25. Juni 2024

H. F. Harvey, "Augusthitze" (1910)





W. F. Harvey, “Augusthitze” (1910)

Phenistone Road, Clapham, 20. August 190-

Heute habe ich den wohl ungewöhnlichsten Tag in meinem ganzen Leben erlebt, und deshalb möchte ich meine Erinnerungen daran so schnell wie möglich zu Papier bringen, solange sie noch frisch sind.

Lassen Sie mich damit anfangen, daß mein Name James Clarence Withencroft lautet.

Ich bin vierzig Jahre alt und bei bester Gesundheit. Ich bin niemals krank gewesen.

Von Beruf bin ich Künstler. Kein sehr erfolgreicher, aber ich verdiene mit meinen Zeichnungen genug, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Meine einzige Verwandte, meine Schwester, ist vor fünf Jahren gestorben. Ich bin also ganz auf mich selbst gestellt.

Heute morgen habe ich um neun Uhr gefrühstückt, und nachdem ich die Zeitung durchgeblättert hate, zündete ich mir eine Pfeife an und döste vor mich hin, in der Hoffnung, daß mir vielleicht ein Motiv für meinen Bleistift einfallen würde.

Im Zimmer herrschte eine erstickende Hitze, obwohl Tür und Fenster offenstanden, und ich hatte mich entschieden, daß der kühlste und erträglichste Platz das tiefe Beckenende des hiesigen Schwimmbads wäre, als mir eine Idee kam.

Ich fing an zu zeichnen. Ich war so vertieft in meine Arbeit, daß ich das Mittagessen ausfallen ließ, und beendete die Arbeit erst, als die Kirchturmuhr von St. Jude’s vier schlug.

Auch wenn es nur eine hastig hingeworfene Skizze war, war das Ergebnis doch das Beste, das mir je gelungen war.

Sie zeigte einen Verbrecher auf der Anklagebank, gerade als der Richter das Urteil verkündet hatte. Der Mann war dick – von gewaltiger Korpulenz. Das Fett lag in breiten Wülsten um sein Kinn und verhüllte seinen kurzen, stämmigen Nacken. Er war glattrasiert (vielleicht sollte ich besser sagen: er war anscheinend wenige Tage zuvor rasiert gewesen) und fast kahlköpfig. Er stand vor der Bank, seine kurzen, plumpen Finger krampften sich am Geländer fest und er blickte starr geradeaus. In seinem Gesicht zeigte sich kein Schrecken, sondern nur ein absoluter innerer Zusammenbruch.

Es war, als ob in ihm nichts mehr an Stärke geblieben war, um diesen Berg von Fleisch aufrecht zu halten.

Ich rollte die Zeichnung zusammen und steckte sie ein, ohne genau zu wissen, weshalb. Dann verließ ich das Haus, beschwingt von jenem Glücksgefühl, das sich nach einer gut gelungenen Arbeit einstellt. ­

Wahrscheinlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, Trenton einen Besuch abzustatten, denn ich erinnere mich, daß ich die Lytton Street entlang ging und dann rechts in die Gilchrist Road abgebogen bin, wo die Arbeiter dabei waren, Schienen für eine neue Straßenbahnlinie zu verlegen.

Von da an habe ich nur ganz vage Erinnerungen daran, wo ich mich befand. Das einzige, das mir wirklich bewußt war, war die erdrückende Hitze, die wie eine fast spürbare Welle vom staubigen Asphalt aufstieg. Ich begann, mich nach dem Donner zu sehnen, den die kupferroten Wolkenbänke verhießen, die tief im Westen aufzogen.

Ich muß fünf oder sechs Meilen so gelaufen sein, als mich ein kleiner Junge, der wissen wollte, wie spät es war, aus meiner Träumerei aufschreckte.

Es war zwanzig vor sieben.

Als der Junge weitergegangen war, schaute ich mich um. Vor mir befand sich ein Eingangstor, das auf einen Hof führte, der von einem Streifen ausgedörrter Erde gesäumt wurde, auf dem rote und violette Geranien standen. Über dem Eingang befand sich ein Schild mit der Aufschrift:

CHAS. ATKINSON, STEINMETZARBEITEN

GRABSTEINE AUS ENGLISCHEM UND ITALIENISCHEM MARMOR

Aus dem Hof ertönte ein fröhliches Pfeifen, der Lärm von Hammerschlägen und das Kreischen von Metall, das sich in Stein fräst.

Kurzentschlossen betrat ich den Hof.

Vor mir saß ein Mann, mit dem Rücken zu mir, der einen kräftig geädertern Marmorblock bearbeitete.

Als er meine Schritte hörte, wandte er sich um, und ich blieb verdutzt stehen.

Es war der Mann, den ich gezeichnet hatte, dessen Bild ich in meiner Tasche hatte.

Dort saß er, massig, elefantös, der Schweiß rann ihm vom Schädel, den er mit einem roten Seidentaschentuch abwischte. Aber obwohl er die gleichen Züge trug, war der Gesichtsausdruck völlig anders.

Er begrüßte mich mit einem Lächeln, als ob wir alte Freunde wären, und schüttelte mir die Hand.

Ich entschuldigte mich für mein Eindringen.

„Da draußen ist es so heiß und blendend,“ sagte ich. „Hier ist wie in einer Oase in der Wüste.“

„Naja, was die Oase angeht…“ antwortete er, „aber heiß es ist allerdings, heiß wie in der Hölle. Setzen Sie sich, Sir!“

Er zeigte auf das Ende des Grabsteins, an dem er arbeitete, und ich setzte mich.

„Ein schöner Stein, den Sie da haben,“ sagte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Nur zum Teil,“ sagte er. „Die Oberfläche ist erstklassig, aber auf der Rückseite befindet sich ein großer Sprung – ich nehme an, er würde ihnen nicht auffallen. Aus solch einem Marmorblock läßt sich nichts wirklich Gelungenes machen. Im Sommer geht es: eine solche Bullenhitze macht ihm nichts aus. Aber warten Sie mal, bis es Winter wird. Es gibt nichts Besseres als Frost, um die Schwachstellen in einem Stein zu sprengen.“

„Warum arbeiten Sie dann daran?“ fragte ich.

Der Mann brach in Lachen aus.

„Sie werden mir sicher nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß es sich um ein Ausstellungsstück handelt. Aber genau das ist es. Künstler haben ihre Ausstellungen, Fleischer und Lebensmittelhändler auch, und wir ebenfalls. Die neuesten Trends in der Grabgestaltung…“

Er redete weiter über Marmor, welche Sorten Regen und Wind am besten aushielten, welche am leichtesten zu bearbeiten waren – und danach von seinem Garten und von einem neuen Nelkensorte, die er gepflanzt hatte. Alle paar Minuten ließ er sein Werkzeug fallen, wischte ich den Schädel ab und verfluchte die Hitze.

Ich sagte nicht viel, denn ich fühlte mich unbehaglich. Unsere Begegnung hatte etwas Seltsames, beinahe Unheimliches.

Anfangs versuchte ich mir einzureden, daß ich ihn schon einmal gesehen hatte, daß sich mir sein Gesicht in irgend einer entlegenen Ecke meines Gedächtnisses eingeprägt hatte, aber mir war bewußt, daß ich hier nach Strohhalmen griff.

Mr. Atkinson beendete seine Arbeit, spuckte aus und erhob sich mit einem Seufzer der Erleichterung.

„Na, was halten Sie davon?“ sagte er, hochzufrieden.

Zum ersten Mal las ich folgende Inschrift:

GEWIDMET DEM ANDENKEN

AN

JAMES CLARENCE WITHENCROFT

GEB. 18. JANUAR 1860

ER VERSCHIED UNERWARTET

AM 20. AUGUST 190-

„Mitten im Leben sind vom Tod wir umgeben…“

Eine Weile saß ich schweigend da.

Dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich fragte ihn, woher er den Namen kennen würde.

„Ach, ich kenne ihn gar nicht,“ antwortete Mr. Atkinson. „Ich brauchte nur irgendeinen Namen, und ich habe den erstbesten genommen, der mir in den Sinn kam. Wieso wollen Sie das wissen?“

„Weil er zufälligerweise mein Name ist.“

Er stieß einen langen, tiefen Pfiff aus.

„Und die Datumsangaben?“

„Ich kenne nur eins davon. Und das ist korrekt.“

„Tolle Sache!“ sagte er.

Aber bis jetzt wußte er weniger als ich. Ich erzählte, ihm, was ich am Tag gemacht hatte, holte die Zeichnung aus der Tasche und zeigte sie ihm. Während er sie studierte, glich sein Ausdruck mehr und mehr der Gestalt, die ich gezeichnet hatte.

„Und ich habe Maria erst vor kurzem gesagt,“ sagte er, „daß es keine Gespenster gibt!“

Beide waren wir keinem Gespenst begegnet, aber ich wußte, was er meinte.

„Vielleicht haben Sie zufällig schon einmal meinen Namen gehört,“ sagte ich.

„Und Sie haben mich bestimmt schon einmal gesehen und es vergessen! Waren Sie im Juli zufällig in Clacton?“

Ich war noch niemals in Clacton. Wir schwiegen beide eine Zeitlang. Wir betrachteten beide dasselbe: die beiden Daten auf den Grabstein, von denen der eine korrekt war.

„Kommen Sie doch mit herein und essen Sie mit uns,“ sagte Mr. Atkinson.

Seine Frau war eine fröhliche, kleine Person, deren rote Backen verrieten, daß sie vom Land stammte. Ihr Mann stellte mich als Freund vor, der von Beruf Künstler war. Das war bedauerlich, denn nachdem die Sardinen und die Brunnenkresse abgeräumt waren, holte sie eine Bibel mit Illustrationen von Doré hervor, und ich mußte fast eine halbe Stunde lang Bewunderung vorschützen.

Als ich endlich nach draußen trat, saß Atkinson auf dem Grabstein und rauchte.

Wir nahmen unser Gespräch da wieder auf, wo wir es beendet hatten.

„Verzeihen Sie mir die Frage,“ sagte ich, „aber haben Sie jemals etwas getan, für das man Sie vor Gericht stellen könnte?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht bankrott, das Geschäft läuft gut. Vor drei Jahren habe ich zu Weihnachten den königlichen Wachen einen Truthahnbraten spendiert, aber mehr fällt mir nicht ein. Und der war auch noch ziemlich winzig,“ fügte er hinzu.

Er stand auf, holte eine Gießkanne unter dem Vordach hervor und fing an, die Blumen zu gießen. „Zweimal am Tag bei Hitze,“ sagte er, „und trotzdem gehen die empfindlichen ein. Und die Farne erst - die vertragen gar nichts. Wo wohnen Sie?“

Ich nannte ihm meine Adresse. Wenn ich mich beeilte, könnte ich in einer Stunde zuhause sein.

„Passen Sie auf,” sagte er. „Sehen wir die Sache mal nüchtern an: wenn Sie heute nacht noch nach Hause gehen, gehen Sie ein Risiko ein. Sie könnten etwa überfahren werden, oder auf einer Bananenschale ausrutschen. Oder unter eine umfallende Leiter geraten.“

Er sprach darüber in einem derart ernsthaften Ton, daß es vor wenigen Stunden noch zum Lachen gewesen wäre. Aber ich lachte nicht.

“Das Beste, das wir tun können,“ fuhr er fort, „ist bis nach Mitternacht hier zu warten. Wir können nach oben gehen und rauchen. Drinnen ist es sicher kühler.“

Zu meiner eigenen Überraschung nahm ich sein Angebot an.

(***)

Wir sitzen in einem großen, niedrigen Zimmer gleich unter dem Dach. Atkinson hat seine Frau zu Bett geschickt. Er wetzt seine Werkzeuge mit einem kleinen Ölstein. Die Luft scheint wie vor einem Gewitter elektrisch geladen. Der Stuhl, auf dem ich sitze und schreibe, hat ein gesplittertes Bein, und wenn Atkinson die Schneide seines Meißels ausreichend nachgeschärft hat, wird er sich darum kümmern. Es ist jetzt nach elf. In weniger als einer Stunde werde ich nicht mehr hier sein. Aber die Hitze ist erstickend. Man könnte fast den Verstand verlieren.

Eine Anmerkung: Laut den amtlichen Statistiken werden in den Vereinigten Staaten die meisten Morde bei einer Temperatur von 92 Grad Fahrenheit begangen.

(„August Heat” ist zuerst in der ersten Erzählungssammlung des Autors, „Midnight House“ and Other Tales,“ erschienen 1910 in London beim Verlag J. M. Dent, publiziert worden.)



* * *

Franz Kafka, „Ein Traum“

Josef K. träumte:

Es war ein schöner Tag und K. wollte spazieren gehn. Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof. Es waren dort sehr künstliche, unpraktisch gewundene Wege, aber er glitt über einen solchen Weg wie auf einem reißenden Wasser in unerschütterlich schwebender Haltung. Schon von der Ferne faßte er einen frisch aufgeworfenen Grabhügel ins Auge, bei dem er halt machen wollte. Dieser Grabhügel übte faßt eine Verlockung auf ihn aus und er glaubte gar nicht eilig genug hinkommen zu können. Manchmal aber sah er den Grabhügel kaum, er wurde ihm verdeckt durch Fahnen, deren Tücher sich wanden und mit großer Kraft aneinanderschlugen; man sah die Fahnenträger nicht, aber es war, als herrsche dort viel Jubel.

Während er den Blick noch in die Ferne gerichtet hatte, sah er plötzlich den gleichen Grabhügel neben sich am Weg, ja fast schon hinter sich. Er sprang eilig ins Gras. Da der Weg unter seinem abspringenden Fuß weiter raste, schwankte er und fiel gerade vor dem Grabhügel ins Knie. Zwei Männer standen hinter dem Grab und hielten zwischen sich einen Grabstein in der Luft; kaum war K. erschienen, stießen sie den Stein in die Erde und er stand wie festgemauert. Sofort trat aus einem Gebüsch ein dritter Mann hervor, den K. gleich als einen Künstler erkannte. Er war nur mit Hosen und einem schlecht zugeknöpften Hemd bekleidet; auf dem Kopf hatte er eine Samtkappe; in der Hand hielt er einen gewöhnlichen Bleistift, mit dem er schon beim Näherkommen Figuren in der Luft beschrieb.

Mit diesem Bleistift setzte er nun oben auf dem Stein an; der Stein war sehr hoch, er mußte sich gar nicht bücken, wohl aber mußte er sich vorbeugen, denn der Grabhügel, auf den er nicht treten wollte, trennte ihn von dem Stein. Er stand also auf den Fußspitzen und stützte sich mit der linken Hand auf die Fläche des Steines. Durch eine besonders geschickte Hantierung gelang es ihm, mit dem gewöhnlichen Bleistift Goldbuchstaben zu erzielen; er schrieb: „Hier ruht.“ Jeder Buchstabe erschien rein und schön, tief geritzt und in vollkommenem Gold. Als er die zwei Worte geschrieben hatte, sah er nach K. zurück; K., der sehr begierig auf das Fortschreiten der Inschrift war, kümmerte sich kaum um den Mann, sondern blickte nur auf den Stein. Tatsächlich setzte der Mann wieder zum Weiterschreiben an, aber er konnte nicht, es bestand irgendein Hindernis, er ließ den Bleistift sinken und drehte sich wieder nach K. um. Nun sah auch K. den Künstler an und merkte, daß dieser in großer Verlegenheit war, aber die Ursache dessen nicht sagen konnte. Alle seine frühere Lebhaftigkeit war verschwunden. Auch K. geriet dadurch in Verlegenheit; sie wechselten hilflose Blicke; es lag ein häßliches Mißverständnis vor, das keiner auflösen konnte. Zur Unzeit begann nun auch eine kleine Glocke von der Grabkapelle zu läuten, aber der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte auf. Nach einem Weilchen begann sie wieder; diesmal ganz leise und, ohne besondere Aufforderung, gleich abbrechend; es war, als wolle sie nur ihren Klang prüfen. K. war untröstlich über die Lage des Künstlers, er begann zu weinen und schluchzte lange in die vorgehaltenen Hände. Der Künstler wartete, bis sich K. beruhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andern Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste kleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der Künstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußersten Widerstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr so schön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und unsicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde der Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da stampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grabhügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. Endlich verstand ihn K.; ihn abzubitten, war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in Erde, die fast keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zierraten über den Stein.

Entzückt von diesem Anblick erwachte er.

(Kafkas kleine Prosaskizze, ist zuerst in der von Siegmund Kaznelson redigierten „unabhängigen jüdischen Wochenschrift“ Selbstwehr in Prag erschienen, in der Nummer 34 des 9. Jahrgang, der „Neujahrs-Festnummer“ vom 7. September 1915.)

* * *



In meinem vorigen Beitrag zu Kafka und Borges habe ich, ganz im Geist von Borges‘ Essay über „Kafka und seine Verläufer,“ die Kurzgeschichte von W. F. Harvey zu einem „Vorläufertext“ von Kafkas Traumsequenz erklärt. Es erscheint mir nur angemessen, beide Text einmal in voller Länge zu präsentieren, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszustellen. Da ich mich in diesem Beitrag auch kurz zur Person des englischen Autors geäußert habe, zitiere ich den entsprechenden Absatz einmal kurz:

Harvey (1885-1937), dessen schmales Werk bis auf eine Handvoll Gruselgeschichten heute noch vergessener ist als das von David Garnett, veröffentlichte zumeist nur unter Angabe seiner Initialen. Die meisten seiner neun zu Lebzeiten erschienen Bücher befassen sich mit seinem Glauben (Harvey war Quäker). Im Ersten Weltkrieg diente er, wie so viele Pazifisten, als Sanitäter; bei einem Einsatz wurde seine Lunge durch Giftgas so geschädigt, daß er für den kurzen Rest seines Lebens ein Invalide blieb. Von seinen gut 50 unheimlichen Erzählungen, die er in drei Sammelbänden publiziert hat, ohne den seinerzeit üblichen Weg über vorhergehende Magazinpublikationen zu gehen, haben es zwei ins kollektive Gedächtnis der passionierten Leser dieses Genre geschafft: „The Beast with Five Fingers“ aus dem Jahr 1928 und eben „August Heat,“ vor allem, weil sie Eingang in zahlreiche Anthologien gefunden haben: „August Heat“ wurde zwischen 1928 und 2021 im englischen Sprachraum in 28 unterschiedliche Sammlungen aufgenommen, „The Beast with Five Fingers“ gar in 31.


Von den wie gesagt gut vier Dutzend Erzählungen, die Harvey verfaßt hat, sind nur 8 in Journalen wie „The Cornhill Magazine“ oder „The Passing Show“ vorabgedruckt worden; ganz im Gegenteil zu den Gepflogenheiten seiner Zunftgenossen, die diesen vor 100 Jahren florierenden Markt mit großem Fleiß bedienten. Der Großteil seiner Horror-Erzählungen ist in den Bänden „Midnight House and Other Tales“ (1910) und „The Best with Five Fingers“ (1928), beide bei J. M. Dent verlegt und in dem Band „Moods and Tenses“ (1933, Basil Blackwell) zuerst publiziert worden. Der Band „Midnight Tales“ (J. M. Dent, 1946), der eine Lese von 20 Geschichten aus diesen 3 Büchern vereint, verdankt sich dem Erfolg der Verfilmung von „The Beast with Five Fingers“ durch das amerikanische Studio Warner Brothers unter der Regie von Robert Florey mit Peter Lorre in der Hauptrolle. 1951 folgte eine letzte Sammlung „The Arm of Mrs. Egan and Other Stories” (ebenfalls bei J. M. Dent), in der 16 unveröffentlichte Erzählungen erschiene, die sich in seinem Nachlaß gefunden hatten.

„August Heat“ hat hauptsächlich deshalb im Gedächtnis der Leserschaft geblieben, weil der Text von Dorothy Sayers zuerst in ihre vielgelesene Anthologie „Great Tales of Detection, Mystery, and Horror“ aufgenommen worden ist, 1928 bei Victor Gollancz erschienen (die bei verschiedenen Verlagen in den USA verlegten Ausgaben tragen den Titel „The Omnibus of Crime“), auf dessen 1200 Seiten unter den 67 Erzählungen von Wilkie Collins und Edgar Allen Poe bis zur (damaligen) Gegenwart eben auch 37 Gänsehaut-Geschichten zu finden waren, von Sheridan Le Fanus „Green Tea“ über W.W.Jacobs „The Monkey’s Paw“ bis zu Walter de la Mares „Seaton’s Aunt.“

Die Titelillustration von Edward Gorey (1925-2000) stammt aus der von ihm zusammengestellten Anthologie „The Haunted Looking Glass,“ die 1959 als neunter Band der Reihe „Looking Glass Library“ des Verlags Epstein & Carroll erschienen ist, für den Gorey die graphische Gestaltung der Jugendbücher betreute. Gorey hat hier ein Dutzend gut bekannter klassischer Texte auf der Geschichte der „english ghost story“ versammelt, von Bram Stokers „The Judge’s House“ über E. Nesbits „Man-Size in Marble“ und Charles Dickens‘ „The Signalman“ bis hin zu der schon genannten „Affenpfote“ von Jacobs und ihnen jeweils eine Zeichnung vorangestellt. Daß die 28 Bände der Reihe, die zwischen 1958 und 1961 herausgekommen sind, keineswegs für ein erwachsenes Lesepublikum bestimmt waren, sieht man an anderen Titeln, die darin aufgenommen worden sind: L. Frank Baums „The Wizard of Oz,“ Andrew Langs „The Blue Fairy Book,“ E. Nesbits „Five Children and It,“ „The Book of Dragons“ und „The Phoenix and the Carpet“ und schließlich Rudyard Kiplings „Dschungelbuch.“ (Der passionierte Buchfreund beeilt sich, anzufügen: es ist zwar höchst umstritten, ob man sich als Erwachsener auf die Lektüre von vorgeblichen Kinderbüchern werfen sollte: eine Streitfrage, die mit dem Welterfolg der Harry-Potter-Reihe und Philip Pullmans „His Dark Materials“ vor jetzt über zwanzig Jahren für heftigen Streit in der Kritikerzunft gesorgt hat. Wer aber als Leser, auch schon in höheren Jahren, die genannten Titel von Edith Nesbit und vor allem die Erzählungen um Mowgli nicht kennt, sollte diese Bildungslücke schnellstmöglich schließen.)

Die weiter unten zu sehende Illustration erschien anläßlich des Nachdrucks von „August Heat“ im „Cavalier Magazine“ vom Mai 1961 und stammt von Richard Powers. Powers – nicht zu velwechsern mit dem 1957 geborenen Autor von Romanen wie „Galatea 2.0“ (1995), „The Echo Maker“ (2006) und „The Overstory“ (2018) (der in seinem letzten Romanen einen befremdlichen Hang zur mystischen Naturschwärmerei und Baumumarmung à la Peter Wohlleben an den Tag gelegt hat) – war insofern eine überraschende Wahl für die Illustration eines solchen Themas, weil er sich in aller Regel auf die Gestaltung von Buchtiteln konzentriert hatte, vor allem für die 1952 gestartete Science-Fiction-Taschenbuchreihe von Ballantine Books, für die er in den fünfziger und frühen sechziger Jahren hunderte von Titelbildern gestaltete, deren halb bis ganz abstrakte Formensprache den Bildern von Joan Miró und Yves Tanguy entlehnt war und die dem Genre – zumindest in Buchform – in jenen Jahren einen ästhetischen Mehrwert verliehen, die den krass-konkret gehaltenen Darstellungen von Raumschiffen, tentakelbewehrten Außerirdischen und zerbombten Ruinenlandschaften nach dem atomaren Schlagabtausch in der Regel abgingen. Ein erster kursorischer Überschlag ergibt, daß Powers, 1921 in Chicago geboren und 1996 in Madrid gestorben, zwischen seinem ersten Cover für Isaac Asimovs Erstlingsroman „Pebble in the Sky“ aus dem Jahr 1950 bis 1977 rund 600 Buchumschläge gestaltet hat.





U.E.

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