicht, jedenfalls nicht gleich nach den Wahlen, in Frage käme. Aber da ist ja noch das Kleingedruckte.

    Der Wahlkampfleiter der Kommunisten, Bodo Ramelow, hat sich heute im "Morgenmagazin" der ARD im Interview mit Werner Sonne auf eine nachgerade lächerliche Weise gewunden, als er sagen sollte, ob denn seine Partei zu einer Koalition oder zur Duldung bereit sei. Was er aber ziemlich klar andeutete, das war die Bereitschaft, Frau Ypsilanti zu wählen.

    Und das würde dieser ja reichen. Sie kann mit dem Wahlgeheimnis argumentieren; sie kann sagen, daß sie sich ja nicht dagegen wehren kann, wenn jemand sie wählen will. Und einmal gewählt, kann niemand ihr eine stillschweigende Zusammenarbeit mit den Kommunisten verwehren.

    Sollte es dazu kommen - und es wird wohl dazu kommen, wenn Schwarzgelb keine Mehrheit erreicht, denn alle anderen Koalitionen wären abenteuerlich -, dann hätte Hessen wieder eine Vorreiterrolle für den Bund, ähnlich wie Mitte der achtziger Jahre.

    Damals hatte im Wahlkampf 1984 Holger Börner die Grünen heftig attackiert, jede Zusammenarbeit mit ihnen vehement ausgeschlossen und ihnen Prügel mit der "Dachlatte" angedroht. Als die SPD keine Mehrheit erreichte, ließ er sich von den Grünen zum Ministerpräsidenten mitwählen, ohne zunächst formal mit ihnen zu koalieren. 1985 war es dann soweit. Mitten in der laufenden Legislatur- Periode wurden aus den Duldern Mitregierende, und Joschka Fischer leistete in Turnschuhen seinen Amtseid als Minister.
  • Diesen Ablauf von vor gut zwanzig Jahren wird man jetzt wohl in Hessen eifrig studieren; besonders eifrig in den Vorständen der SPD und der Kommunisten.

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    Zettels Meckerecke: Brandenburger Amnesien

    Wer kennt sich wohl besser in der französischen Geschichte aus, deutsche oder französische Schüler? Dumme Frage, werden Sie sagen, natürlich die französischen.

    Geschenkt. Und die Schüler in London werden sich doch wohl besser in britischer Geschichte auskennen als die in Berlin, und die in Italien besser in italienischer Geschichte als ihre Altergenossen in Frankreich. Wie auch anders.

    Sehr wohl auch anders. Denn - so berichtete es die "Süddeutsche Zeitung" gestern - in der Geschichte der DDR kennen sich bayerische Schüler besser aus als die in Ostdeutschland:
    Bayerns Schüler sind über die Geschichte der DDR besser informiert als Gleichaltrige in Ostdeutschland. Der Vorsprung ist sogar so groß, dass bayerische Hauptschüler über einen größeren Kenntnisstand verfügen als Gymnasiasten in Brandenburg. (...) "Von allen Schülern wissen die bayerischen am meisten und sehen die DDR am kritischsten", sagt Studienmacher Klaus Schroeder.
    "Studienmacher" ist Schroeder als Leiter einer umfangreichen Untersuchung des Forschungsverbunds SED-Staat der FU Berlin, in der Schüler aus NRW, Brandenburg, Berlin und Bayern über ihre Kenntnisse der DDR-Geschichte und der Verhältnisse in der DDR befragt worden waren.



    Gewiß, bayerische Schulen sind besser als die in Brandenburg und Berlin. Aber daß sogar bayerische Hauptschüler über das, was sich in Brandenburg vor zwei, drei, vier Jahrzehnten zugetragen hat, mehr wissen als Gymnasiasten in Brandenburg - das ist doch schon bemerkenswert. Und es dürfte nicht allein an dem allgemeinen Bildungsgefälle liegen, das zwischen einem von der CSU regierten Bundesland und einem Teil Deutschlands besteht, in dem jahrzehntelang die Kommunisten herrschten.

    Man hat von den fünfziger Jahren immer wieder behauptet, damals sei man im Geschichtsunterricht nicht "bis zum Dritten Reich gekommen". Ich bin damals zur Schule gegangen und kann das aus meiner Erfahrung überhaupt nicht bestätigen; wir wurden - und zwar in verschiedenen Bundesländern, in denen ich aufs Gymnasium ging - sogar sehr eingehend über die Nazis und ihre Verbrechen informiert.

    Aber wie dem auch sei - die Art, wie die Schüler in Bundesstaaten, die einmal Teil der DDR waren, über diese DDR im Unklaren gelassen werden, ist ein Skandal; auch wenn es in CDU- regierten Ländern wie Sachsen, die offenbar nicht in die Untersuchung einbezogen waren, besser sein mag. Zumindest die Schüler in Brandenburg und in Berlin leben, was die Geschichte der DDR angeht, in einem Tal der Ahnungslosen. Brandenburger Amnesien.



    Warum ist das so? Die DDR-Kommunisten haben in den fünfziger Jahren der Bundesrepublik unterstellt, in ihrer würde die Geschichte der Nazizeit bewußt nicht gelehrt, weil die alten Nazis dort immer noch an der Macht seien. Soll man jetzt diese Behauptung an ihre Urheber zurückreichen und die Brandenburger Amnesie damit erklären, daß dort immer noch ein Großteil der Lehrer, vermutlich auch manche der für die Lehrpläne Verantwortlichen, auch dem real existierenden Sozialismus schon als Pädagogen gedient hatten?

    Ich weiß es nicht. Daß für die Brandenburger Amnesien diejenigen verantwortlich sind, die unter dem SED- Regime gelitten und die in der DDR für Freiheit und Demokratie gekämpft haben, erscheint mir jedenfalls unwahrscheinlich.

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    Marginalie: Prima Leichen aus China

    Eine Show namens "Körperwelten", die dem staunenden Publikum hergerichtete Leichen und Leichenteile zeigt und die vor ein paar Jahren in Deutschland Aufsehen erregte, hat offenbar Nachahmer gefunden. Eine Firma namens Premier Exhibitions Inc. läßt nicht weniger als zehn solche Shows durch die USA tingeln. Daneben ist auch "Körperwelten" in den USA unterwegs.

    Das entnehme ich der gestrigen Los Angeles Times. Der Anlaß für den Artikel ist ein Gesetzgebungsverfahren in Kalifornien, das das Abgeordnetenhaus passiert hat und jetzt dem Senat zugeleitet wurde.



    Ich habe dieses Ausstellen von Verstorbenen, die in allerlei Weisen präpariert wurden, immer ausgesprochen widerlich gefunden.

    Erstens, weil die Erfurcht vor den Toten, auch ihrem Körper, allen menschlichen Kulturen eigen ist. Man könnte sie geradezu als ein Merkmal der menschlichen Kultur bezeichnen. Verstorbene Menschen sind keine Schauobjekte. Sie als solche zu behandeln durchbricht etwas tief Menschliches, die Pietät. Es ist ja nicht eine Beliebigkeit, daß die Störung der Totenruhe ein strafbares Delikt ist.

    Zweitens war diese Show, die ein selbsternannter "Plastinator" namens Gunther von Hagens (geborener Gunther Gerhard Liebchen) präsentierte, von einem Dunstkreis der Heuchelei umgeben. Sie appellierte ganz offensichtlich an dieselbe Schaulust, die früher die Kirmesbesucher in die "Monstrositäten- Kabinette" zog, wurde aber als Kunst und gar als wissenschaftliche Aufklärung präsentiert.



    Jetzt also ist dieses "Plastinieren" offenbar in den USA groß in Mode gekommen. Nicht nur die zehn Leichen- Shows von Premier Exhibitions Inc. sind unterwegs, sondern als Hauptkonkurrent bietet auch von Hagens' "Körperwelten" seine Leichen an. Man war bereits 2004 in Los Angeles und will dort wieder im kommenden März im Exhibition Park, nun ja, gastieren.

    Daß sich jetzt der Kongreß des Bundesstaats Kalifornien mit der Sache befaßt, geht auf eine Gesetzsinitiative der Abgeordneten der Demokratischen Partei Fiona Ma zurück, die darauf hinweist, daß "many entrepreneurs are using plastination to make outrageous profits by dissecting, mutilating and parading unwilled bodies around the world and in our state"; daß "viele Unternehmer die Plastination benutzen, um himmelschreiende Profite zu machen, indem sie ohne Einwilligung Leichen zerlegen und verstümmeln, um sie rund um die Welt und auch in unserem Staat zu präsentieren."

    Wohl gesprochen. Die Abgeordnete Ma ist chinesischer Abstammung, und Premier Exhibitions Inc. gibt ganz offen zu, daß seine Leichen aus China stammen. Was Gunther von Hagens angeht, so hat er zwar auch in China plastiniert, erklärt aber, er zeige keine Leichen aus China. Zumindest scheint nicht ganz sicher zu sein, daß das immer so gewesen ist.

    Die Abgeordnete Ma, mit der chinesischen Kultur vertraut, weist darauf hin, daß in China die Körper Verstorbener mit außerordentlicher Ehrfurcht behandelt werden und daß man sich mit dem Schicksal des eigenen Körpers nach dem Tod beschäftigt; beispielsweise gibt es nur wenige freiwillige Organspender. Daß ausgerechnet Chinesen ihre Einwilligung gegeben haben sollten, nach íhrem Tod einem gaffenden Publikum zur Schau gestellt zu werden, erscheint ihr sehr unplausibel.

    Das Gesetz, das jetzt das Abgeordnetenhaus mit den Stimmen aller 54 Abgeordneten passiert hat, sieht vor, daß derartige Ausstellungen von den Behörden der jeweiligen County genehmigt werden müssen und daß die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn die Betreiber der Ausstellung eine schriftliche Erklärung der betroffenen Personen oder ihrer nächsten Angehörigen vorlegen, daß sie mit einer Plastination und Ausstellung ihrer Körper einverstanden waren.



    Daß man in Kalifornien in dieser Weise gegen die Geschäftemacherei mit Leichen vorgeht, finde ich ausgezeichnet. Allerdings frage ich mich, wie man denn wohl prüfen will, ob die Person, von der eine solche Einwilligung vorgelegt wird, mit dem Gebilde aus "plastinierten" Knochen, Muskeln, inneren Organen, Blutgefäßen identisch ist, das zur Schau gestellt wird.

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    24. Januar 2008

    Zettels Meckerecke: Agitprop, Agitprop, Agitprop. Mal wieder etwas zu "Spiegel Online"

    Unter der Überschrift "Ich, ich, ich" steht gegenwärtig in "Spiegel Online" ein - ja was? Soll man es einen Bericht nennen? Soll man es einen Kommentar nennen? Es ist keines von beiden.

    Es ist kein Bericht, denn es wimmelt darin nur so von Wertungen, von herabsetzenden Formulierungen.

    Es ist kein Kommentar, denn der Autor nennt an keiner Stelle explizit seine Meinung. Er äußert auch, wie es ein Kolumnist vielleicht täte, keine Vermutungen, stellt keine Analyse an, liefert keine Hintergrund- Informationen.

    Es ist auch, obwohl es um eine TV-Sendung geht, keine TV-Kritik, denn auf die Qualität der Sendung, auf die Leistung des Moderators wird mit keinem Wort eingegangen.

    Wie also sollte man ein derartiges journalistisches Produkt nennen? Mir fällt nur eine Bezeichnung ein; vielleicht weiß jemand ja eine bessere: Agitprop.



    Wäre es ein Bericht, dann könnte man als Thema nennen: Carsten Volkery, Redakteur im Berliner Büro von "Spiegel Online", berichtet über ein Interview, das Frank Plasberg mit Wolfgang Clement geführt hat und das in der Sendung "Hart, aber fair" gestern Abend in der ARD ausgestrahlt wurde.

    Es war ein kurzes Interview von ein paar Minuten; seinen Inhalt könnte man in ein wenigen Absätzen zusammenfassen. Aber darüber, was Clement nun eigentlich gesagt hat, erfährt man von Carsten Volkery nur ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Sätze. Man erfährt auch wenig über das Umfeld, die Hintergründe dieses Interviews; zum Beispiel die innerparteilichen Kämpfe in der SPD um die Linie der Partei und mögliche Koalitionen.

    Ja, womit füllt denn Volkery eigentlich die mehr als hundert Zeilen, die der Artikel immerhin lang ist? Mit Sätzen wie:

    "Allein gegen die SPD - in dieser Rolle fühlt sich Ex-Minister Wolfgang Clement am wohlsten."

    "Rache kann so süß sein."

    "Dass die SPD Amok lief, nachdem ihr früherer Parteivize am Sonntag zur Wahl des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) aufrief, kommt Clement wie gerufen. Endlich mal wieder 'News of the town'."

    "Eine schlüssige Erklärung, warum er sich ausgerechnet eine Woche vor der Wahl mit einer Attacke auf Ypsilanti zu Wort meldet, liefert Clement nicht."

    "Dass die Partei im Moment andere Sorgen hat, ist ihm schlicht - egal. Deshalb sind die Parteifreunde auch mit der Geduld am Ende."



    Und so fort. Das sind Sätze, deren Informationswert nahe Null liegt. Es sind auch keine kommentierenden Sätze; Volkery äußert ja gar keine eigene Meinung. Es ist Agitprop. Es ist der Versuch, dem Leser einen negativen Eindruck von Wolfgang Clement und seinem Auftritt in diesem Interview zu vermitteln.

    In den siebziger Jahren hat die SPD in NRW vor wichtigen Wahlen eine Zeitung namens "ZaS" (Zeitung am Sonntag) produziert, die am Sonntag Vormittag von Parteihelfern an die Haushalte verteilt wurde. Sie war natürlich - das war ihr Zweck, sie war ja ein Mittel des Wahlkampfs - vollkommen parteilich und sollte den Lesern die Ereignisse der vorangegangenen Tage, vor allem auch TV-Sendungen, so darstellen, wie die Partei sie gesehen haben wollte. Es war Agitprop. Völlig legitim und als solche sofort erkennbar.

    Journalisten wie Volkery veranstalten dasselbe, aber sie geben nicht zu erkennen, daß es Agitprop ist. Und der Chefredakteur deckt das; unterbindet es jedenfalls nicht.

    Dieser Chefredakteur, Matthias Müller von Blumencron, war - ich habe das damals kommentiert - schon im November als Nachfolger von Aust in der Chefredaktion des gedruckten "Spiegel" im Gespräch. Er schien danach aus dem Rennen zu sein. Die aktuellen Berichte sehen ihn wieder als einen von zwei Chefredakteuren in einer kollektiven Führung des "Spiegel".

    Wie sich dann der "Spiegel" entwickeln dürfte - davon geben Texte wie der von Volkery einen Vorgeschmack.

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    Zitat des Tages: Etwas aus der rabbinischen Tradition

    Dans la tradition rabbinique, l'humour est une manière de ne pas faire peser sur l'autre la dimension tragique de notre existence. C'est la fine pointe spirituelle de la charité.

    (In der rabbinischen Tradition ist der Humor eine Art und Weise, wie man auf dem anderen nicht die tragische Dimension unserer Existenz lasten läßt. Das ist die subtile spirituelle Pointe der Barmherzigkeit). - Der französische Großrabbiner Gilles Bernheim im Gespräch mit dem Kardinal- Erzbischof von Lyon Philippe Barbarin. Das Zitat findet man im Leitartikel von Jean Daniel im aktuellen Nouvel Observateur.



    Sollte, müßte ich begründen, warum ich das als "Zitat des Tages" ausgesucht habe?

    Erstens, weil darin eine tiefe, im doppelten Sinn "menschliche" Wahrheit ausgedrückt ist. (Woody Allan ist sozusagen diese Wahrheit, fleischgeworden).

    Sodann, weil ich auf den Kommentar von Jean Daniel aufmerksam machen möchte, in dem (im dritten Abschnitt) Kluges über den christlich- jüdischen Dialog steht.

    Und drittens, weil dies einmal wieder ein Beispiel für das Niveau der französischen Publizistik ist. Der Nouvel Observateur hat in Frankreich die Position, die der "Spiegel" in Deutschland hat. Könnte man sich vorstellen, daß der Chefredakteur oder ein Herausgeber des "Spiegel" einen wöchentlichen Leitartikel schreibt, in dem neben politischen regelmäßig auch philosophische, religiöse, literarische Themen behandelt werden?

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    Wie wird der Sozialismus mit venezolanischem Antlitz aussehen?

    Man könnte es fast rührend nennen, wenn es nicht so gefährlich wäre: Wie jetzt die Hoffnung aller, die unverdrossen an den "wahren Sozialismus" glauben, sich auf Hugo Chávez und seinen für Venezuela und ganz Lateinamerika geplanten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" richten.

    So, wie in den sechziger und siebziger Jahren erst die Machtergreifung Castros, dann der "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" des Prager Frühlings und schließlich, besonders heftig, die "Kulturrevolution" in China derartige Phantasien weckte, so ist jetzt Venezuela die Projektionsfläche derer, die immer noch überzeugt sind, der Sozialismus sei eine prima Sache, eine unausweichliche Sache dazu, die bisher nur irgendwie falsch angepackt wurde.

    Besonders bekannt geworden ist von diesen Träumern an südamerikanischen Gestaden der deutsche Professor Heinz Dieterich oder auch Dieterich Steffan. Aber er ist bei weitem nicht der einzige.

    Gemeinsam mit dem Namen von Heinz Dieterich finden wir hier den von Paul Cockshott. Wie Dieterich ist Cockshott ein kommunistischer Theoretiker, der seine Theorien gern in Venezuela in die Tat umgesetzt sehen würde. Er ist eigentlich Informatiker, sieht sich als Kommunist aber auch als für Ökonomie zuständig und vertritt - man kann es hier (PDF) in seinen Kommentaren zu Dieterich nachlesen - eine "wertbasierte Wirtschaft" als Modell für den Übergang zum Kommunismus. Das "wert" in dieser Bezeichnung bezieht sich auf die Arbeitswert- Theorie, die Marx von Ricardo übernommen hat.

    Wie das im einzelnen in Venezuela aussehen soll, das konnte man vorgestern und gestern in der "Jungen Welt" lesen.

    Wer sich das "Dschungelkamp" angetan hat und danach immer noch nach Horror verlangt, dem empfehle ich dringend die Lektüre dieser Artikel. Oder, falls die Zeit dazu nicht reicht, die Lektüre der folgenden Zusammenfassung:
  • Zuerst stellt Cockshott fest, welche Mängel der venezolanische Sozialismus noch hat: "Die venezolanische Wirtschaft beruht immer noch auf Geld. (...) In Venezuela wird, im Unterschied etwa zur UdSSR, die Versorgung mit den meisten Gütern und Diensten über den Markt reguliert. (...) Der größte Teil der venezolanischen Wirtschaft ist ... immer noch privat". An diesen Mängeln also gilt es nach Cockshott anzusetzen:

  • Erstens verlangt er eine Währungsreform. In Venezuela gebe es eine beträchtliche Inflation, was an sich nicht schlimm sei, denn am "härtesten von einer Inflation getroffen ist die Klasse der Rentiers (...). Da diese Leute in der großen Mehrheit Gegner des Sozialismus sind, bräuchte sich eine sozialistische Regierung um deren wie auch immer geartete finanzielle Verluste nicht zu sorgen". Allerdings sei die Inflation aus anderen Gründen von Nachteil, denn die "Ungewißheit über künftige Preise führt auch zu psychischer Instabilität in der Bevölkerung und oft zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Regierung. Diese Ungewißheit spielte eine Rolle beim Untergang der UdSSR."

    Also soll etwas gegen die Inflation getan werden. Wie? Nun, ganz einfach. Es wird ein "an Arbeitsstunden gebundener Bolívar" eingeführt (wir erinnern uns: "wertbasierte Wirtschaft"). Statt ein Geldwert soll, so stellt es sich Cockshott vor, auf dem Geldschein stehen, wieviel Arbeitsstunden oder - minuten er wert ist. "Dieser Schritt wäre ein Akt revolutionärer Pädagogik. Den Unterdrückten würde eindeutig dargelegt, wie das bestehende kapitalistische System in Venezuela sie betrügt".

  • Als Nächstes werden Arbeitszeitkonten eingerichtet. "Sobald ein System der Arbeitszeitkonten existiert, könnte ein rationales Planungssystem entwickelt werden."

  • Sodann werden Zinsen abgeschafft. Denn es ist "... klar, daß eine Regierung, die ernsthaft auf einen Sozialismus orientiert, irgendwann in eine Situation kommt, das Verleihen von Geld gegen Zinsen durch ein Gesetz zu verbieten."

  • Aber wo kommen Investitionsmittel her, wenn man keinen Kredit mehr aufnehmen kann? Ganz einfach - aus Steuern! "Borgen hat ... keine Funktion für eine sozialistische Regierung. Ihre Ökonomie muß sich deshalb zur Finanzierung von Investitionen hauptsächlich auf Steuereinnahmen stützen".

  • Wie sieht es mit der Verstaatlichung von Grund und Boden aus? Unser Autor denkt politisch: "In der gegenwärtigen Situation ist in Venezuela die Verstaatlichung des Bodens politisch vielleicht nicht opportun, weil es die kleinen Bauern in eine Allianz mit den Großgrundbesitzern treiben könnte". Ja, das könnte sein; denn die kleinen Bauern erhoffen sich naiverweise von Chávez ja gerade Unterstützung.

    Was tun? Ja, natürlich, man macht es über konfiskatorische Steuern: "... für umfangreichere und fruchtbarere Ländereien könnte ein Steuerniveau angesetzt werden, das den größeren Teil der Renteneinnahmen des Großgrundbesitzers konfisziert. Die Wirkung ... käme einer Verstaatlichung gleich."

  • Und weiter geht's mit der Entmachtung der Kapitalistenklasse: Wenn konfiskatorische Steuern noch nicht reichen, nimmt man den Reichen einfach ihr Vermögen via Währungsreform: "Gäbe es eine begrenzte Summe der alten Währung, die jeder Staatsbürger in neue Bolívar wechseln könnte ..., dann ... würde die gesellschaftliche Macht der Kapitalistenklasse sehr reduziert."
  • Klingt gut, nicht wahr? Paul Cockshott jedenfalls ist zufrieden mit seinen Ideen: "Mit der hier entwickelten Politik wäre ein gutes Stück des Weges der Umwandlung der Wirtschaft in eine sozialistische zurückgelegt."



    Lohnt es sich, einen solchen Stuß überhaupt zur Kenntnis zu nehmen? Sollte man dem Mann nicht raten, sich erst mal mit Nationalökonomie zu befassen und sich dann wieder zu melden?

    Nein, ich fürchte, der Fall ist ernster. Leute wie Dieterich und Cockshott sind ja keine Dummköpfe. So wenig, wie Hohlwelt- Theoretiker oder andere versponnene Sektierer.

    Nur haben sie, anders als diese, die reale Chance auf einen Zugang zur Macht.

    Dieterich hat offenbar das Ohr von Chávez. Auch Cockshott hat, wie er schreibt, im Juni letzten Jahres an einem Workshop über den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela teilgenommen und wurde dort aufgefordert, seine Ideen für Venezuela zu Papier zu bringen.

    Es besteht also die Gefahr, daß die Pläne solcher Leute tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden. Genauer: Daß die Machthaber Venezuelas das versuchen. Da es natürlich nicht funktionieren wird, ist das absehbare Ergebnis eine ganz normale totalitäre Diktatur, ein weiterer Fall von real existierendem Sozialismus.

    Also, ich empfehle, Texte wie den von Cockshott zur Kenntnis zu nehmen; darum dieser Artikel. Wir werden dann nicht mehr allzu überrascht sein von den Meldungen, die in nächster Zeit aus Venezuela zu erwarten sind.




    Nachtrag am 24.1.: Wie diese Meldungen aussehen könnten, das hat ausgerechnet Heinz Dieterich in einer - aus kommunistischer Sicht - schonungslos pessimistischen Analyse dargelegt, auf die mich ein Besucher von "Zettels kleinem Zimmer" aufmerksam gemacht hat. Eine Zusammenfassung dieses, wie mir scheint, wirklich sehr interessanten Texts eines Insiders findet man hier.

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    23. Januar 2008

    Zitat des Tages: "Wahlen oder Revolution"

    O andiamo al voto o c'è la rivoluzione.

    (Entweder gibt es Wahlen, oder wir haben die Revolution). Der Führer der Lega Nord, Umberto Bossi, über die politische Situation in Italien. - Mir fällt bei der jetzigen Krise in Italien auf, wie wenig die deutschen Medien über Italien berichten, gemessen an der Berichterstattung zum Beispiel über Frankreich oder England. Erst wenn, wie jetzt, eine Regierung mal wieder am Ende ist, findet die Lage in Italien eine gewisse Aufmerksamkeit.

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    Marginalie: Lob der Wikipedia

    Beim Gang durch die US-Presse bin ich auf die Meldung in der heutigen Washington Post gestoßen, daß das irakische Parlament die Flagge des Landes geändert hat, um eine weitere Spur des Saddam- Regimes zu tilgen.

    Eine Gelegenheit, einmal wieder die Aktualität der Wikipedia zu testen. Und tatsächlich - dort kann man schon die neue Flagge ohne die Sterne besichtigen!

    Mir ist das schon oft aufgefallen, wie geradezu blitzartig die (internationale) Wikipedia aktualisiert wird. Schon deshalb ist sie jedem Lexikon, auch der Encyclopedia Britannica, weit überlegen.

    Wer die neue und die alte Flagge vergleichen möchte: Die alte war bisher die Vignette meiner Serie "Ketzereien zum Irak".

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    Zitat des Tages: "Die fangen Sie nicht mehr ein"

    Das sind verwahrloste, im Kopf verwahrloste Menschen. Die fangen Sie nicht mehr ein. (...) Die bessern Sie auch durch das Wegschließen nicht mehr.

    Wer sagte das über jugendliche Intensivtäter? Ein erzkonservativer amerikanischer Vertreter von zero tolerance? Ein CDU- Wahlkämpfer in Hessen? Nein. Das sagte gestern im Sender Phoenix in der "Phoenix-Runde" der Bezirksbürgermeister von Berlin- Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD).

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    22. Januar 2008

    Eilmeldung: Kommunisten können in Cuba weiterregieren

    Noch läßt das amtliche Endergebnis auf sich warten, aber alles deutet auf einen überwältigenden Wahlsieg der Kommunisten in Cuba hin.

    Wie die New York Times unter Berufung auf nicht genannte Quellen in der Regierung ("cuban officials") meldete, errang die Regierung nahezu hundert Prozent der Stimmen. Für die Opposition wurde keine einzige Stimme gemeldet. 4,7 Prozent der Stimmzettel waren leer oder ungültig. Die Wahlbeteiligung lag nach einer Meldung der cubanischen Nachrichten- Agentur Prensa Latina bei 96 Prozent.

    Überraschenderweise scheint die Opposition den Kommunisten noch nicht zu ihrem Sieg gratuliert zu haben; jedenfalls konnte ich keine derartige Meldung finden. Meine persönliche Vermutung ist, daß die Führung der Opposition möglicherweise aufgrund von Kommunikations- Problemen ihre Gratulation noch nicht an die Medien geben konnte.

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    Zitat des Tages: "Extreme Gewichtung von Gruppeninteressen"

    Die ganze Bandbreite des antikapitalistischen Ressentiments taucht in den untersuchten Schulbüchern auf. (...) Wenn die deutschen Lehrpläne und Schulbücher eines auszeichnet, dann die extreme Gewichtung von Gruppeninteressen, sozialen Klassen und Arbeitskonflikt.

    Der Newsweek-Redakteur Stefan Theil in einem sehr lesenswerten Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". Theil hat mit einem Stipendium des German Marshall Funds Lehrpläne und Schulbücher in den USA, Frankreich und Deutschland daraufhin untersucht und verglichen, was über Markt, Kapitalismus, Unternehmertum und Globalisierung gelehrt wird.

    Das Zitat bezieht sich, wohlgemerkt, nicht auf Lehrbücher aus den siebziger Jahren oder DDR- Schwarten, die noch irgendwo benutzt werden, sondern auf im Jahr 2008 offiziell an deutschen Schulen zugelassene Lehrbücher.



    Nachtrag: Wie ich erst nachträglich erfahren habe, hat es zu diesem Thema schon vor zwei Wochen einen Beitrag von Rayson in B.L.O.G gegeben, der mir leider entgangen war. Dort auch der Link zu der ursprünglichen englischen Fassung des Artikels von Theil in Foreign Relations. Siehe auch den Artikel von Statler im Antibürokratieteam.

    Mit Dank an Thomas Pauli für den Hinweis auf den Artikel von Theil. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    21. Januar 2008

    Marginalie: Kultur. Nebst einem Seitenhieb auf Linksliberale

    Hier ist, was die Süddeutsche.de im Augenblick auf ihrer Startseite in der Rubrik "Kultur" verspricht:
  • Barbara Schöneberger beim NDR - Sie ist dann mal da!
  • "Schlag den Raab" - Drama in der Mülheimer Nordwand
  • Netz-Depeschen (38) - "Musik gehört auf die Straße"
  • Komiker Cohen - Eins zu null für Borat
  • Das ist eine der drei führenden deutschen Tageszeitungen. Und das ist, was sie unter "Kultur" versteht; jedenfalls als Momentaufnahme.

    Und das ist die Zeitung, die von vielen Linksliberalen besonders geschätzt wird. Die sich, man weiß es, gern über die "Unkultur" der Amerikaner mokieren.

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    Zettels Meckerecke: Ein Gesetzentwurf von ungewöhnlicher Unverfrorenheit

    In den Parteien, auch denen der Koalition, gab es bisher unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man die Arbeitslosigkeit am besten verringert.

    Jetzt haben sie aber ein Rezept entdeckt, das sie gemeinsam tragen, jedenfalls die Parteien der Koalition. Das betreffende Gesetz, schreibt Nico Fickinger heute in der FAZ, soll Ende der Woche im Bundestag verabschiedet werden. Heute findet dazu eine Anhörung von Fachleuten statt.

    Wie sieht ein Gesetz aus, von dem man mit Sicherheit erwarten kann, daß es die Arbeitslosigkeit senken wird? Elementary, my dear Watson. Es ist ein Gesetz, das Arbeitslose zu Nicht- Arbeitslosen ernennt.

    Wird die jetzige Vorlage Gesetz, dann werden "mindestens 58 Jahre alte Erwerbslose künftig nicht mehr als arbeitslos gelten, falls ihnen innerhalb von zwölf Monaten nach Beginn des Leistungsbezugs keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten wurde", schreibt Fickinger.

    Das ist ungefähr so, als würde ein Unternehmen seinen Schuldenstand verringern, indem es einfach bestimmte Schulden - sagen wir, die Steurschulden - aus den Verbindlichkeiten herausnimmt.



    Sie können sich nicht vorstellen, daß Union und SPD tatsächlich die Unverfrorenheit haben, auf diese Weise die Arbeitslosigkeits- Statistik zu verbessern? Lesen Sie den Artikel in der FAZ!

    Dieses geplante Gesetz ist ein Skandal, und zwar auf zwei Ebenen.

    Erstens wird eine bestimmte Altersgruppe diskriminiert. Fickinger zitiert dazu aus der Stellungnahme des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschungs (IAB) für die heutige Anhörung:
    Nach Meinung des IAB verschlechtert die neue Arbeitslosendefinition die Position der mindestens 58 Jahre alten erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, da sie "nach Ablauf von 12 Monaten ohne Arbeitsangebot automatisch nicht mehr als arbeitslos gelten sollen, selbst wenn sie erwerbsbereit sind und sich weiterhin arbeitslos melden wollen, zum Beispiel um ihre Chancen auf Förderung zu wahren".
    Ausgerechnet die SPD, die sich mit der Mindestlohn- Kampagne gerade einmal wieder als die Partei der Arbeitnehmer in Erinerung zu bringen trachtet, will es älteren Arbeitslosen zumuten, als nicht arbeitslos eingestuft zu werden, auch wenn sie verzweifelt nach Arbeit suchen. Man kann sich vorstellen, wie motivierend es auf einen 58jährigen Arbeitssuchenden wirkt, wenn ihm künftig von Amts wegen mitgeteilt werden wird, er sei gar nicht arbeitslos, weil er ohnehin kein Chance habe, noch Arbeit zu finden.

    Mit dem Wort "menschenverachtend" wird in unserem politischen Diskurs oft leichtfertig umgegegangen; hier scheint es mir am Platze zu sein.



    Das ist der Skandal auf der sozialpolitischen Ebene. Auf der Ebene der Arbeitsmarkt- Politik besteht der Skandal darin, daß der Begriff der Arbeitslosigkeit neu bestimmt werden soll.

    Nicht mehr, wer keine Arbeit hat, ist nach dem Gesetzesentwurf arbeitslos, sondern nur noch, wer keine Arbeit hat, obwohl Arbeit für ihn da ist.

    Das ist ungefähr so, als würde man als unterernährt nur noch Menschen bezeichnen, die eine hinreichende Aussicht haben, demnächst ausreichend Nahrung angeboten zu bekommen.

    Die Chuzpe, die hinter eine solchen Umdefinition steckt, ist kaum zu fassen. Wenn es zu wenig angebotene Arbeitsplatze gibt, dann reduziert sich nach dieser Defintion wie von Zauberhand auch die Zahl der Arbeitslosen!

    Die Bundesanstalt für Arbeit stellt das unverblümt fest: Trete das Gesetz in Kraft, dann werde letztlich "das Fehlen von Arbeitsplätzen zum Kriterium des Ausschlusses aus der Zählung als Arbeitslose", zitiert Fickinger aus ihrer Stellungnahme.

    Noch soll das nur für die Gruppe der über 58jährigen gelten. Aber ist erst einmal die Definition von Arbeitslosigkeit so geändert, daß der Arbeitslose, dem keine Arbeit angeboten wird, gar nicht arbeitslos ist, dann kann man sie ja leicht generell anwenden, diese Definition.

    Man brauchte dann nur noch darauf zu hoffen, daß in Deutschland auch allen anderen Altersgruppen so wenige Arbeitsplätze angeboten werden wie jetzt den über 58jährigen. Und schon würden wir weltweit an der Spitze der Vollbeschäftigung stehen, mit einer Arbeitslosigkeit von nahe null Prozent.

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