"Only connect! That was the whole of her sermon. Only connect the prose and the passion, and both will be exalted, and human love will be seen at its height. Live in fragments no longer. Only connect." (E.M.Forster, "Howards End")
(Jorge Luis Borges im Jahr 1951. Aufnahme von Grete Stern)
I.
Jorge Luis Borges, „Franz Kafka” (1951)
Um das Jahr 1916 oder 1917 fingen wir an, dem Namen Kafkas Veröffentlichungen des Expressionismus zu begegnen, die sich der Extravaganz verschrieben hatten (womit sie Erfolg hatten) und die sich beispielsweise „Der jüngste Tag“ oder ähnlich nannten. Kafka ist als Autor zu ausgefallen, als daß wir damals seine Originalität zu würdigen wußten. Wir lasen diese ersten Erzählungen und sie erschienen uns sinnlos, enttäuschend und sogar – wir gestehen es heute ungern – recht altmodisch. Jahre später lasen wir den „Prozeß“ in einer französischen Übersetzung, und waren von diesem Buch sehr beeindruckt. Im Nachhinein schmälerte sich die Begeisterung aufgrund des Verlaufs der Handlung. So haben wir uns im Lauf der Jahre an Kafka angenähert und sind dann wieder auf Distanz gegangen. Wir haben einiger seiner Erzählungen aus dem Deutschen übertragen, darunter die vielleicht vorzüglichste, „Beim Bau der chinesischen Mauer.“ Für einige Übersetzungen seiner Bücher ins Spanische haben wir Vorworte verfaßt. Und wir haben ihn in einigen unserer Erzählungen bewußt nachgeahmt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir ihn auch in Zukunft nachahmen werden, ohne es zu wollen, denn Kafka ist ein Autor, der eine heftige Anziehung auf einen ausübt.
Immer wenn wir uns dieser Anziehungskraft bewußt werden, versuchen wir uns ihrer zu entledigen. Wir erinnern uns an den Augenblick, als wir mit unschuldigem Entzücken entdeckten, daß manche seiner Romane, wie „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ genau das schildern, was in der Mathematik ein „infiniter Regress,“ eine „Endlosrekursion“ genannt wird. Im „Schloß“ gibt es einen Landmesser, dem nie Zutritt gewährt wird, sondern der niemals über Vorzimmern hinaus gelangt. Nun: dieser Vorgang beschreibt das Paradox, das Zenon von Elea gegen die Möglichkeit einer Bewegung vorgebracht hat. Jemand, der sich an einem Punkt A befindet, kann einen Punkt B niemals erreichen, denn zuvor muß er erst einmal die Hälfte dieser Strecke zurücklegen, und davor die Hälfte jener Strecke – und so weiter bis ins Unendliche. William James das gleiche Argument auf die Zeit angewendet. Wir waren nicht immer so unbedarft. Ein anderes Mal haben wir nach Kafkas literarischen Vorläufern gesucht, und sind bei vielen Autoren fündig geworden. Wir erinnern uns etwa an einen Roman von David Garnett, „Lady into Fox,“ dessen Handlung, wenn man sie nacherzählt und nicht liest, sehr an die Erzählungen von Kafka erinnert, besonders an „Die Verwandlung.“ Dieser Roman, und ein weiterer dieses englischen Autors, „A Man in the Zoo,“ ähneln, wie gesagt, Kafka. Aber wenn man sie liest, unterschieden sie sich gründlich von seinem Werk. Der Grund liegt darin, daß wir dort Zeugen eines phantastischen Geschehens sind; wenn wir Kafka lesen, scheint uns das, was seinen Gestalten passiert, uns selber zu widerfahren.
Wir sollten uns an dieser Stelle an einige Umstände aus dem Leben Kafkas erinnern, die uns helfen, Licht auf sein Werk zu werfen. Kafka wurde 1883 in Prag geboren. Max Brod hat uns in seiner Biographie über Kafka literarische Vorlieben berichtet. Er las die Bibel viele Male und bewunderte zudem Goethe, Hermann Hesse und Thomas Mann und schätzte Flaubert und Dickens hoch ein, an dem er das, was er „den mächtigen Einfluß von Dickens“ nannte, bewunderte (in „Amerika,“ dem ersten Roman Kafkas, gibt es Stellen, die in der Tat an Dickens erinnern). Ebenso verehrte er Swift und zitierte in einem seiner Briefe dessen Ausführungen zur Kindererziehung. Dagegen verachtete er extravagante, exzentrische Autoren im Allgemeinen. Dafür gibt es eine sehr einfache psychologische Erklärung: Kafka war selber höchst ausgefallen und originell; er glaubte nicht daran, daß das Seltsame mit Vorbedacht gesucht werden sollte. Er schätzte Oscar Wilde nicht; uns scheint aber, daß es sich hier um das Bild handelt, daß sich die Öffentlichkeit von ihm machte, nicht um den wirklichen Oscar Wilde. In der schon erwähnten Biographie berichtet Max Brod von Kafkas Verhältnis zu seinem Vater. Hermann Kafka war ein Mann von enormer Körperkraft, ein sehr strenger Mensch, der er aus eigener Kraft zu ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte, der seinen Kindern eine große Wohnung im Zentrum Prags hinterließ und der seine Kinder verachtete, weil er sie für Taugenichtse hielt. Kafka verfaßte einmal einen Brief an ihn von mehr als hundert Seiten Länge, in dem er sich ihm unverblümt seine Meinung darlegte, und nur seine Mutter verhinderte, daß er ihn ihm überreichte. Für den Sohn wurde der Vater zu seinem Sinnbild der furchtbaren kosmischen Weltordnung. Es ist bezeichnend, daß Kafkas erste Erzählung, „Das Urteil,“ von einem hinfälligen Vater handelt, der seinen Sohn (der ein Hüne ist) aufgrund von eingebildeten Verfehlungen zum Tode verurteilt.
Der erste Roman, den Kafka schrieb, „Amerika,“ ist weniger bedeutend als die anderen, aber es enthält ein Schlußkapitel mit dem Titel „Das Naturtheater von Oklahoma,“ das uns aufschlußreich für das Verständnis Kafkas zu sein scheint. In „Amerika“ haben wir einen jungen Deutschen, Karl Rossmann, der in die Vereinigten Staaten auswandert. Es ist bezeichnend, daß es sich hier um einen Deutschen handelt. In seinen jungen Jahren und als angehender Schriftsteller betrachtete sich Kafka als Deutschen; er schrieb in Kurrentschrift, und erst in seinen letzten Lebensjahren wandte er sich dem Tschechischen und ebenso dem Hebräischen zu. Aber das stellte für ihn eine beträchtliche Anstrengung dar. Einmal sagte er: „Was habe ich mit den Juden gemeinsam?“ Ein anderes Mal, als er einen Freund besuchte, störte er dessen Vater, als er an ihm vorbeischlich, und Kafka sagte zu ihm: „Ich flehe Sie an, mein Herr - bitte betrachten Sie mich als einen Traum.“ In einem Brief an einer Frau, die er liebte, und die er nicht zu heiraten wagte, schrieb er: „Vergessen Sie rasch das Gespenst, das ich bin.“ Kafka neigte also dazu, sich für unwirklich zu halten. Und dieses Gefühl der Unwirklichkeit findet sich in allen seinen Werken. Aber diese Unwirklichkeit ist furchtbar: sie ist die Unwirklichkeit eines Albtraums. In seiner Definition der Hölle bestand Bernard Shaw darauf, daß die Hölle nicht wirklich ist; uns selbst ist dieses Gefühl bekannt. Um ehrlich zu sein, wissen wir nicht, ob dies dabei hilft, uns mit schrecklichen Situationen abzufinden – oder ob die Unwirklichkeit ein Kennzeichen des Schrecklichen selbst darstellt. Um auf „Amerika“ zurückzukommen: wir haben hier die Geschichte eines jungen Menschen, der in die Vereinigten Staaten kommt; hier trifft es auf Menschen, die ihn betrügen, er verliebt sich in eine Frau, die er wieder verliert. Und im letzten Kapitel gelangt er zu einer gewaltigen Rennbahn, in der sich die Anwärter für ein Theater versammeln. Dieses Theater ist ein Sinnbild für den Himmel; und Kafkas Vorstellung in diesem Buch geht dahin, daß niemandem der Zutritt zum Himmel verwehrt werden soll. Aber der Roman wurde nicht beendet. Nach unserem Dafürhalten hätte Kafka das Buch leicht fertigstellen können, denn er war als Schriftsteller ausreichend begabt, um das glückliche Ende zu schreiben, das ihm vorschwebte. Aber uns scheint es, daß, als Kafka daranging, das Theater zu beschrieben, das auch eine Beschreibung des Paradieses geworden wäre, ihm klar wurde, daß er nicht an das Paradies glaubte und daß es vielleicht auch die Hölle sein könnte.
Kafka, der wie wir gesehen haben, sich vorgenommen hatte, in „Amerika“ den Himmel zu beschreiben, entdeckte in diesem Augenblick, daß er nicht ernsthaft über den Himmel schreiben konnte – und danach verfaßte er andere Bücher: „Der Prozeß“ und „Das Schloß.“ Auch diese beiden Bücher nehmen ein böses Ende. Aber sie unterscheiden sich grundlegend von „Amerika,“ weil das Ende von „Amerika“ an den Ansprüchen des Autors scheitert, während der Ausgang im „Prozeß“ und im „Schloß“ von der ersten Seite an feststeht. Das Thema im „Prozeß“ ist der Mensch im Angesicht der göttlichen Gnade. Beide Romane nehmen ein böses Ende. Manche Kritiker sind der Ansicht, daß Kafka seine Romane nicht fertigstellen konnte, nachdem er sie einmal begonnen hatte. Nach unserer Ansicht irren diese Kritiker. Kafka Pläne setzen eine unendliche Folge von Schritten voraus; aber er war nicht in der Lage, eine unendliche Zahl von Kapiteln zu schreiben, um sie alle zu schildern. Die Vorbereitungen, die von einem Roman zum nächsten führten, waren unendlich; aber schließlich schloß er sie doch ab.
Wir haben gesehen, daß Kafka diese Bücher geschrieben und sie aufbewahrt hat. Wir wissen auch, wie Kafka gestorben ist, und daß er in seinen letzten Tagen große Schmerzen litt. Wie es scheint, hat er zu seinem Arzt gesagt: „Wenn Sie mich nicht töten, sind Sie ein Mörder.“ Kafka hinterließ seine Manuskripte Max Brod und trug ihm auf, sie zu verbrennen. Wir verdanken also die Veröffentlichung von Kafkas Werken dem frommen Ungehorsam von Max Brod. Daraus ergibt sich ein kleines Rätsel, weil wir aus der Literaturgeschichte von vielen Autoren wissen, die verlangt haben, daß ihre Werke verbrannt werden sollten (zum Beispiel im Fall von Vergil). Aber Kafkas Verhalten läßt sich unterschiedlich auslegen. Wir könnten zum Beispiel der Ansicht sein, daß es sich beim eigentlichen Verfasser seiner Werke um Max Brod handelt. Aber wenn wir dieser Ansicht zuneigen, scheint uns, daß Kafka wußte, daß seine Anordnungen nicht befolgt werden würden – und außerdem, daß diese Anordnung Teil seines Werkes werden würde und ihm eine besondere ästhetische Note hinzufügen würde. Kafka wußte, daß sein gesamtes Werk ein Werk der Verzweiflung darstellte, und daß sein Wunsch nach dessen Vernichtung dies nur bestätigen würde.
Es gibt verschiedene Auslegungen von den Werken Kafkas. So sind sie als Romane gelesen worden, was uns falsch scheint, denn der Roman lebt von menschlichen Beziehungen, und diese kommen in Kafkas Werk nicht vor. Wir haben beobachtet, daß große Ähnlichkeiten zwischen dem Werk von Henry James und dem von Kafka bestehen; auch der erste hatte sich vorgenommen, das Paradies zu schildern, und von großer Verzweiflung heimgesucht wurde, als er feststellen mußte, daß er nicht dazu in der Lage war, so wie Kafka in „Amerika.“ In den Romanen von Henry James finden wir tiefgehende Vieldeutigkeiten; es sind die Mehrdeutigkeiten in den Beziehungen der Menschen zueinander, während sich die Uneindeutigkeiten bei Kafka von dem Verhältnis des Menschen zur göttlichen Macht handeln.
Dieses Motiv bei Kafka ist dasselbe, das Browning in seinem 1876 erschienenen Gedicht „Fear and Scruples“ abhandelt. Wenn wir Kafka lesen, gelangen wir zu einem Verständnis vieler uralter Ängste und verstehen, warum es in allen Religionen Aussagen dazu gibt. Das leben ist voller Geheimnisse und wir laufen beständig Gefahr, Schuld auf uns zu laden und der Gnade verlustig zu gehen. Viele Figuren Kafka wissen nicht, worin ihre Schuld besteht, aber zumeist sind sie ebenfalls der Ansicht, daß das Urteil, das über sie gefällt wird, gerecht ist. Kafka hatte sich vorgenommen, zum einen den Menschen zu schildern, zum anderen aber Gott. Nur wie kann man Gott darstellen, dessen Wesen per Definition unergründlich ist? In den Religionen Indiens gibt es göttliche Ungeheuer, mit Leibern, die sich aus denen von Tieren und Menschen zusammensetzen, und in der Offenbarung ist in der Schilderung des Himmels von Tieren die Rede, die vorn und hinten Augen haben. Wie die Mythenschöpfer Indiens und der Prophet der Offenbarung beschreibt Kafka einen absurden Gott, ähnlich einem Schauspieler, die eine Sprache nachahmen sollen, die sie nicht beherrschen, und die sinnlose Silben miteinander kombinieren. Um das Unergründliche darzustellen, erfand Kafka die Henker und Tribunale, die in seinen Werken als Zeichen der göttlichen Macht auftauchen. Und nach seinem Tod brach die Sintflut über die Welt herein, als wenn sie auf sein Wort gehört hätte - mit Henkern und Gerichten, die genauso absurd waren wie die, die er erdacht hatte. Wenn wir ihn heute lesen, erkennen wir in seinen Schriften einen politischen Unterton: Allegorien für den Kampf des Einzelnen gegen den allmächtigen Staat. Aber Kafka sah es nicht so: bei ihm geht es, um es noch einmal zu betonen, um das Verhältnis des Menschen zu Gott.
Einmal schrieb Kafka an Max Brod (und hier sehen wir vielleicht einen weiteren Grund, warum er zögerte, seine Werke zu veröffentlichen): „Zeitweise Befriedigung kann ich in Arbeiten wie ‚Ein Landarzt‘ immer noch finden … aber Glück könnte ich nur finden, wenn ich die Welt ins Reine, Wahre und Unveränderliche erheben könnte.“ Vielleicht war Kafka nicht so verzweifelt, wie es uns scheinen kann, wenn wir ihn lesen. Vielleicht glaubte er, daß er, wenn ihm mehr Zeit vergönnt gewesen wäre, er keine infernalischen Werke geschrieben hätte, sondern glückliche, paradiesische.
* * *
Anmerkungen:
„In Veröffentlichungen des Expressionismus, die sich etwa ‚Der jüngste Tag‘ nannten…“ Wann der 18-jährige Gymnasiast Jorge Luis Borges, der das Genfer College de Géneve besuchte, seit der Ausbruch der Ersten Weltkriegs seinen Vater, Jorge Guillermo Borges Haslam, der als Botschaftsattaché an der argentinischen Botschaft in der Schweiz tätig war und dessen Familie an der Ausreise gehindert hatte, zum ersten Mal dem Namen Kafkas begegnet ist, läßt sich aus der Distanz von mehr als einem Jahrhundert nicht mehr mit Sicherheit klären. In einem der auf Englisch geführten Interviews, die Richard Burgin1969 in Buchform als „Conversations“ im New Yorker Verlag Holt, Rinehart & Winston zusammengestellt hat, erklärt er:
„Der Expressionismus war eine mächtige literarische Bewegung, und Kafka hat in einer seiner beiden Zeitschriften veröffentlicht – ich weiß nicht mehr, ob es Die Aktion oder Der Sturm war. In den Jahren 1916 und 1917 hatte ich für beide ein Abonnement. Dort las ich zum ersten Mal einen Text von Kafka. Ich war so wenig dafür empfänglich, daß ich ihn für schwach und etwas lau hielt, verglichen mit den sprachlichen Feuerwerken des Expressionismus.“
Im Vorwort zu der schmalen Anthologie von Kafka-Texten, die Borges im Rahmen der „Bibliothek von Babel“ Ende der siebziger Jahre für den Mailänder Verleger Franco Maria Ricci zusammenstellte und die 1978 unter dem Titel „L'avvoltoio“ erschien (auf deutsch als „Der Geier“ 1983 in der „Edition Weitbrecht“ im K. Thienemanns Verlag), erklärt er im Vorwort: „Meine erste Lektüre Kafkas in einer bewußt modernen Zeitschrift aus dem Jahre 1917 werde ich nie vergessen. Ihre Redakteure – denen es nicht durchweg an Talent gebracht – hatten sich darauf geeinigt, den Wegfall der Interpunktion, der Großbuchstaben, des Reims zu erfinden, dazu die bestürzende Vortäuschung bildlicher Ausdrücke, ein Übermaß von Wortballungen und andere, für diese Jugend – vielleicht für jede Jugend – typische Unternehmungen. Unter all dem gedruckten Getöse schien mir eine Lehrfabel, die die Unterschrift von Franz Kafka trug, trotz meiner gelehrigen Lesejugend fade, ohne daß ich den Eindruck zu erklären gewußt hätte. Nach so langen Jahren getraue ich mich, meinen unverzeihlichen Mangel an literarischem Gespür einzugestehen: Ich war an der Offenbarung vorübergeschritten und hatte es nicht gemerkt!“
Ob hier aus der Distanz von fast einem Menschenleben eine Verwechslung vorliegt oder eins der von Borges innig geliebten Vexierspielchen, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Jedenfalls hat Kafka weder in Herwarth Waldens „Der Sturm“ noch in Fritz Pfemferts „Die Aktion“ je einen Text veröffentlicht. Im Archiv der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires findet sich dagegen ein Exemplar des „Almanachs der Neuen Jugend auf das Jahr 1917“ (herausgegeben von Wieland Herzfelde und Heinz Barger) mit einem eigenhändigen Besitzervermerk von Jorge Luis Borges. Und als letzter Prosatext findet sich dort auf den Seiten 172 bis 174 Kafkas kleine Miszelle „Ein Traum,“ der im Umfeld der Niederschrift des Fragment gebliebenen Romans „Der Prozeß“ entstanden ist und durch die Aufnahme in den Prosaband „Ein Landarzt“ als einziges Fragment aus diesem Konvolut zu Lebzeiten des Autors im Druck erschien. In der Reihe der 86 dünnen Broschüren der Reihe „Der jüngste Tag,“ die Franz Werfel und Kafkas lebenslanger Freund und Nachlaßverwalter Max Brod zwischen 1913 und 1921 für den Leipziger Verleger Kurt Wolff zusammengestellt haben, finden sich immerhin drei Texte von Kafka: „Der Heizer“ (Band 3, 1913), „Die Verwandlung“ (Bd. 22/23, 1915) sowie „Das Urteil“ (Band 34, 1916).
„Wir haben einiger seiner Erzählungen aus dem Deutschen übertragen“: Borges‘ erste Übersetzung eines Kafka-Textes erschien im Rahmen seiner zweiwöchentlichen Kolumne in der Zeitschrift „El Hogar“ („Libros y autores extranjeros. Guía de lecturas“), in der er am 27. Mai 1938 neben der Besprechung einer Neuausgabe von Meadows Taylors „Confessions of a Thug“ (zuerst 1839 erschienen), John Dos Passos‘ „U.S.A.“, Gaudens Megaros in London erschienener Biographie des Duce („Mussolini in the Making“), einem Band mit Erzählungen von Maxim Gorki („El espectro“) und der englischen Übersetzung von Ilf und Petrovs „Das eingeschossige Amerika“ – allein schon die Aufzählung reicht hin, um Schwindelgefühle zu erzeugen – auch seine Übersetzung der kleinen Fabel „Vor dem Gesetz“ als „Ante la ley“ publizierte. In dem kleinen, 105 Seiten umfassenden Band „La metamorfosis,“ der im gleichen Jahr in Buenos Aires im Verlag Losada erschien, findet sich „La edificación de la Muralla China“ als zweiter Text.
David Garnetts kleiner Roman „Lady into Fox” ist 1922 in London bei Chatto & Windus erschienen, „A Man in the Zoo“ folgte zwei Jahre später, zunächst nur in einer amerikanischen Ausgabe; der 1928 bei Chatto & Windus verlegte Nachdruck einbändige Nachdruck umfaßt ganze 190 Seiten. Der heute weitgehend vergessene Garnett (1892-1981) zählte in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu den prominenteren Mitgliedern des Bloomsbury-Kreises; seine gut 30 Bücher entstanden eher aus Liebhaberei neben seiner Berufstätigkeit als Buchhändler. Unter anderem gab er 1934 und 1938 die Briefe von T. E. Lawrence und John Galsworthy heraus. Die beiden Kurzromane sind gute Beispiele für das „halb-fantastische“ Erzählen, das sich in einigen englischen Texten der zwanziger Jahre zeigt: kein Eintauchen in eine „sekundäre Welt,“ wie es später Tolkien in „The Hobbit“ (1938) vorgeführt hat und wie es etwa in E.R.Eddisons „The Worm Ouroboros“ aus dem Jahr 1922 stattfindet, sondern das Schildern einer grotesk-bizarren Einzelsituation vor dem Hintergrund einer Gesellschaftskomödie. Beide Texte leben von ihrem Gesprächswitz; andere Beispiele aus der englischen Literatur jenes Jahrzehnts sind etwa Elinor Wylies „The Venetian Glass Nephew“ (1925), John Colliers „His Monkey Wife“ (1930) oder Ronald Firbanks Grotesken „The Flower Beneath the Foot“ (1923), „Sorrow in Sunlight“ (1924) und „The Eccentricities of Cardinal Pirelli“ (1926).
In „Lady into Fox“ verwandelt sich die junge Braut des Erzählers unaufhaltsam in eine Füchsin; in „A Man in the Zoo“ (Borges – oder sein Stenograph – wandeln dies zu „The Men in the Zoo“ ab) läßt sich ein junger Mann als Exponat in einem Tiergehege ausstellen. Ob Garnett hier an die „Völkerschauen“ der Jahrhundertwende gedacht hat, die in Deutschland und Österreich von Carl Hagenbeck organisiert wurden und etwa im Berliner Zoo, in Hagenbecks Thierpark und in den Zoos von Dresden, Leipzig und Köln stattfanden, sei hier unabgemacht. (Immerhin verbrachte Garnett im Sommer 1910 vor dem Beginn seines Studiums einige Monate in München, um deutsch zu lernen.) Derek Ryan bejaht in seinem Buch „Bloomsbury, Beasts and British Modernist Literature“ (Oxford University Press, 2022) im zweiten Kapitel, das sich mit „David Garnett and Zoo Fictions“ (S. 49-78) befaßt, diese Frage eindeutig und verweist in diesem Zusammenhang auf Kafkas Erzählung „Ein Bericht an eine Akademie.“ Gustav Janouch, der Kafka 1919 im Prag kennengelernt hatte, berichtet in seinem Buch „Gespräche mit Kafka“ von 1951 (deren Wahrheitsgehalt in der Kafka-Forschung mit „umstritten“ noch höflich umschrieben sind), er habe Kafka „Lady into Fox“ nach dessen Erscheinen gezeigt und auf die Ähnlichkeit mit der „Verwandlung“ hingewiesen. Kafkas spontane Reaktion war: „Aber nein! Das hat er nicht von mir. Das ist eine Frage des Alters. Wir haben es beide abgeschrieben. Die Tiere sind uns näher als die Menschen. Es liegt an den Käfigstäben. Wir verstehen uns besser mit Tieren als mit Menschen." Und bei ihrem nächsten Treffen zwei Wochen später, so schreibt Janouch, habe Kafka noch hinzugefügt: „Jeder Mensch lebt hinter Gitterstäben, die er in sich trägt. Deshalb schreiben die Leute heute so viel über Tiere. Darin drückt sich die Sehnsucht nach einem freien natürlichen Leben aus. Aber für Menschen ist das menschliche Leben das natürliche Leben. Aber vielen Menschen ist das nicht immer klar. Sie weigern sich, das zu sehen. Das Leben ist ihnen eine Bürde, die sie in ihrer Phantasie ablegen. Sie sind im Schutz der Herde sicher, und so laufen sie durch die Städte, zu ihrer Arbeit, zu ihren Futtertrögen, zu ihren Vergnügungen. Es gibt keine Wunder mehr, nur noch Vorschriften und Anweisungen.“
Dem Betrachter drängt sich angesichts der tatsächlich „etwas neben der gewohnten bürgerlichen Spur laufenden“ Lebensführung von Autoren wie Wylie, Garnett und dem Exzentriker von Gnaden Firbank der Verdacht auf, hier könnte die von Literaturwissenschaftlern geforderte strenge Trennung zwischen dem Schöpfer und dem von ihnen Geschaffenen fehl am Platz sein. In Garnetts Fall war dies, wie bei diversen Mitgliedern des Bloomsbury-Zirkels, seine ausgelebte Bisexualität. Unter anderem hatte er ein Verhältnis mit dem Maler Duncan Grant, dem wohl prominentesten Künstler dieses elitären Cenacles. Am 25. Dezember 1918 war er Hausgast, als Vanessa Bell, die drei Jahre ältere Schwester von Virginia Woolf, ihre Tochter Angelica zur Welt brachte, die ihrem Verhältnis mit Grant entstammte. (Vanessas Ehemann Clive Bell erkannte offiziell das Kind als „seine Tochter“ an.) Kurze Zeit später notierte Garnett in sein Tagebuch: „Ich spiele mit dem Gedanken, das Kind später einmal zu heiraten. Wenn sie 20 ist, werde ich 46 sein. Ob das für einen Skandal reicht?“ Es reichte: als David und Angelica am 8. Mai 1942 den Bund der Ehe schlossen, waren die verbliebenen Mitglieder des Bloomsbury-Kreises (Lytton Strachey war 1931 gestorben, seine Geliebte Nora Carrington hatte sich im Jahr darauf das Leben genommen; Roger Fry war 1934 gestorben; Julian Bell, der älteste Sohn von Clive und Vanessa, war 1937 im Spanischen Bürgerkrieg gefallen und Virginia Woolf hatte Ende 1941 Selbstmord begangen) aufs höchste empört. Angelica erfuhr erst viele Jahre später, daß ihr Ehemann mit ihrem leiblichen Vater ein Verhältnis gehabt hatte.
Ein überraschender Konnex zwischen Garnett und Borges findet sich an anderer Stelle. 1963 übersetzte Garnett eine Biographie von Lawrence von Arabien aus dem Spanischen, die im New Yorker Verlag Dutton unter dem Titel „338171 T. E. (Lawrence of Arabia)“ erschien. (338171 war Lawrences militärische Registrierungsnummer, nachdem er zum zweiten Mal unter einem falschen Namen, T.E.Shaw, in den Militärdienst getreten war. Als „John Hume Ross,“ als der es zwischen 1922 und 1923 in der Royal Air Force diente, erhielt er die Nummer 352087 zugeteilt.) Das Original war 1942 in Buenos Aires im Verlag der Literaturzeitschrift „Sur“ erschienen und sein Verfasser war Octavia Ocampo, die dieses wohl einflußreichste Journal Lateinamerikas 1931 gegründet hatte. In „Sur“ erschienen, angefangen mit einer Kritik von King Vidors Film „Street Scene“ in der Nr. 5 vom Januar 1932, bis Anfang der 1950er Jahre die wichtigsten Essays und Erzählungen von Borges. (Etwa „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius,“ Mai 1940, „La loteria in babilonia,” Januar 1941, “El Aleph,” September 1945, „Averroes auf der Suche,“ Juni 1947 und „La Secta del Fénix,“ Sept.-Okt. 1952, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.)
„Er verehrte Swift und zitierte in einem seiner Briefe dessen Ausführungen zur Kindererziehung“: genauer handelt es sich um zwei undatierte Briefe an Kafkas sechs Jahre jüngere Schwester Gabriele, genannt Elli“ (seit 1910 „Frau Karl Hermann“), die den dort aufgeführten Umständen nach auf den Herbst 1921 zu datieren sind. Im ersten davon schreibt Kafka:
In der Beschreibung zu Gullivers Reise nach Liliput (dessen Einrichtungen sehr gelobt werden) sagt Swift: "Die Begriffe von den gegenseitigen Pflichten der Eltern und Kinder sind gänzlich von den unsrigen verschieden. Da nämlich die Verbindung der Männer und Weiber, wie bei allen Tiergeschlechtern, auf Naturgesetzen beruht, behaupten sie durchaus, dass Männer und Frauen nur deshalb sich vereinigen; die Zärtlichkeit gegen die Jungen folge aus demselben Grundsatz; deshalb wollen sie nicht zugestehn, ein Kind sei für sein Dasein den Eltern verpflichtet, welches ohnedies wegen des menschlichen Elends keine Wohltat sei; auch bezweckten die Eltern keine Wohltat, sondern dächten an ganz andere Dinge bei ihren verliebten Zusammenkünften. Wegen dieser und anderer Schlußfolgen sind sie der Meinung, Eltern dürfe man am wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen." Er meint damit offenbar, ganz entsprechend Deiner Unterscheidung zwischen "Mensch" und "Sohn", dass das Kind, wenn es Mensch werden soll, möglichst bald, wie er sich ausdrückt, der Tierheit, dem bloß tierischen Zusammenhang entzogen werden muß.
...um sich im nächsten Brief, nachdem ihm seine Schwester in ihrer nicht erhaltenen Antwort wohl Vorwürfe gemacht hatte, ausführlich zu rechtfertigen:
. .. Nicht das, was Du hervorhebst (Kinder müssen für ihr Dasein den Eltern nicht dankbar sein), ist die Hauptsache bei Swift. In dieser Knappheit behauptet das ja im Grunde auch niemand. Das Hauptgewicht liegt auf dem Schlußsatz: "Eltern darf man am wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen." Allerdings ist das, wie auch die zu diesem Satz führende Beweisführung, viel zu gedrängt gesagt und ich werde es Dir deshalb ausführlicher zu erklären suchen, doch wiederhole ich, dass das alles nur Swifts Meinung ist (der übrigens Familienvater war), meine Meinung geht zwar auch in der Richtung, nur wage ich nicht, so entschieden zu sein. Swift meint also: Jede typische Familie stellt zunächst nur einen tierischen Zusammenhang dar, gewissermaßen einen einzigen Organismus, einen einzigen Blutkreislauf. … Die Familie ist also ein Organismus, aber ein äußerst komplizierter und unausgeglichener, wie jeder Organismus strebt auch sie fortwährend nach Ausgleichung. Soweit dieses Streben nach Ausgleichung zwischen Eltern und Kindern vor sich geht (die Ausgleichung zwischen den Eltern gehört nicht hierher), wird sie Erziehung genannt. Warum das so genannt wird, ist unverständlich, denn von wirklicher Erziehung, also dem ruhigen, uneigennützig liebenden Entfalten der Fähigkeiten eines werdenden Menschen oder auch nur dem ruhigen Dulden einer selbständigen Entfaltung ist hier keine Spur. … Der Eigennutz der Eltern - das eigentliche Elterngefühl - kennt ja keine Grenzen. Noch die größte Liebe der Eltern ist im Erziehungssinn eigennütziger als die kleinste Liebe des bezahlten Erziehers. Es ist nicht anders möglich. Die Eltern stehe ja ihren Kindern nicht frei gegenüber, wie sonst ein Erwachsener dem Kind gegenübersteht, es ist doch das eigene Blut - noch eine schwere Komplikation: das Blut beider Elternteile. … Ich wiederhole: Swift will die Elternliebe nicht entwürdigen, er hält sie sogar unter Umständen für stark genug, um die Kinder vor eben dieser Elternliebe zu schützen. … Was ist also zu tun? Nach Swift sind die Kinder den Eltern fortzunehmen, d. h. der Ausgleich, den jenes "Familientier" braucht, soll zunächst provisorisch dadurch erreicht werden, dass man durch Wegnahme der Kinder die endgültige Ausgleichung auf eine Zeit verschiebt, bis die Kinder, von den Eltern unabhängig, an Körper und Geisteskraft ihnen ebenbürtig sind und dann die Zeit für den wirklichen, für den liebenden Ausgleich gekommen ist, nämlich das, was Du "Rettung" nennst und was andere "Dankbarkeit der Kinder" nennen und so selten finden. Übrigens versteht Swift einzuschränken und hält die Wegnahme der Kinder armer Leute nicht für unbedingt notwendig. … Auch leugnet natürlich Swift nicht, dass Eltern unter Umständen eine ausgezeichnete Erziehungsgemeinschaft darstellen können, aber nur für fremde Kinder. So also etwa lese ich die Swiftsche Stelle.
Der amerikanische Germanist Peter F. Neumeyer, 1929 in München geboren, dessen Familie 1936 vor den Nazis in die Vereinigten Staaten floh, weist in seinem Aufsatz „Franz Kafka and Jonathan Swift: A Symbiosis,“ 1965 in der „Dalhousie Review“ erschienen, zu Recht darauf hin, daß Kafka hier nicht etwa Swifts persönliche Einstellung wiedergibt (der übrigens kein „Familienvater“ war), und auch nicht die Ansichten seines durchaus begriffsstutzigen und voreingenommenen Antihelden Lemuel Gulliver (dessen Stolz auf die Errungenschaften und Gebräuche seiner englischen Heimat ihn zur Zielscheibe des sarkastischen Spotts des Riesenkönigs von Brobdingnag und der weisen Pferde, der Houyhnhnms, machen), sondern nur die possierlichen Sitten im Lande Liliput, deren Intrigen und Ränke Swift zu einer beißenden Satire auf die letzten zwei Jahrhunderte der englischen Geschichte dienen.
„Dieses Motiv bei Kafka ist dasselbe, das Browning in seinem 1876 erschienenen Gedicht „Fear and Scruples“ abhandelt“: Robert Browning veröffentlichte das für seine Verhältnisse kurze Poem – es umfaßt 13 Vierzeiler – in seiner fünfzehnten Sammlung von Gedichten, „Pacchiarotto, or How He Worked in Distemper,“ dem ersten Gedichtband, den er seit zwölf Jahren herausgebracht hatte. Der Titel bezieht sich auf den Maler Giacomo Piaccharotto, einen Sieneser Zeitgenossen von Leonardo und Raffael, dessen Bilder das titelgebende der 18 Poeme angeblich behandelt. Tatsächlich fährt Browning hier eine heftige Attacke gegen die Kritiker, die sein Werk als unpoetisch, unverständlich und bizarr verrätselt verrissen hatten: ein Vorwurf, der bei vielen Poemen Brownings mehr als berechtigt ist. Nicht selten verschwindet bei ihm der Stoff hinter einer undurchdringlichen Dornenhecke aus Anspielungen, obskuren Bildungssplittern, Vexierspielen und bewußter Fehllenkung. G. K. Chesterton hat in seiner kleinen Literaturgeschichte des viktorianischen Zeitalters, „The Victorian Age in Literature,“ 1913 in London bei Williams and Norgate verlegt, zu Browning angemerkt: „Die beiden Hauptvorwürfe gegen ihn betrafen die Verachtung des Formellen, und eine gewollte Unverständlichkeit, auf die er stolz war. Der Vorwurf trifft zu, nicht aber die Sache mit dem Stolz, denke ich. Der erste Vorwurf trifft schlicht nicht zu. Browning arbeitete sehr bewußt mit der Form. Wenn er eine neue Form erfindet, dann betrifft das nicht nur das Metrum, sondern auch den Strophenbau. Browning ist nicht chaotisch, sondern mit Vorsatz grotesk. Aber darüber hinaus zeigt er eine Neigung zur Perversion und Irrationalität, die ihn dazu verleitete, mitten in einem Gedicht den Clown hervorzukehren. Er meißelt dann keine verzerrten Wasserspeier mehr, sondern wirft nur noch mit Steinen. Wenn er ein doppeldeutiges Wort benutzt, scheint das den Anklang nicht aufzuladen, sondern einzuschränken. Das betrifft auch seine Suche nach unmöglichen Reimen. Es macht vielleicht Spaß, einen Reim auf „ranunculous“ zu finden, aber auch solche schlichte Scherze setzen voraus, daß sich das Ergebnis auch tatsächlich reimt, und ich bin bereit unter Eid zu schwören, daß das bei „Tommy-make-roomfor-your-uncle-us“ nicht der Fall ist.
Zu „Fear and Scruples“ hat Borges in “Kafka und seine Vorläufer“ angemerkt: „Jemand hat einen berühmten Mann zum Freund oder wähnt, ihn zum Freund zu haben, und – um die Wahrheit zu bestehen – dieser hat ihm bis zum heutigen Tag nicht helfen können, doch es wird erzählt, es gäbe kennzeichnende Beweise einer edlen Gesinnung und es wären Briefe im Umlauf, die davon berichten und die unzweifelhaft echt sind. Manche ziehen dies in Zweifel, die Literaturkenner sind überzeugt, daß es sich bei den Briefen um Fälschungen handelt. In der letzten Zeile stellt das lyrische Ich die Frage: „Und wenn dieser Freund nun niemand anders wäre als … Gott?“
Ah, but there's a menace some one utters!
"What and if your friend at home play tricks?
Peep at hide-and-seek behind the shutters?
Mean your eyes should pierce thro' solid bricks?
'What and if he, frowning, wake you, dreamy?
Lay on you the blame that bricks--conceal?
Say '_At least I saw who did not see me,
Does see now, and presently shall feel_'?"
"Why, that makes your friend a monster!" say you;
"Had his house no window? At first nod,
Would you not have hailed him?" Hush, I pray you!
What if this friend happen to be--God?
„Er schrieb in Kurrentschrift“: Kafka schrieb bis 1907 in der Deutschen Reich und in Österreich üblichen Schreibschrift, die erst 1911 von der von Ludwig Sütterlin im Auftrag des Preußischen Kultur- und Schulministeriums entwickelten, eben „Sütterlinschrift“ im Schulunterricht abgelöst wurde. Borges verwendet im Original den Ausdruck „letra gótica,” also „Fraktur.“ Natürlich war die Fraktur, auch wenn sie sich aus den Kopierschriften des Mittelalters entwickelt hat, niemals eine Schreibschrift, aber auf die Kurrent- wie die Sütterlinschrift fallen im Sprachgebrauch der Schriftkundler unter „gebrochene Schrift,“ weil sie im Gegenzug zu den „runden“ Schriftarten abrupte Winkel aufweisen statt geschwungene Bögen.
(Franz Kafka, Lebenslauf in Kurrentschrift)
„Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum mit mir etwas gemeinsam,“ notierte Kafka am 8. Januar 1914 in seinem Tagebuch. Im Zuge des starken Zuzugs von Juden aus dem Osten des Deutschen Reiches, die vor den Wirren und Kampfhandlungen an der Front im Osten nach Prag geflohen waren und dem Erstarken des organisierten Zionismus, der sich für eine Heimstatt in Palästina stark machte, änderte sich diese Haltung grundlegend. Nach der Balfour-Deklaration vom November 1917, in der sich die englische Regierung zur Schaffung einer „jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina“ bereiterklärt hatte, nahm auch in der Prager Diaspora das Interesse an diesem Ziel des Zionismus stark zu, auch wenn die meisten assimilierten Juden, nicht nur in Prag, nicht daran dachten, ihre bürgerliche Existenz für ein beschwerliches Pionierleben in einer abgelegenen Provinz des Osmanischen Reichs aufzugeben. Nur gute 4 Prozent der Juden im Deutschen Reich waren Parteigänger des organisierten Zionismus, und selbst von diesen siedelten nur die wenigsten über (die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner im britischen Mandatsgebiet Palästina lag Ende der zwanziger Jahre bei etwa 50.000.) Wie der Berliner Journalist Leopold Schwarzschild in der von ihm gegründeten Wochenzeitschrift „Das Tage-Buch“ etwas später süffisant glossierte: „Ein Zionist ist ein Jude, der mit der ganzen Kraft seiner nationalen Überzeugung darauf hinarbeitet, daß ein anderer Jude mit dem Gelde eines dritten Juden nach Palästina übersiedelt“ (Das Tage-Buch, 3. Mai 1930). Im Sommer 1917 begann Kafkas Verlobte Felice Bauer auf dessen Drängen, in der Verwaltung des Berliner Waisenhauses „Das Volksheim“ mitzuarbeiten, in dem viele elternlose Kinder aus dem Osten des Reiches Unterschlupf gefunden hatten. Zu ihren Arbeitskollegen dort gehörte der junge, radikal eingestellte Salman Rubaschow, der später als Salman Schasar von 1963 bis 1973 der dritte Präsident des Staates Israel werden sollte. (Es ist gut möglich, daß eine Grußbotschaft Schasars zu den Worten zählen wird, die die Menschheit überdauern werden. Auf einer münzgroßen Scheibe aus Silizium, die der zweite Mensch, der den Mond betrat, Buzz Aldrin, dort im Juli 1969 im Meer der Ruhe niedergelegt hat, findet sich auch der Vers aus dem 72. Psalm eingraviert, den Schasar dafür auswählt hat: „In seinen Tagen sprosse der Gerechte und Fülle des Friedens, bis der Mond nicht mehr da ist“). Auch Kafka selbst beschäftigte sich in seinen letzten Lebensjahren öfter mit dem Gedanken, nach Palästina auszuwandern – ein Vorhaben, das bei seiner Familie auf heftigen Widerstand stieß.
„Erst in seinen letzten Lebensjahren wandte er sich dem Tschechischen und ebenso dem Hebräischen zu“: in Bezug auf das Tschechische (in der k.u.k. Doppelmonarchie auch oft „Böhmisch“ genannt) irrt Borges: in Kafkas Elternhaus wurde Deutsch gesprochen, aber mit dem Dienstpersonal und vor allem mit den Kunden im väterlichen Galanteriehandel wurde zumeist auf Tschechisch parliert. Auf diesem Grund legte Kafkas Vater Hermann, der gehofft hatte, sein ältester Sohn würde in seine Fußstapfen treten, großen Wert darauf, daß Franz seine Kenntnisse des Tschechischen im Lauf seiner Schulzeit verbesserte. Er soll es mit einem leichten deutschen Akzent gesprochen haben. Allerdings war die amtliche Verkehrssprache bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung, bei der Kafka als Prokurist arbeitete, seit der Ausrufung der Tschechischen Republik im Oktober 1918 nicht mehr das Deutsche, sondern das Tschechische.
Ab 1917 hatte Kafka begonnen, sich im Selbststudium erste Kenntnisse des Hebräischen anzueignen. Als Grundlage diente ihm dabei das Lehrbuch „Sefath‘ Amenu: Lehrbuch der hebräischen Sprache für Schul- und Selbstunterricht“ von Moses Rath (1887-1967), das im Februar 1917 in zweiter Auflage im Selbstverlag des Verfassers erschienen war. Max Brod notierte am 10. November 1917 in seinem Tagebuch, daß Kafka es bis zur 45. Lektion geschafft habe, wie man in seiner Biographie nachlesen kann. Kafkas Interesse am Hebräischen erwachte erneut, als er im Herbst 1922 die damals 18-jährigen Puah Ben-Tovim (1903-1991) kennenlernte, die zum Studium nach Prag gekommen war und für die zionistischen Kreise dort eine kleine Sensation darstellte. Eingeladen worden war sie dorthin von Hugo Bergmann, einem ehemaligen Klassenkameraden Kafkas, der tatsächlich zu jenen wenigen Auswanderern ins Heilige Land zählte und 1911 in Jerusalem die Leitung der Hebräischen Nationalbibliothek übernommen hatte. 1935 wurde er Dekan an der 10 Jahre zuvor eröffneten Hebräischen Universität. Bergmann war es übrigens, der Max Brod „zum Zionismus bekehrt“ hatte. Die Großeltern Puahs waren 1888 vor der Gefahr der zahllosen Pogrome im Russischen Reich als eine der ersten Familien im Zuge der „ersten Alijah“ nach Palästina geflohen; in Jerusalem waren sie im südlichen Vorort Talpiot in der Ben-Gedi-Straße Nachbarn des Journalisten und Schriftstellers Elieser Ben-Jehuda (1858-1922), dem die Wiederbelebung des Althebräischen von einer erstarrten Liturgiesprache zu einem lebendigen, modernen Idiom, dem Iwrit, zu verdanken ist. Mit seinen Kindern Ben-Zion (geboren 1882) und Dola (geboren 1902) unterhielt er sich nur auf Hebräisch; sie waren die ersten, denen dieses Idiom zur Muttersprache wurde. (Weil Ben-Jehuda lange Zeit damit beschäftigt war, passende Wortableitungen für all die alltäglichen Dinge zu schaffen, von denen das klassische Hebräisch noch nichts wußte, kann man in Berichten von Besuchern im Haus Ben-Jehuda nachlesen, daß die Mahlzeiten dort so abliefen, daß der Vater mit dem Finger auf das Gewünschte zeigte und seine Kinder bat: „Gib mir das da und das da und jenes!“ Die Anekdote findet sich in Benjamin Harshavs Werk über die Entstehung des Iwrit, „Language in the Time of Revolution,“ The University of California Press, 1993.)
Auch Puah, die zu den Spielkameraden von Ben-Jehudas Kinder gehörte, wuchs von klein auf in dieser Sprache auf. Als sie im September 1922 in Prag eintraf (Hugo Bergmann hatte ihr ein Zimmer in seiner Prager Wohnung als Quartier angeboten) und Kafka ihre Bekanntschaft machte, war das Palästina-Mandat gerade vom Völkerbund ratifiziert worden (am 22. Juli) und hatte damit gewissermaßen „offiziellen Status“ (Hebräisch war darin offiziell als Amtssprache neben dem Englischen und Arabischen anerkannt worden). Kafka bat Puah irgendwann im Lauf des Winters 1922/23 darum, ihm regelmäßig Unterricht zu geben und ihm besonders bei der alltäglichen Konversation zu schulen – eine Aufgabe, bei der sich Raths Lehrbuch als wenig hilfreich erwiesen hatte. Puah hatte nach ihrer Ankunft in Prag damit begonnen, Vorträge und Konversationsübungen anzubieten, etwa im jüdischen Wanderbund Blau-Weiß; ein kleines Gehalt bezog sie, weil ihr die Prager Talmud-Thora-Schule eine Stelle als Religionslehrerin anbot. Kafkas Gesundheitszustand war zu dieser Zeit schon schwer angeschlagen; von Dezember 1921 bis Anfang August 1922 hatte er acht Monate Kuraufenthalt in Matliary in der Hohen Tatra verbracht; als der danach seine Arbeit wiederaufnahm, mußte er sie nach acht Wochen wieder aufgrund von Fieberanfällen und Kreislaufschwäche aufgeben; am 1. Juli 1922 wurde er in den „vorübergehenden Ruhestand“ versetzt.
In Kafkas Nachlaß haben sich vier Vokabelhefte erhalten, in denen er auf jeweils mehr als 70 Seiten Listen der im Alltag unentbehrlichen Wörter von „Straßenecke,“ „Leberfleck,“ „Zahnbürste“ bis „Kanarienvogel“ notiert hat. Dazu kommen zwei Entwürfe von Briefen, die er auf Hebräisch an Puah gerichtet hat, und die sich auf ihren Umzug nach Berlin im Juli 1923 beziehen. Kafka selbst siedelte im September 1923 nach Berlin um, wo er mit der 25-jährigen Dora Diamant, die er im Juli bei einem weiteren Kuraufenthalt im Müritz an der Ostsee kennengelernt hatte, zunächst in der Miquelstraße 8 in Steglitz, weitab von der Unruhe der Großstadt, danach vom 15. November bis zum 1. Februar 1924 in Steglitz in der Grunewaldstraße 13 und zuletzt ab Februar 1924 in der Heidestraße 25-26 im Stadtteil Zehlendorf. Daß Kafka und seine letzte Verlobte zu den schlimmsten Zeiten der Hyperinflation überhaupt über die Runden kamen, verdankten sie dem Umstand, daß die Arbeiter-Versicherung Kafkas bescheidene Pension nicht in Reichs- bzw. Goldwährung, sondern in tschechischer Währung überwies. Als Kafka nach dem Einsetzen neuer Fieberschübe und Schluckbeschwerden Anfang April 1924 das Sanatorium Wiener Wald in Ortmann in Niederösterreich aufsuchte, mußten die behandelnden Ärzte feststellen, daß die bei ihm seit Ende 1917 festgestellte Lungentuberkulose auf den Kehlkopf übergegriffen hatte und keinerlei Heilungsmöglichkeiten mehr bestanden. Kafka verbrachte seine letzten 46 Lebenstage im Sanatorium von Dr. Hugo Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg, in einem Krankenzimmer im ersten Stock mit Blick auf den nach hinten hinausgehenden Garten, gepflegt von Dora Diamant und seinem Freund Robert Klopstock, den er drei Jahre zuvor in Matliary kennengelernt hatte und der zeitweise sein Medizinstudium aufgrund der eigenen Tuberkulose-Erkrankung aufgeben mußte. In diesen letzten Wochen konnte Kafka kaum noch sprechen; er verständigte sich mit Hilfe von Zetteln. Am 2. Juni 1924 schrieb er seinen letzten Brief an seine Eltern nach Prag, in dem er ihnen von einem geplanten Besuch dringend abriet, obwohl er sich große Mühe macht, ihnen seinen wirklichen Zustand zu verschleiern („Alles ist in den besten Anfängen – letzthin konstatierte ein Professor eine wesentliche Besserung des Kehlkopfes“). Am nächsten Tag, Sonntag, dem 3. Juni um die Mittagszeit, ist Franz Kafka gestorben, genau einen Monat vor seinem 41. Geburtstag.
Der Kontakt zu Puah Ben-Tovim war kurz nach Kafkas Umzug nach Berlin (am Sonntag, dem 23. September 1923), endgültig abgerissen. Nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem heiratete sie den Erzieher Josef Schlomo Menczel; ihr ältester Sohn, Ehud Netzer, 1934 geboren (er änderte seinen Familiennamen, damit er nicht fortwährend falsch geschrieben werden sollte), wurde später einer der erfolgreichsten Archäologen Israels; er nahm an Ausgrabungen der Festung Masada teil und entdeckte 2007 in der Bergfestung Herodium, 12 km südlich von Jerusalem gelegen, das Grab des Herodes. (Der kleine Pedant will nicht verschweigen, daß diese Deutung von anderen Archäologen in Zweifel gezogen worden ist.) Zur Zeit des Sechstagekriegs 1967 leitete sie das Gymnasium in Be’er Schewa am Nordrand der Negev-Wüste. (Seit jenem Jahr hat sich die Einwohnerzahl der viertgrößten Stadt Israels, vor allem durch Eingemeindungen, auf gut 200.000 verdreifacht.) Im Februar 1991 starb sie im Alter von 87 Jahren in Jerusalem.
Einer der beiden Briefe, die Kafka im Juni 1923 aus Prag an Puah schrieb, als diese für kurze Zeit die Stadt verließ, um ihren Umzug nach Berlin vorzubereiten. Das „lache nicht,“ das in der Klammer in der dritten Zeile steht, bezieht sich auf das vorhergehende „Europa“ – also rechts davon stehend, dessen genaue Schreibweise Kafka nicht geläufig war und das er „nach Gehör“ schrieb. Der Text lautet in der Übersetzung von Hartmut Binder:
Ich verstehe nicht alle Deine Sorgen wegen der Widerstände Deiner Eltern gegen Dein Studium. Ich hielt es schon für sicher, dass Du noch anderthalb Jahre in Europa (lache nicht) bleibst, ist das noch nicht sicher? Und gerade jetzt haben sie diese Frage entschieden? Nebenbei: Es ist doch unmöglich, dass Du jetzt schon einen Brief Deiner Eltern bekommen hast, in dem Du das Ergebnis der Unterredung Hugos mit Deinen Eltern findest, auch Hugos Frau, mit der ich heute sprach, hat bis jetzt keinen Brief von ihrem Mann in Jerusalem bekommen. Aber ich verstehe gut die Verwirrung, in der man auf einen entscheidenden Brief wartet, der die ganze Zeit herumirrt. Wie viele Male in meinem Leben habe ich in einer solchen Angst geglüht. Ein Wunder, dass niemand früher zu Asche wird als es in Wirklichkeit geschieht. Es tut mir sehr leid, dass auch Du so leiden musst, arme liebe Puah, aber inzwischen kommt schon der Brief, und alles ist gut.
II.
Auch Lesern, die mit dem Oeuvre von Jorge Luis Borges (oder dem von Franz Kafka) auf weniger vertrautem Fuß stehen, dürfte beim Stichwort „Borges und Kafka“ der kleine Essay „Kafka und seine Vorläufer“ in den Sinn kommen, der aus dem gleichen Jahr stammt wie der oben übersetze Text, nämlich 1951. Dort geht Borges seiner eingangs erwähnten Suche nach dessen Vorläufern etwas detailliert nach („buscamos precursores literarios de Kafka, y creímos encontrarios en muchos autores“) und listet einige Beispiele dafür auf, angefangen mit einer Fabel von Han Yu (韩愈), einem chinesischen Dichter der Tang-Zeit, die er Georges Margoulies‘ „Anthologie raisonnée de la littérature chinoise“ von 1948 entnommen hat und die davon handelt, daß wir ein Einhorn nicht erkennen könnten, wenn wir ihm begegnen würden (ein veritables Paradox, da der Anblick eines Qilin in der chinesischen Tradition das höchste Glücksversprechen ist, weswegen es im Chinesischen auch die Bezeichnung 瑞兽/Ruìshòu, „Glückstier“ trägt), über Beispiele bei Kierkegaard, das ebenfalls oben erwähnte Gedicht von Robert Browning, Léon Bloy und Lord Dunsanys Erzählung „Carcassonne“ (eine Übersetzung des letzten Texts findet sich in Zettels Raum vom 15. Juni 2020), die uns heute als klare Vorwegnahme kafkascher Konstellationen, eben „kafkaesk“ erschienen. Borges schließt mit einer Beobachtung, die es seitdem unter die klassischen Paradoxa geschafft hat, ähnlich den fröhlichen Sottisen Oscar Wildes, den Kafka nicht mochte:
“El hecho es que cada escritor crea a sus precursores. Su labor modifica nuestra conciencia del pasado, como ha de modificar el futuro.” (Es ist so, daß jeder Autor seine Vorläufer erschafft, Sein Werk verändert unsere Vorstellung von der Vergangenheit, so wie es die Zukunft verändern wird.)
(Eine kleine Nebenbemerkung zu meiner Übersetzungspraxis: Borges englischer Übersetzer Eliot Weinberger gibt dieses „el hecho es“ mit „The fact ist that…“ wieder; sein erster deutscher Übersetzer Curt Meyer Clason hat sich für „Tatsache ist…“ entschieden; die französische Übersetzung sagt „Le fait est que…“ Ich habe das schlichtere „Es ist so…“ gewählt. In seinen buchlangen Gesprächen, die Borges auf Englisch mit Willis Barnstone geführt hat und die 1982 unter dem Titel „Borges at Eighty“ erschienen sind, weist J.L.B. darauf hin, daß es bei Übertragungen aus dem Spanischen darauf ankommt, „ein niedrigeres rhetorisches Register zu wählen,“ da die unzähligen dem Lateinischen entlehnten Wortstämme bei einer schlichten Übernahme dem Text eine Gestelztheit verleihen, die dem Original völlig fremd ist: ein Satz wie „entró en una habitación oscura“ verleitet Muttersprachler des Englischen leicht dazu, dies mit „he entered into an obscure habitation“ wiederzugeben – „was sich wie ein Satz aus der barock verschnörkelten Diktion von Sir Thomas Browne anhört“ – während im Original schlicht „er trat in ein dunkles Zimmer“ gemeint ist.)
„Kafka y su precursores” ist zuerst in der in Buenos Aires erscheinenden Tageszeitung „La Nación“ gedruckt worden, in der Ausgabe vom 19. August 1951 und im folgenden Jahr in Borges zweite Sammlung von Essays, „Otras inquisiciones,“ aufgenommen worden. Im gleichen Monat erschien in der Nummer 202 von „Sur“ die kleine Erzählung „Abenjacan el Bojari, muerto en su laberinto,“ eine der vier neuen Erzählungen, die ebenfalls 1952, in die zweite Auflage des Erzählbandes „El Aleph“ Eingang fand.
„Kafka und seine Vorläufer“ nun beruht auf der leicht redigierten und gestrafften Mitschrift des dritten von drei Abendvorträgen, die Borges im Mai im Rahmen einer Gastvorlesungsreihe, die vom Colegio Libre de Estudios Superiores an der Universität von Buenos Aires gehalten hatte: „Oscura vida y póstuma gloria de Kafka“ (am 4. Mai), „Las narraciones, los fragmentos, los aforismos“ (am 11. Mai) und schließlich “Las novelas de Kafka” (am 18. Mai, jeweils eine halbe Stunde lang mit Beginn um 19 Uhr).
Borges war zu dieser Tätigkeit als „Handlungsreisender in Sachen Literatur“ gekommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind. Als junger, angehender Autor, und zudem ohne jegliche brauchbare berufliche Qualifikation (sein Baccalauréat hatte er in Genf nicht ablegen können, nachdem die Familie nach dem Ende des Krieges zunächst nach Madrid gezogen und im September 1922 nach Buenos Aires zurückgekehrt) hatte er kostfrei im elterlichen Haushalt in der Calle Quintana 222 gelebt und sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen können (anders als Hermann Kafka sah Jorge Guillermo Borges in seinem Sohn die Erfüllung all der Träume von dichterischer Kreativität, die ihm selber verwehrt geblieben war; er hatte die Arbeit an einem eigenen Roman mit dem Titel „El caudillo“ aufgegeben, weil ihm seine Talentlosigkeit nur zu schmerzlich bewußt war). Ende 1937 hatte sein Vater einen Schlaganfall erlitten, der ihn blind und auf der linken Körperhälfte gelähmt zurückgelassen hatte und an dessen Folgen er am 24. Februar 1938 starb. Zum ersten Mal sah sich Borges jun. der Notwendigkeit ausgesetzt, einen Brotberuf ausüben zu müssen. Von dem kargen Honorar, das er für seiner zweiwöchentlich erscheinende Kolumne in der Damenzeitschrift „El Hogar“ erhielt, konnte er nicht leben. Auf Vermittlung einiger Freunde fand er eine Anstellung als Hilfsbibliothekar an der kleinen Stadtbücherei Miguel Cane, im Arbeiterviertel Almagro Sur, am östlichen Stadtrand gelegen (die Calle Quintana verläuft in der Nähe des Hafens). Sein Lohn belief sich auf monatlich 210 Pesos; auf nach der einige Zeit später erfolgten Erhöhung auf 240 Pesos war dies ein wahrer Hungerlohn. Borges wurde schnell klar, daß sein Posten eine Sinekure zur Versorgung ähnlich lebensunpraktischer Zeitgenossen handelte, von denen die meisten allerdings keinerlei geistige Interessen an den Tag legten. Der Buchbestand belief sich auf gute 25.000 Bände. In seinem auf Englisch diktierten „Autobiographical Essay,“ der am 11. September im „New Yorker“ erschien, heißt es: An die fünfzig von uns taten, was fünfzehn leicht hätten ausführen können. Meine Aufgabe, die ich mit 15 oder 20 Kollegen teilte, bestand Klassifizieren und Katalogisieren der Bestände. Allerdings war die Sammlung so klein, daß wir die Sammlung auch ohne Katalog fanden. … Ich hielt es neun Jahre lang in der Bibliothek aus. Es waren neun Jahre soliden Unglücklichseins. Während der Arbeit interessierten sich die anderen für nichts als Pferderennen, Fußball und Zoten. … Seltsamerweise war ich zu dieser Zeit ein recht bekannter Autor – außer in der Bibliothek. Ich erinnere mich, daß ein Kollege einmal in einem Nachschlagewerk auf den Namen Jorge Luis Borges stieß - ein Umstand, über den er sich wegen der zufälligen Übereinstimmung mit meinem Namen und Geburtsdatum ziemlich wunderte.“ (In einer recht borgesken – oder kafkaesken – Weise hat sich das im Fall der Herausgebers der 20-bändigen deutschen Werkausgabe im Hanser Verlag in den späten achtziger Jahren wiederholt: Eine Lektorin bei Hanser hatte den Namen Gisbert Haefs als Verfasser der Kriminalromane um Bathasar Matzbach entdeckt und fragte bei dessen nächster Verlagsvisite, ob es sich um einen Verwandten von ihm handeln würde; worauf Haefs mit Pokerface erklärte: ja, da gäbe es gewisse personelle Überschneidungen.)
Im Februar 1946 gewann Juan Péron die argentinischen Präsidentschaftswahlen mit einer absoluten Mehrheit von 54 Prozent und begann in den Folgemonaten, seinen Staatsapparat in den einer Personaldikatur umzuwandeln, mit der Auflösung einer unabhängigen Justiz, einer Verstaalichung eines Großteils der Industrie und der Entlassung aller vermeintlichen Gegner aus dem Staatsdienst. Mitte Juli traf es auch den Hilfsbibliothekar Borges, der aus seiner entschiedenen Gegnerschaft zum italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialimus in seinen Veröffentlichungen nie einen Hehl gemacht hatte (in seiner „Anotación de 23 agosto de 1944,“ im Oktober 1944 in „Sur“ erschienen, heißt es: „Der Nazismus krankt an Irrealität. Die Menschen können in ihm nur sterben, in seinem Namen lügen, morden und Blut vergießen. Niemand kann in seinem tiefsten Herzen wünschen, daß er siegreich ist. Ich möchte die Vermutung äußern: Hitler will besiegt werden.“) Péron und seine Clique hingegen waren inbrünstige Verehrer des Faschismus; er selbst hatte nach dem Staatstreich von General Julián Farrell im November 1943 als Vizepräsident auf eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich hingearbeitet und mit dem deutschen Auslandsgeheimdienst SD ein Abkommen über wechselseitige Zusammenarbeit abgeschlossen. Am 15. Juli 1946 erfuhr Borges aus der Zeitung, daß er als einer der bekanntesten Intellektuellen des Landes befördert worden war: zum „Marktinspektor für Geflügel“ - „Inspector des aves de corral.“ Borges hat diesen Spottitel in Interviews meist um „aves y conejos“ ergänzt, um Kaninchen also, in deren Bezeichnung des Hasenfüßige anklingt. Borges schreibt dazu: „Ich ging ins Rathaus, um herauszufinden, was das bedeuten sollte. ‚Sehen Sie,‘ sagte ich, ‚das ist doch seltsam, daß ausgerechnet ich als Bibliotheksangestellter einen solchen Posten erhalte.‘ ‚Ja,‘ antwortete der Beamte, ‚Sie waren doch auf der Seite der Alliierten. Was haben Sie denn eigentlich erwartet?“ Die offizielle Begründung war, daß Borges öffentliche Erklärungen gegen Péron unterzeichnet hatte, obwohl er sich als Staatangestellter jeglicher politischer Äußerung zu enthalten hatte. Rául Salinas, der in der Zeit von 1946 bis 1951 das Amt des Staatssekretärs von Kultur der Stadt Buenos Aires innehatte, hat den Vorgang 1995 in einem Interview mit Borges‘ Biograph Edwin Williamson anders geschildert. Demnach hätte Péron wichtigere Dinge zu erledigen gehabt, als sich um die Geschicke eines völlig unbedeutenden Bibliotheksangestellten zu kümmern. Borges‘ Name habe auf einer Liste von 2000 Namen gestanden, die ihre Anstellung verlieren sollten. Da es sich bei ihm aber um einen der bekanntesten Intellektuellen des Landes handelte und sich die Stadtverwaltung hier keine Blöße geben wollte, sei man auf den Trick verfallen, ihm einen Posten im Landwirtschaftsministerium zu geben: in der Abteilung für Bienenzucht (Direccíon de apicultura); durch einen Tippfehler sei daraus „Avicultura“ geworden.
(Kommentar in der argentinischen Zeitung "Democracia," dem Hausblatt der Perónistischen Partei, vom 16. Juli 1946)
In Borges’ “Autobiographical Essay“ heißt es weiter:
Ich war nun stellungslos. Einige Monate hatte eine alte Dame aus England für mich meine zukunft aus Teeblättern gelesen und mir vorausgesagt, ich würde in Zukunft viel Reisen unternehmen, Vorträge halten und damit viel Geld verdienen. Als ich das meiner Mutter berichtet, mußten wir beide laut lachen, weil mir öffentliche Auftritte überhaupt nicht lagen. Während dieser Zeit kam mir ein Freund zu Hilfe, der mir an der Argentinischen Gesellschaft für englische Kultur eine Stelle als Dozent für englische Literatur verschaffte. Gleichzeitig bekam ich vom Colegio Libre des Estudios Superiores den Auftrag, Vorlesungen über die klassische amerikanische Literatur zu halten. Das war ein Vierteljahr vor dem Beginn des Semesters, und so nahm ich beide Einladungen mit gutem Gewissen an. Aber je näher der Termin rückte, desto nervöser wurde ich. Ich sollte eine Reihe von neun Vorträgen halten, über Hawthorne, Poe, Thoreau, Emerson, Melville, Whitman, Mark Twain, Henry James und Thorstein Veblen. Die erste davon formulierte ich schriftlich aus; für die zweite blieb mir dafür keine Zeit. Zwei Tage vor dem zweiten Vortrag unternahm ich abends einen langen Spaziergang mit meiner Mutter durch Adrogué, auf dem ich sie bat, die Zeit zu messen, während ich meinen Vortrag hielt. Es war zu lang. ‚In dem Fall,‘ sagte ich, ‚brauche ich mir keine Sorgen zu machen.‘ Ich hatte befürchtet, daß mein Stoff nicht ausreichen würde. So begann für mich im Alter von 47 Jahren ein neues und aufregendes Leben. Ich reiste quer durch Argentinien und Uruguay, hielt Vorträge und Seminare über Swedenborg, Blake, persische und chinesische Mystiker, den Buddhismus, die Dichtung der Gauchos, Martin Buber, die Kabbala, das Buch von Tausendundeiner Nacht, T. E. Lawrence, die deutsche Dichtung des Mittelalters, die isländischen Sagas, Heine, Dante, den Expressionismus und Dante. Ich reiste von Stadt zu Stadt und übernachtete in Hotels, die ich nie wieder aufsuchen würde, dabei begleiteten mich mitunter meine Mutter oder ein Freund. Ich verdiente nicht nur erheblich mehr Geld als zu meiner Zeit in der Bibliothek, diese Arbeit bereitete mir auch Freude und ich sah mich durch sie bestätigt.
* * *
Auch der von mir ausgewählte Text über Kafka stellt einen solchen Vortrag dar. Allein 1951 hielt Borges insgesamt 59 solcher Vorträge, darunter vier über George Bernard Shaw, weiter vier je über Herman Melville und James Joyce, je zwei über G. K. Chesterton und Martin Buber sowie fünf über Kafka. Der letzte Vortrag dieses Jahres, gehalten am 19. Dezember vor der Sociedad Cientifica Argentina über das Thema „El escritor argentino y la tradición,“ wurde 1953 in die zweite Auflage des Essaybandes „Discusión“ aufgenommen. Die Notizen, die sich Borges dafür gemacht hat, liegen heute in der ihm gewidmeten Sammlung an der University of Pittsburgh. Dan Balderston hat den Entstehungsprozess dazu in seinem 2018 erschienenen Band „How Borges Wrote“ nachgezeichnet (S. 237-43 und 251-57).
Der von mir ausgewählte Text ist der letzte der Vorträge über Kafka; gehalten wurde er am 6. September 1951 an der Universität von San Pedro in Montevideo auf Einladung der Vereinigung der „Amigos del Arte.“ Anders als bei dem größten Teil dieser Vorträge ist der genaue Wortlaut hier nicht verloren gegangen. In der in Montevideo erscheinenden Tageszeitung „El País“ erschien nicht nur am Morgen des Vortrags einer Ankündigung des öffentlichen Vortrags, sondern auch 5 Tage später, am 11. September, der per Stenographie festgehaltene Text selbst. Seitdem ist der kleine Essay nie wieder gedruckt worden; er ist in keiner Sammlung von Borges aufgenommen worden (und natürlich ist er auch niemals in eine andere Sprache übersetzt worden). Daß diese einzige Publikation auf den Tag genau 50 Jahre vor einem anderen elften September stattfand, der sich unauslöschlich ins Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat, darf bei einem Text, der am Schluß von „der Sintflut“ spricht, die „über die Welt hereinbrach, als ob sie auf sein Wort gehört hätte, mit Henkern und Gerichten, die genauso absurd waren wie die, die er erdacht hatte,“ als WIRKLICH kafkaesk verbucht werden.
Im Zusammenhang mit Ehud Netzer habe ich erwähnt, daß er sich zu einer Änderung seines Nachnamens veranlaßt sah, weil die vokallose hebräische Schreibweise zu zahllosen Entstellungen des Namens Menczel in Dokumenten und Berichten führte. Der Satz „Es ist mir gleich, was sie über mich schreiben – solange der Name richtig geschrieben wird“ wird zumeist dem amerikanischen König des Showbusiness P. T. Barnum zugelegt. Tatsächlich taucht der Satz in einem Bericht des „St. Johnsbury Caledonian“ aus Vermont vom 9. August 1888 in ziemlich ähnlicher Form auf, in dem es um einen vermeintlichen Erpressungsversuch geht.
Als Barnums Museum noch an der Straßenecke zwischen Ann Street und dem Broadway befand, stattete ihm eine „Dame vom Land“ einen Besuch ab und fragte nach Mr. Barnum. Nachdem sie sein kleines Büro mit vieler Mühe endlich gefunden hatte, ergab sich folgendes Gespräch: „Mr. Barnum, ich habe Sie überall gesucht, und bin froh, Sie endlich gefunden zu haben.“ „Und ich freue mich, daß Sie mich gefunden haben. Was kann ich für Sie tun? Haben Sie das Museum schon besichtigt?“ „Nein, Sir. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich ein Buch schreibe.“ „Das freut mich noch mehr; es ist großartig, wenn eine Dame ein Buch schreibt. Ich wünsche ihnen viel Erfolg. Bitte besuchen Sie das Museum und sehen sich die Vorstellung an.“ Die Dame erhob sich, sah sich die Ausstellung an, besuchte die Vorstellung und suchte nach einiger Zeit wieder den größten Schausteller der Welt auf. „Da bin ich wieder, Mr. Barnum.“ „Das sehe ich, Madame. Haben Sie sich die Schau angesehen? Hat sie Ihnen gefallen?“ „Ja, Mr. Barnum. Aber ich möchte mit Ihnen über das Buch sprechen.“ „Madame, seit Sie mir davon erzählt haben, habe ich nichts anderes mehr gedacht. Die Vorstellung gefällt mir. Ich hoffe, Sie haben viel Erfolg damit.“ „Ja, Mr. Barnum. Aber ich werde darin einiges schreiben, das Ihnen mit Sicherheit nicht gefallen wird.“ „Oh, das macht nichts, Madame. Schreiben Sie Ihr Buch, bringen Sie es heraus, verdienen Sie gut daran. Sie können alles über mich schreiben, was Sie wollen – aber schreiben Sie meinen Namen bitte korrekt. P. T. B-a-r-n-u-m. Dann bin ich zufrieden.“
In der Ankündigung des Vortrags über Kafka in der Ausgabe des montevideanischen „El País“ vom 5. September 1951 findet sich der Name als „Franz Kafta.“ Das ist aber noch gar nichts gegen die Kreativität, die der Redakteur oder Volontär der gleichen Zeitung kurz darauf bei der Anzeigenacquise per Fernsprecher an den Tag legte. Die Namen der „zehn Männer aus dem 18. Jahrhundert,“ über die Borges eine Vortragsreihe ankündigt, lauten wie folgt:
(El País vom 15. September 1951)
Natürlich handelt es sich dabei um Daniel Defoe, Alexander Pope, James MacPherson (den Erfinder der „ossianischen Gesänge“) und Samuel Johnsons Eckermann, James Boswell. Erklärbar wird dergleichen nur dadurch, daß die Vortragsreihe, die Borges zwischen dem 27. September und dem 5. Oktober in Montevideo hielt, von den Veranstaltern nicht schriftlich, sondern nur per Telefon angekündigt wurde und diese Namen dem diensttuenden Redakteur, um bildlich in Kafkas Heimat zu blieben, böhmische Dörfer waren.
Da in der Anekdote über Barnum (die dieser höchstwahrscheinlich selbst erfunden haben dürfte) das Stichwort „Straßenecke“ fiel, sei daran erinnert, daß sich Kafka unter anderem die neuhebräische Wendung für „Straßenecke“ in eins seiner Vokabelhefte notierte (in das Heft B und zwar dort auf S. 13, wie man dem äußerst peniblen Bericht über „Kafkas Hebräischstudien“ von Hartmut Binder entnehmen kann (Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 11. Jahrgang, 1967, S. 527 bis 556, hier Fußnote 39 auf S. 538). Borges‘ erste Erzählung überhaupt, kein vorgeblicher Essay, sondern eine freie erzählende Fiktion, erschien am 16. September 1933 unter dem Pseudonym „F. Bustos“ in der Zeitschrift „Crítica: Revista multicolor de los Sábados“; sie trägt dort den Titel „Hombre de las orillas“ („Der Mann von der Küste“). Seit ihrer ersten Buchpublikation in „Historia universal de la infamia“ zwei Jahre später ist dieser Text nur noch unter dem Titel „Hombre de la esquina rosada“ veröffentlicht worden. Und „esquina“ ist nun einmal das spanische Wort für – Straßenecke. Die deutsche Übersetzung läßt die „rosa Straßenecke“ im Original („Mann von Esquina Rosada“), während die englische als „Streetcorner Man“ firmiert.
III.
Weiter oben habe ich erwähnt, daß die erste Erzählung Kafkas, von der wir einigermaßen sicher annehmen können, daß Borges sie gelesen hat, „Ein Traum“ im „Almanach der Neuen Jugend“ war. Und gerade zu diesen kleinen Poeme en prose gibt es eine nachgerade gespenstische „literarische Vorwegnahme“ – in der Kurzgeschichte „August Heat“ von William Fryer Harvey, zuerst erschienen in dessen Erzählungsband „Midnight House and Other Tales,“ der 1910 im Londoner Verlag J. M. Dent publiziert wurde. Harvey (1885-1937), dessen schmales Werk bis auf eine Handvoll Gruselgeschichten heute noch vergessener ist als das von David Garnett, veröffentlichte zumeist nur unter Angabe seiner Initialen.Die meisten seiner neun zu Lebzeiten erschienen Bücher befassen sich mit seinem Glauben (Harvey war Quäker). Im Ersten Weltkrieg diente er, wie so viele Pazifisten, als Sanitäter; bei einem Einsatz wurde seine Lunge durch Giftgas so geschädigt, daß er für den kurzen Rest seines Lebens ein Invalide blieb. Von seinen gut 50 unheimlichen Erzählungen, die er in drei Sammelbänden publiziert hat, ohne den seinerzeit üblichen Weg über vorhergehende Magazinpublikationen zu gehen, haben es zwei ins kollektive Gedächtnis der passionierten Leser dieses Genre geschafft: „The Beast with Five Fingers“ aus dem Jahr 1928 und eben „August Heat,“ vor allem, weil sie Eingang in zahlreiche Anthologien gefunden haben: „August Heat“ wurde zwischen 1928 und 2021 im englischen Sprachraum in 28 unterschiedliche Sammlungen aufgenommen, „The Beast with Five Fingers“ gar in 31.
In Kafkas knapp zwei Seiten umfassendem Text geht es um einen Traum von Joseph K., aus dem „Prozeß,“ der davon träumt, sich auf einem Friedhof wiederzufinden, von einem frischen Grabhügel unerklärlicherweise magisch angezogen fühlt und auf dem zwei Männer einen Grabstein in die Erde rammen, woraufhin ein dritter, „den K. gleich als einen Künstler erkannte,“ damit beginnt, mit einem Bleistift eine Inschrift in Goldbuchstaben auf den Grabstein zu malen. Auf das „Hier ruht -“ hält er inne, nach dem ersten Buchstaben des Vornamens, einem J, versagt ihm die Hand – aber Joseph K. erkennt, um was es geht:
Endlich verstand ihn K., ihn abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet, nur zum Schein war eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zierraten über den Stein.
Entzückt von diesem Anblick erwachte er.
In „August Heat,“ mit 1800 Wörtern Länge ebenfalls keine abendfüllende Vorstellung (in den meisten der 40 Abdrücke – hinzu kommen noch 5 Nachdrücke auf Niederländisch, vier auf Deutsch und 3 auf Französisch – umfaßt der Text zwischen 5 und 6 Druckseiten), teilt der Ich-Erzähler dem Leser gleich zu Anfang mit, daß sein Name James Clarence Withencroft ist. Ein mäßig begabter Künstler von 40 Jahren, leidet er an diesem 20. August des Jahres 1900 unter einer glühenden Hitzewelle, die das Leben in London unerträglich macht. Während er wie gelähmt darauf wartet, fängt er zerstreut an, eine Zeichnung aufs Papier zu werfen, deren Resultat ihn überrascht:
„Sie zeigte einen Verbrecher auf der Anklagebank, unmittelbar nachdem der Richter das Urteil verkündet hatte. Der Mann war korpulent – von immenser Fettleibigkeit. Sein Fleisch hing in Wülsten um sein Kinn und umfloß seinen feisten, kurzen Hals. Er war glattrasiert (oder war es vor ein paar Tagen gewesen) und beinahe kahlköpfig. Er stand und sah starr geradeaus, seine kurzen Finger umklammerten das Geländer. Das Gefühl, das aus seiner Miene sprach, war nicht so sehr Entsetzen als ein völliger innerer Zusammenbruch. In diesem Berg aus Fleisch war keine Kraft mehr geblieben, um ihn aufrecht zu halten.“
Immer noch wie in Trance, beschließt der Erzähler, einen Spaziergang durch die glühende Luft des späten Nachmittags zu unternehmen; ohne zu wissen, wieso, steckt er sich seine Zeichnung ein. Nach fünf bis sechs Meilen Fußweg („das einzige, das ich bewußt wahrnahm, war die schreckliche Hitze, die vom staubigen Asphalt wie eine spürbare Welle aufstieg“) findet er sich vor dem Hofeingang eines Steinmetzateliers wieder: „Chs. Atkinson, Monumental Mason“ – wobei das „Monument“ hier keine Denkmäler, sondern Grabsteine meint. Er tritt hindurch und muß verblüfft feststellen, daß der stämmige Meister, der dort pfeifend an einem Marmorblock meißelt, der Gestalt auf seiner Zeichnung bis aufs Haar gleicht. Was unter seinem Meißel entsteht, ist ein Grabstein mit der Inschrift: „Dem Andenken an James Clarence Withencrroft gewidmet. Geboren 18. Jan. 1860. Er verstarb unerwartet am 20. August 190-“- „‘Wozu soll das gut sein?‘ fragte ich. Er brach in Gelächter aus. ‚Sie werden mir sicher nicht glauben, daß das für eine Ausstellung bestimmt ist, es so ist es. Künstler stellen ihre Werke aus, Lebensmittelhändler, Metzger… Und unsere Branche ebenso. Alle neuen Trends, was Grabsteine betrifft.‘“
„
Ich zog die Zeichnung aus der Tasche und zeigte sie ihm. Während er sie betrachtete, veränderte sich sein Ausdruck, bis er dem des Mannes auf dem Blatt glich. ‚Und ich habe erst kürzlich noch Maria erklärt, daß es keine Geister gibt.‘ Wir waren beide nie im Leben einem Geist begegnet, aber ich wußte, wie es gemeint war.“
Atkinson, der Steinmetz, lädt ihn zum Nachtmahl ein und bittet ihn dann, bis nach Mitternacht zu bleiben, bis das fatale Datum gewechselt hat.
„‘Wenn Sie heute abend noch nach Hause gehen, könnte Ihnen ein Unglück zustoßen. Sie könnten überfahren werden. Oder Sie könnten auf einer Bananenschale ausrutschen, oder von einer Leiter getroffen werden, die umfällt.‘“
„Wir sitzen in einem großen, niedrigen Zimmer gleich unter dem Dach. Atkinson hat seine Frau zu Bett geschickt. Er wetzt seine Werkzeuge mit einem kleinen Ölstein. Die Luft scheint wie vor einem Gewitter elektrisch geladen. Der Stuhl, auf dem ich sitze und schreibe, hat ein gesplittertes Bein, und wenn Atkinson die Schneide seines Meißels ausreichend nachgeschärft hat, wird er sich darum kümmern. Es ist jetzt nach elf. In weniger als einer Stunde werde ich nicht mehr hier sein. Aber die Hitze ist erstickend. Man könnte fast den Verstand verlieren.“
Ein Nachsatz informiert den Leser darüber, daß laut der amtlichen Statistik in den Vereinigten Staaten bei einer Temperatur von 92 Grad Fahrenheit mehr Morde geschehen als bei jeder anderen Temperatur.
(Der Kleine Pedant, der an dieser Stelle sein Recht auf Auslauf geltend macht, weist darauf hin, daß laut den Aufzeichnungen des offiziellen englischen Wetterdienstes in der zweiten Augustwoche des Jahres 1900 London tatsächlich von einer drückenden Hitzewelle heimgesucht wurde, mit Höchsttemperaturen von jeweils 35 Grad Celsius vom Montag, dem 6. August bis Samstag, dem 11.; daß aber in den Tagen danach die Temperatur nie wieder über 30 Grad gestiegen war; erst am Samstag, eben dem 20. August, wurde diese Marke wieder erreicht. Und zum ersten Mal seit jener knochentrockenen Woche fielen an jedem Samstag 2,18 Zentimeter Regen.)
IV.
Apropos „kafkaesk“: es kommt nicht oft vor, daß ein Schriftsteller nicht nur „seine Vorläufer erschafft“ – sondern daß er unseren Blick auf die Wirklichkeit grundsätzlich anders grundiert, daß er Phänomene, die das Leben der Menschen seit jeher begleiten, mit einem sofort verständlichen Namen belegt und sie damit, metaphorisch gesprochen, erst auftreten läßt. H. G. Wells, ein anderes literarisches Idol von Borges, der seine Laufbahn als Autor mit Magazinberichten über Entwicklungen aus der Wissenschaft begonnen hat, schrieb 1896 in der „Saturday Review“ über die vor kurzem erfolgte Entdeckung des Edelgases Argon durch John Rayleigh und William Ramsey: „Ihr ganzes Leben lang haben die Menschen Argon ein- und ausgeatmet, ohne davon jemals etwas zu ahnen!“ („The Possible Individuality of Atoms,“ Saturday Review, 5. September 1896).
Gemeinhin wird die bündige Formulierung einer solchen „kreativen Erschaffung der Wirklichkeit durch den Künstler“ Oscar Wilde zugeschrieben (den Kafka, wie wir wissen, nicht mochte). In seinem Essay in Dialogform „The Decay of Lying,“ im Januar 1889 in der Zeitschrift „The Twentieth Century“ erschienen und in ergänzter Form 1891 in die Sammlung „Intentions“ aufgenommen, heißt es:
Vivian: Ich möchte nur darauf hinweisen, daß allgemein gilt, daß das Leben die Kunst viel öfter nachahmt als es der umgekehrte Fall ist. Rein wissenschaftlich gesprochen, ist die Grundlage des Lebens – die Lebensenergie, wie Aristoteles sagen würde – das Bedürfnis, sich auszudrücken, und die Kunst Möglichkeiten an, wie dies zu erreichen ist. Das Leben bedient sich dieser Vorbilder und nutzt sie, auch wenn es ihm zum Nachteil ausschlägt.
Cyril: Eine sehr interessante These. Aber um sie zur ihrem Abschluß zu bringen, mußt du erst aufzeigen, daß nicht die Natur und nicht nur das Leben ein Nachahmung der Kunst darstellt. Bist du bereit, das zu beweisen?
Vivian: Ich bin bereit, alles zu beweisen.
Cyril: Die Natur folgt also den Landschaftsmalern, und übernimmt ihre Effekte?
Vivian: Aber gewiß doch. Von wem stammen denn die wunderbaren braunen Nebel, die durch unsere Straßen kriechen, die die Gaslampen in Schemen verwandeln und die Häuser in die Schatten von Ungeheuern? Wem, wenn nicht ihnen und ihrem Meister, verdanken die lieblichen silbernen Nebel, die über dem Fluß schweben und Brückenbögen und schaukelnde Kähne in grazile geschwungene Formen verwandeln? Der erstaunliche Wandel, der sich in den letzten zehn Jahren im Klima von London vollzogen hat, verdankt sich ganz allein der Kunst. Du lächelst. Betrachte die Sache einmal aus der Sicht der Wissenschaft oder der Metaphysik, und du wirst feststellen, daß ich recht habe. Was ist denn die Natur? Die Natur ist keine große Mutter, die uns geboren hat. Sie ist unsere Schöpfung. Erst in unserem Gehirn wird sie zum Leben erweckt. Die Dinge bestehen, weil wir sie sehen, und was und wie wir etwas sehen, hängt von den Künsten ab, von denen wir beeinflußt worden sind. Es ist etwas völlig anderes, etwas nur wahrzunehmen, und es zu SEHEN. Man kann etwas nur dann sehen, wenn man seine Schönheit erkennen kann. Erst dann wird es wirklich. Gegenwärtig sehen die Menschen den Nebel, und zwar nicht aus dem Grund, weil es Nebel gibt, sondern weil die Dichter und Maler ihnen ihre geheimnisvolle Schönheit aufgezeigt haben. Wahrscheinlich hat es seit Jahrhunderten Nebel in London gegeben. Mir scheint das recht wahrscheinlich. Aber niemand hat sie wahrgenommen, und deshalb wissen wir nichts von ihnen. Es gab sie nicht, bis die Kunst sie erfunden hat.
(Der Kleine Zyniker ist angesichts des Stichworts „Klimawandel“ in heftiger Versuchung – eingedenk Oscar Wildes Satz „Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung“ – hinzuzusetzen, daß es auch den medial allgegenwärtigen „Klimawandel“ nicht gab, bevor nicht kunstfertige schöpferische Geister von Al Gore, Stefan Rahmstorf bis hin zur Heiligen Greta ihn erfunden und in „zum Leben erweckt“ haben.)
Auch jemand, der nie eine Zeile von Kafka gelesen hat, dürfte sofort verstehen, was eine „kafkaeske“ Situation ist. Im Bereich der Literatur ist eine solche Namensgebung selten: für den Bezirk der englischsprachigen Literatur ist dies im 20. Jahrhundert vielleicht noch Philip K. Dick vergönnt gewesen, dessen absurde und den Glauben an die feste Wirklichkeit untergrabende Konstellationen dort als „dickian“ oder „phildickian“ bezeichnet werden. Der Unterschied besteht darin, daß bei Dick die Realität selber zweifelhaft wird und als Trug aufscheint, während die Wirklichkeit, in der sich Joseph K und seine Leidensgenossen finden, niemals in Zweifel steht. Borges stellt fest, daß Kafkas eigentliches Thema das Verhältnis des Menschen zu Gott und seine Schuld vor ihm ist. Bezeichnenderweise hebt die älteste Verwendung des Wortes „kafkaesk“ im Zusammenhang mit einem anderen Buch auf genau das gleiche Thema ab.
Im März 1939 erschien in der in New York verlegten linksliberalen Monatszeitschrift „Direction,“ die unter der Leitung von Theodore Dreiser im Dezember 1937 zum ersten Mal erschienen war und sich in ihren Beiträgen sehr auf die Bücher und Schicksal der europäischen Autoren und Künstler konzentrierte, die vor dem Spanischen Bürgerkrieg oder dem Faschismus in Italien und im Dritten Reich nach Westen geflohen waren, eine Rezension von Henry Hart, die sich mit dem gerade übersetzten dritten Roman von Ödön von Horváth, „Jugend ohne Gott,“ befaßte. Der kleine Roman war 1937 in Österreich erschienen und schildert die Verhältnisse nach der Machtergreifung in Deutschland aus der Binnensicht eines Lehrers an einem Kleinstadtgymnasium. Da die Besprechung Harts kurz und bündig gehalten ist, erlaube ich mir, sie einmal in ganzer Länge zu zitieren. (Zur Erläuterung: die amerikanische Übersetzung von R. Wills Thomas, die Anfang 1939 bei The Dial Press herauskam, trug den Titel „The Age of Fish“ – Das Zeitalter der Fische.)
Ein Beispiel dafür, wie eine reiche dichterische Phantasie eine gelungene Tour de Force hervorbringen kann, haben wir in Odon von Horvaths „Das Zeitalter der Fische.“ Es handelt sich um einen sehr kurzen Roman über einen jungen Lehrer unter der Herrschaft der Nazis und dem Mord an einem seiner Schüler. Der Text enthält kein Wort zuviel und der Verfasser, dessen Schauspiele (die vom Max Reinhardt aufgeführt worden sind) mit dem Kleistpreis ausgezeichnet worden sind, zeichnet die Stimmung und die Gestalten mit einer Sparsamkeit, wie so dürr ausfällt wie die Wälder Europas. Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, daß der Fall Leopold-Loeb eines der vorherrschenden Motive abgibt, und er wird in der verwendeten Symbolik Züge von Kafka, und in der Art der Schilderung Züge von „The Postman Always Rings Twice“ wiederfinden. Ein mystischer Einschlag, der eher katholisch als Kafka-esque wirkt, schwächt das Ende ab.
Der Verfasser starb im Alter von 36 Jahren im vergangenen Juni bei einem Spaziergang auf den Champs Elysées. Eine Windbö fällte eine große, morsche Kastanie, die auf ihn stürzte. Stefan Zweig, Alfred Neumann und Franz Werfel gehörten zu den europäischen Literaten, die sich von diesem bizarren Unglück betroffen zeigten. Es gibt einen früheren Roman, der übersetzt werden sollte, und zwar von R. Wills Thomas, der auch „Das Zeitalter der Fische“ übertragen hat. Dieser Titel wir übrigens von einer der Figuren im Buch folgendermaßen erklärt: „Es kommen kalte Zeiten – das Zeitalter der Fische. Die Gesichter der Menschen werden so starr werden die das Antlitz eines Fisches.“
In Hórvaths Roman ist es ein in Ungnade gefallener älterer Lehrerkollege mit dem Spitznamen Julius Caesar („Er ließ sich mit einer minderjährigen Schülerin ein und wurde eingesperrt. Man sah ihn lange nicht, dann hörte ich, er würde mit allerhand Schund hausieren, von Tür zu Tür“), der diese finstere Zeitdiagnose äußert. Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, daß Karl Rossmann in „Amerika“ von seiner Familie ins Exil geschickt wird, „weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte.“
»Die Buben lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.«
»Der Fische?«
»Ich bin zwar nur ein Amateurastrolog, aber die Erde dreht sich in das Zeichen der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.« –
Auf das tragische Dilemma einer unausweichlichen Schuld im Angesicht eines strafenden Gottes wird Horváths Ich-Erzähler ausgerechnet von einem Pastor gestoßen, der über dieser Frage jeglichem Glauben an eine höhere Macht eine Absage erteilt.
»Doch kommen wir wieder auf jene Kinder in den Fenstern zurück! Sie sagten, als wir durch die Gasse gingen: ›Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.‹ Sie sind doch ein gescheiter Mensch, Sie müssen es doch wissen, daß jene Kinder nicht verhetzt sind, sondern daß sie nichts zum Fressen haben!«
Er sieht mich groß an.
»Ich meinte, sie seien verhetzt«, sagte er langsam, »weil sie nicht mehr an Gott glauben.«
»Wie können Sie das von ihnen verlangen!«
»Gott geht durch alle Gassen.«
»Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?«
Er schweigt. Er trinkt bedächtig seinen Wein aus. Dann sieht er mich wieder groß an: »Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.«
Ich starre ihn an. Hatte ich richtig gehört? Das Schrecklichste?!
Er erhebt sich, tritt an das Fenster und schaut auf den Friedhof hinaus. »Er straft«, höre ich seine Stimme. Was ist das für ein erbärmlicher Gott, denke ich mir, der die armen Kinder straft!
Jetzt geht der Pfarrer auf und ab.
»Man darf Gott nicht vergessen«, sagt er, »auch wenn wir es nicht wissen, wofür er uns straft. Wenn wir nur niemals einen freien Willen gehabt hätten!«
»Ach, Sie meinen die Erbsünde!«
»Ja.«
»Ich glaube nicht daran.«
Er hält vor mir.
»Dann glauben Sie auch nicht an Gott.«
»Richtig. Ich glaube nicht an Gott.« –
Coda I.
Wie ich weiter oben geschrieben habe, ist der Text dieses Vortrags von Borges seit seinem Erscheinen in „El País“ nie wieder im Druck erschienen und findet sich in keiner seiner Sammlungen, auch nicht den postum erschienenen, die entweder die in verschiedenen Zeitschriften bündeln - „Borges en Revista Multicolor,“ (1995), „Borges en Sur“ (1999), und „Borges en El Hogar“ (2000) oder die drei Sammelbände der „Textos recobrados“, der „wiedergefundenen Texte,“ die laut Untertitel „Gedichte, Prosa, Artikel, Berichte, Kritiken, Übersetzungen und Vorworte“ enthalten: 1919-1929 (1997), 1931-1955 (2001) und 1956-1986 (2003).
Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, den Text mich nur in meiner eigenen Übersetzung zu bringen, sondern auch im Original zu dokumentieren.
“Franz Kafka”
Hacia 1917 o 1918 aprendimos a reconocer el nombre de Kafka en publicaciones expresionistas, que se proponian ser extravagantes - inevitablemente lo conseguian - y que se llamaban, por ejemplo, "Del juicio final", etc. Kafka es un escritor demasiado original como par que, entonces, pudiéramos haber apreciado esa originalidad. Leímos aquallos primeros cuentos y nos parrecieron inútiles, frustrados y, temenos que confesario ahora, hasta algo anticuados. Años después, leimos la versión francesa de "El proceso”, y este libro nos impresionó mucho. Más tarde nos distanció un poco de él lo que entonces creiamos lo mecánico de la trama. Luego, con el tiempo, ora nos acercamos, ora nos alejamos de Kafka. Tradujimos del aléman algunos cuentos suyos, entre ellos tal vez el más admirable: "La edificación de la muralla china". Hemos prologado la versión espñola de algunos de sus libros. Y lo hemos imitado deliberadamente en algunos cuentos nuestros: y, tal vez, sequiremos imitándole, sin proponermos eso, porque Kafka es un autor que ejerce una intensa gravitación en uno.
Cuando sentimos esa gravitación de Kafka, tratamos de aligerarnos de ella. Recordemos el momenta en que descubrimos, con ingenua alegria, que el esquema de ciertas novelas, como "El proceso" y "Es castillo", era exactamente lo que los lógimos llaman "regresos infinitues". En "Es castillo", hay un agrimensor que nunca entra en éste, sino que siempre llega y se queda en los verstibulos. Pues bien, este esquema lo descibrimos en la paradoja de Zenón de Eleas contra el movimiento: un movil que está en A no podrá aleanzar el punto B, porque antes deberá recorrer la mitad del camino entre los dos, y antes, la mitad de la mitad da la mitad, y así hasta lo onfinito; William James aplicó este mismo argumento al tiempo. Pero no siempre fuimos tan ingenuos; otras reces, buscamos precursores literarios de Kafka, y creímos encontrarios en muchos autores. Recordamos, ahora, una novela das David Garnett, "Lady into fox", cuyo argumento contado, no leído, puede parecerse mucho a las novelas de Kafka, singularmente a "La metamorfosis". Esta novela, y otro cuento des mismo autor inglés, "Man in the Zoo", se parecen, repetimos a Kafka: pero leyéndolos, son profundamente distintos por esta razón: cuando los leemos, somos expectadores de una acción fantásticca; y cuando leemos a Kafka, los personajes de Kafka, parece que nos pasaran a nosotros.
Tenemos que recordar, en seguida, algunos hecho de la vida de Kafka que nos servirán para iluminar su obra. Kafka nació en 1883 en Praga. Max Brod, en su biografía, ha conservado las preferencias literarias de Kafka. Este leía y releía a la Biblia y, también, admiraba a Goethe, a Hermann Hesse y a Thomas Mann, y muchismo a Flaubert y a Dickens, en quien admiraba lo que él llamaba "la ponderosa influencia de Dickens" (en "América", la primera novela de Kafka, hay pasajes que recuerdan, en efecto, a Dickens): igualmente, admiró mucho a Swift, y, an una carta suya, cita con verdadero entusíasmo una opinión del mismo sobre la educación. Kafka desdeñó, en general, a los escritores extravagantes; esto tiene una explicación psicológica muy sencilla; Kafka era profundamente extraño, original, y no creía que lo extraño debía buscarse. No gustó de Oscar Wilde; pero creemos que no gustó de lo que éste representaba, y no del verdadero Oscar Wilde. En su ya mencionida biografia, Max Brod habla de la relación de Kafka con su padre. Herman Kafka era un hombre de gran fuerza fisicá, muy rudo, que había labrado una sólida fortuna sin ayuda de nadie, dejó una casa de apartamentos a sus hijos en el centro de Praga, había estado en el ejército y desdeñaba a sus hijos por inútiles. Kafka le escribió, cierta vez, una carta de más de cien paginas a su padre, para explicárselo enviársala, sin embargo, pues su madre le disuadió de tal propósito. El padre fué, para el hijo, una metáfora terrible de dios y del orden cósmico. Es muy significativo que el primer cuento de Kafka, "La sentencia", verse sobre un padre muy débil - por contraste - que condena a murte a su hijo (que es un atleta) por culpas imaginarias.
La primera de las novelas que escribió Kafka, "América", es menos importante por lo que contiene que por un capitulo final, titulado "El gran teatro integral de Oklahoma", que nos parece decisivo para comprender a Kafka. En "América" tenemos a un muchacho alemán, Karl Rossmann, que emigra a Estados Unidos. Es significativo que este muchacho sea alemán. En efecte, al principio de su vida y de su obra, Kafka se considéro alemán; escribía en letra gótica; y recién en los últimos años de su vida, volvió al idioma checo y, tambien, el hebraísmo. Pero ésto requirió un esfuerzo de parte de él. Kafka dijo, alguna vez: "Qué tengo yo de común con los judios? Apenas lo tengo conmigo mismo". otra vez, estando en la caa de un amigo, el padre de éste se sobresaltó, al oirle pasar, y Kafka le dijo: "Le ruego, señor: cosidereme un sueño". En una carta a una mujr que quiso, y con la que no se atrevió a casarse, le decá: "Olvidate pronto del fantasma que soy." Tendia, pues, Kafka, a sentirse irreal. Y esta sensación se encuentra en todas susobras. Pero esta irrealidad es terrible: es una irrealidad de pesadilla. Bernard Shaw, puesto definir el infierno, insistió en la irrealidad del infierno; y nosotros mismos hemos experimentado esa sensación. En verdad, no sabemos si eso ayuda a sobrellevar las situaciónes de angustia, o si la irrealidad es una característica de lo terrible. Volviendo a "América", tenemos, en esta novela, la historia de un muchacho que llega a Estados Unidos: se encuentra, alli, con personas que le engañan; enamórase de una mujer a la que, luego, pierde; y, en el último capítulo, arriba a una especie de enorme hipódromo en donde se conchavan los postulantes para un circo. Este circo es un simbolo del cielo; y la idea de Kafka, en su libro, es la de que nadie debe ser excluido del cielo. Pero la novela no se concluyó. A nuestro juicio, Kafka hubiera podido concluirla perfectamente, pues tenía habilidad literaria suficiente para escribir se final feliz que habia preparado. Sin embargo, creemos que cuando Kafka llegó a esa descripción del circo que es tambien la del paraiso, se dió cuenta de que no creía en éste y de que, quizás, también podría se el infierno.
Kafka que, como hemos visto, se había propuesto describir, en el final de "América", el cielo, descibrió, en tal momento, que él, sinceramente, no podia hablar de cielo; y, entonces, comenzó a escribir otros libros: "El proceso" y "El castillo". Estas do obras también concluyen mal. Pro en ellas hay also que difiere mucho de "América", puesto que mientras en ésta el final trágico es algo que se ha impuesto el autor, en cambio en "El proceso" y en "El castillo" el tema ya está planteado desde la primare pagina. El tema de "El proceso" es el problema del hombre frente a la gracia divina. Ambas terminan mal, sin embargo. Algunos criticos afirman que Kafka empezó sus novelas y no las concluyó. En nuestro concepto, esos criticos se equivocan. El plan de Kafka requeria un número infinito de etapas; pero el no podía escribir todos los capitulos correspondientes a las mismas, porque era imposible que los tramites y las preparatorios para pasar de una a otra novelas, fueran infinitos, mas finalmente ellas estaban concluídas.
Videmos que Kafka escribió y guardó estos dos libres. También sabemos que murió fisico, y que sus últimos dias fueron muy doloroso. Parece que le dijo a su médico: "Si usted no me mata, es un asesino." Kafka dejó sus manuscritos a Max Brod y le pidió que los quemara. Debemos, pues, la publicación de las obras da Kafka a la piadosa desobediencia de Max Brod. Esto plantes un pequeño misterio, ya que si bien en la historia de la literature sabemos de muchos autores que dieron orden de qumer sus obras (v. gr. el case de Virgilio), la conducta de Kafka puede interpretarse de muchas maneras. Podriamos pensar, pro ejemplo, que el vardadero autor des sus obras es Max Brod. Pero, apartandonos de esta hipótesis, creemos mejor que Kafka sabia que su orden sería desacatata y, también, ques esa ordn suya formaria, con el tiempo, parte de la obra misma y agregaría un encanto estético a ella. Kafka sabía que toda su obra era una obra de desperación, y que esta característica se vería confirmada por el hecho de que no había querido que la misma fuerse conservada.
Se han buscado diversas interpretaciónes de la obra de Kafka. Así, se la ha juzgado como novela, lo cual nos parece un error, porque la novela se nutre de relaciones humanas, y estas no existen oen la obra de Kafka. Hemos observado que hay gran afinidad entre la obra de Henry James a la de Kafka; también aquél se propuse describir el paraíso, y fué presa de una profunda desesperación al adventir que no podia hacreio, como tampoco lo logró Kafka en "América"; en las novelas de Henry James hay una gran ambigüedad, que es la ambigüedad de las relaciones humanas, mientras que en las de Kafka hay otra clase de ambigüedad, que es la de las relaciónes dl himbre con la divinidad.
Este tema de Kafka es exactamente el mismo que trató Browning en su poema "Fear and scruples", publicado en 1876. Leyendo a Kafka comprendemos muchos temores antiguos, y el hecho de que en todas las religiones haya previsiones de ese tipo, de que la vida es muy misteriosa y de que continuamente, podemos incurrir en culpas incomprensibles que pueden perdernos. Muchos personajes de Kafka no saben, en efecto, de qué son culpables: pero, la más de las veces, también creen qu las sentencias son justas. Kafka se ha propuesto representar, de un lado, al hombre y, del otro, a Dios. Pero, ¿representar a Dios que, por definición, es inescrutable? En las religiones del Indostán hay dioses monstuosos, engendros de hombres y de animales; y en al Apocalipsis, al describirse el cielo, se habla de animales que tienen ojos adelante y atrás. De igual modo que un mitólogo del Indostan y el visionariodel Apocalipsis, así Kafka ha descripto un Dios absurdo, procediendo como aquellos actores que tienen que imitar, um lenguaje que no conocen y, entonces, combinan sílabas. Para significar lo inscrutable, Kafka imganinó esos verdugos y tribunales que aparecen en sus pobras, como signos de la divinidad. Y después de su murte, el mundo ha adundado, como obedeciéndole, en verdugos y tribunales no menos absurdos que los imaginados por él. Ahora, al leerlo, vemos en sus ficciones un sentido politico: alegorías de la lucha del individuo con el Estado. Pero Kafka no pensó en ésto, sino que se planteó, repetimos, el problema de las relaciones del hombre con Dios.
Una vez Kafka escribío a Max Brod (y aqui también podriamos buscar otro motivo de su desgano para publicar su obra): "Todavía puedo hallar satisfacción momentánea en obras como 'El médico rural' ... Pero sólo encontraría felicidad al pudiera elevar el mundo hacia lo puro, verdadero y inalterable". Es que, quizás, Kafka no estaba tan desesperado, como podemos creerlo, a través de su lectura; tal vez pensó que, de haber vivido má tiempo, le habría sido deparado escribir no obras infernales, su obras felices: paradisiacas.
* * *
Coda II
Es gibt in der Psychologie, aber auch in der Systemtheorie ein Konzept, das als „Kleine-Welt-Phänomen“ bezeichnet wird, im Englischen oft auch als „Six Degrees of Seperation.“ Unter diesen „sechs Stufen der Trennung“ ist die Distanz an Zwischengliedern gemeint, die jeden Menschen auf diesem Erdball im persönlichen Kontakt von jedem anderen trennen. Verkürzt gesagt läuft es darauf hinaus, daß ich selbst zwar nie Barack Obama die Hand geschüttelt habe (oder Jorge Luis Borges), daß aber unter all den Zeitgenossen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, sich jemand befindet, der wiederum jemand anderem begegnet ist (und so fort, ganz gemäß dem Muster des von Borges erwähnten unendlichen Regress), der, nach nur sechs Schritten dieser Art, Borges persönlich begegnet ist – so daß die Kette alles andere als unendlich ausfällt. Experimentell ist dies zuerst 1967 von dem amerikanischen Psychologen Stanley Milgram ansatzweise verifiziert worden (der Name von Milgram dürfte den meisten Lesern durch das nach ihm benannte psychologische Experiment bekannt sein, das er ab August 1961 an der Yale-Universität durchgeführt hatte, und das zum Ziel hatte, zu ermitteln, wieweit Menschen bereit waren in einer psychologischen Abhängigkeitssituation ihre moralischen Grundsätze aufzugeben und anderen, die ihnen ausgeliefert waren, Gewalt anzutun, wenn damit kein für sie riskanter körperlicher Einsatz verbunden war. Es war kein Zufall, daß das „Milgram-Experiment“ drei Monate nach dem Beginn des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem durchgeführt wurde.)
Milgram hat sein späteres Experiment mit Hilfe von Paketen durchgeführt, die an Empfänger in Boston verschickt wurden, allerdings nicht direkt an sie addressiert, sondern an zufällig ausgewählte Personen, mit der Bitte, sie ebenso zufällig weiterzuverschicken, an eine ihnen bekannte Person, die wegen ihrer Stellung oder ihrer Wohnadresse nach Meinung des Empfängers eine größere Chance hatte, sie besser weiterzuleiten. In der Regel brauchten dieser Kassiber fünfeinhalb Zwischenstops, um schließlich ans Ziel zu gelangen. Milgram hat darüber im Mai 1967 in der Zeitschrift „Psychology Today“ berichtet („The Small World Problem,“ Psychology Today, Bd.1, Nr 1, S. 61-67)
Zum Thema der Literatur ist das Phänomen schon ein wenig früher geworden, in der Erzählung „Láncszemek“ („Kettenglieder“) des ungarischen Autors Frigyes Karinthy, die 1929 in der Kurzgeschichtensammlung „Minden másképpen van“ („Alles ist anders“) im Verlag Atheneum in Budapest erschienen ist. Karinthy, 1887 in Budapest geboren und 1938 in Siófok am Südufer des Balatonsees gestorben, ist heutigen Lesern im Westen, wenn überhaupt, nur durch seine beiden Fortsetzungen von Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ geläufig – 1916 verschlug es Swifts Antihelden ins Land Faremido, 1922 nach Capillaria. In „Kettenglieder“ führt der Erzähler aus:
„Einer von uns schlug folgendes Experiment vor, um zu beweisen, daß sich die Bevölkerung der Erde heute näher ist als jemals zuvor. Jeder von uns sollte einen der anderthalb Milliarden Menschen auf der Erde auswählen, egal wen und an welchem Ort. Er ging die Wette ein, daß er nicht mehr als fünf Zwischenschritte benötigen würde, um mit diesem Menschen in Verbindung zu treten, allein, indem er an jemanden schrieb, den er persönlich kannte, und die anderen es auch so halten würden.“
E. M. Forster, der englische Verfasser des Romans „A Passage to India,“ (dessen Erscheinen sich vor drei Wochen, am 4. Juni, zum 100. Mal jährte) hat dieses Konzept des „Alles ist mit allem verbunden“ bündiger gefaßt, als er sich das Motto „Only Connect!“ als Leitmotiv für seinen Roman „Howards End“ von 1910 wählte. Ganz im Sinn einer solchen Kette möchte ich zum Abschluß dieses kleinen Parforcerittes durch die Weltgeschichte (in dem bislang aufgetreten sind: der Palast des Herodes, das Mare Tranquilitatis, der Bloomsbury-Kreis, Völkerschauen, Lawrence von Arabien, die Schaffung des modernen Hebräisch, das China der T’ang-Zeit, Oscar Wilde, P. T. Barnum und das Wetter in London im August 1900) mit einem kleinen Abstecher nach Wuppertal enden, genauer: nach Elberfeld. In gewisser Weise ist gerade dieser 1929 eingemeindete Bezirk dafür prädestiniert, denn es handelt sich nachweislich um einen Flecken, an dem die „Grenze zum Übernatürlichen, Jenseitigen“ etwas durchlässiger als anderenorts ausfällt und so manches Grenzwertig-Zweifelhafte hindurchzudiffundieren scheint.
Jedenfalls legen dies ein paar Beispiele nahe: in Elberfeld entstand zu Anfang des 18. Jahrhunderts die nördlichste Kolonie des im Badischen heimischen radikalen Pietismus: die sogenannte „Ronsdorfer Rotte“ unter Elias Eller; Eller, 1690 auf dem Hof Ronsdorf wenige Kilometer südlich der Elberfelder Gemeindegrenze geboren, kam ab 1727 zu dem Schluß, daß die Visionen, die das Dienstmädchen der Familie, Katharina von Büchel, in Trancezuständen verkündete, in die sie durch die Lektüre der Offenbarung verfiel, tatsächlich dies waren: göttliche Offenbarungen, nach denen es ihm, Eller, aufgetragen sei, „das neue Zion“ zu gründen und mit ihr den neuen Messias zu zeugen, der die Welt erlösen sollte. Vom Rest der Pietistengemeinde angefeindet, die dem Guru hier nicht folgen wollten, kaufte Eller ab 1737 das Land um den elterlichen Gutshof auf und ließ seine Anhänger dort Katen errichten. 1745 erhielt Ronsdorf vom der Preußischen Krone das Stadtrecht. (Der neue Erlöser, Benjamin, im Juli 1734 geboren, starb allerdings schon mit 16 Monaten, ohne, wie von Eller prophezeit, wiedergeboren zu werden.) Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle, daß in der benachbarten Gemeinde Barmen, 4 Kilometer weiter westlich von Elberfeld gelegen und heute wie Elberfeld und Ronsdorf ein Stadtteil Wuppertals, ein Jahrhundert später in einer anderen pietistischen Familie ein weiterer Mitbegründer einer radikalen Erlösungsreligion geboren wurde, die sich tatsächlich in großem Maßstab daranmachen sollte, weltweit die „alte Ordnung zu vernichten“ und das leuchtende Zukunftsreich der vom Bösen erlösten Menschheit zu errichten. Sein Name war Friedrich Engels.
In Elberfeld entstand die erste Niederlassung der Zeugen Jehovas, damals noch „ernste Bibelforscher,“ die 1903 in Elberfeld ihr erstes Büro im Deutschen Reich eröffneten; in Elberfeld gründete Madame Blavatsky (1831-1891), die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, durch ihren Stellvertreter Henry Steele Olcott am 27. Juli 1884 im Haus der Seidenfabrikanten Gustav Gebhard in der Platzhoffstraße 12. Und dort wohnte sie auch in der Zeit vom März bis Oktober 1885, nachdem die Leitung der Theosophical Society sie aus der Zentrale in indischen Adhyar vertrieben hatte, nachdem sich durch kritische englische Zeitungsberichte herausgestellt hatte, daß die „Wunder,“ mit denen „H.P.B“ ihre Gefolgschaft beeindruckte, sich nicht den „Meistern Koot Humi und Morya“ verdankten, sondern billigsten Taschenspielertricks. Kenner der Materie, wie etwa der erste Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Oxford, Friedrich Max Müller, der zwischen 1879 und 1894 die Reihe der „Sacred Books of the East“ in englischer Übersetzung in 50 Bänden herausgab, hatten schon bald nach dem Erscheinen der beiden Bände von Blavatzkys Magnum Opus „Isis Unveiled“ 1874 nachgewiesen, daß diese 2000 Seiten unverdaulichen Geschwätzes der entlaufenen Gattin eines adligen Provinzgouverneurs aus Südrußland keineswegs von „Maitreyas,“ die in einem verborgenen Königreich in den Tiefen – oder Höhen – des Himalajas hausten, im Schein des „Inneren" oder "Astralen Lichts“ in die Feder diktiert worden waren, sondern schlicht am „Abschreibetisch unter der Stehllampe“ aus gut vier Dutzend Veden und Upanischaden zusammengerührt worden waren.
Ebenfalls in Elberfeld endete das Leben und die bescheidene zweite Karriere des als Wunderpferd“ bekannt gewordenen „Klugen Hans“ – einem Hengst der Rasse Orlow-Traber, die im 18 Jahrhundert in Russland systematisch als Schlittenpferde aus Araberpferden gezüchtet worden sind. Hans‘ Besitzer, der pensionierte Elementarschullehrer Wilhelm von Osten aus Berlin, hatte das Tier 1900 im Zarenreich erworben und es von Anfang an darin geschult (oder „dressiert,“ wie wenige wohlwollende Zeitgenossen befanden), Fragen und einfache Rechenaufgaben durch Hufklopfen zu „beantworten.“ Zu einer landesweiten Zeitungssensation wurde der Kluge Hans, nachdem im „Berliner Tageblatt“ am 7. Juli 1904 ein ausführlicher Bericht über „Das rechnende und lesende Pferd“ erschienen war, den der Generalmajor a.D. Eugen Zobel verfaßt hatte. Der „Hans-Rummel,“ der spätere mediale Aufgeregtheiten wie um den Abscheulichen Schneemenschen, das Ungeheuer von Loch Ness (*) oder die „Fliegenden Untertassen“ punktgenau vorwegnahm, nahm damit seinen Anfang.
Apropos „Fliegende Untertassen“: vor einem Jahr hat es in skeptisch angehauchten Kreisen für Unmut gesorgt, daß der ehemalige amerikanische Luftwaffenoffizier David Grusch vor einem Untersuchungsausschuß des Kongresses der Vereinigten Staaten (dem U.S. House Committee on Oversight and Accountability), seine Behauptungen, das amerikanische Militär würde zahlreiche havarierte „unbekannte Flugobjekte“ und ihre außerirdischen Besatzungen vor der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten untersuchen und geheimhalten. Wie es nicht anders zu erwarten war, ist es bei Gruschs Behauptungen, dergleichen hätten ihm Eingeweihte unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, geblieben. Die Existenz noch untersuchbarer Raumfahrzeuge auf der Erdoberfläche nebst ihren noch nicht pulverisierten biologischen Besatzungen verletzt nämlich eine ganze Reihe von physikalischen Gesetzen und darf deshalb ziemlich kategorisch ausgeschlossen werden. Der Vergleich zum Sommerhit des sprechenden Pferds vor 120 Jahren zeigt freilich, daß hier „nichts neues unter der Sonne“ vorliegt, um es mit dem Prediger Salomo zu sagen: „Nihil sub sole novum // nec valet quisquam dicere / ecce hoc recens est / iam enim praecessit in saeculis quae fuerunt ante nos“ (Es gibt nichts Neues unter der Sonne. / Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: / Sieh dir das an, das ist etwas Neues, / aber auch das gab es schon in den Jahrhunderten, die vor uns gewesen sind – Kohelet 1:9-10). Am 11. und 12. September 1904 nahm eine 13-köpfige Kommission im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die vom Direktor des Psychologischen Instituts in Berlin geleitet wurde, und der unter anderem der Zoologe Oskar Heinroth, der königlich Preußische Kommissionsrat Otto Graf zu Castell-Rüdenhausen und Paul Busch, der Direktor des Zirkus Busch in Hamburg als Fachmann für Tierdressuren angehörten, zwei der öffentlichen Vorführungen im beengten Hinterhof in der Griebenowstraße 10 in Augenschein, die von Osten seit dem späten Frühjahr der Nachbarschaft präsentiert hatte, und kam zu dem Schluß, daß hier kein Fall von Dressur oder Betrug vorliege. In ihrem abschließenden Gutachten heißt es: „Durch die Gesamtheit dieser Beobachtungen wird nach der Meinung der Unterzeichneten sogar auch das Vorhandensein unabsichtlicher Zeichen von der gegenwärtig bekannten Art ausgeschlossen.“
Des Rätsels Lösung verdankt sich den Untersuchungen von Oskar Pfungst, seinerzeit „freiwilliger Assistent“ (also unbezahlt) am Psychologischen Institut Berlin. Im Rahmen der zweiten Untersuchungskommission, der „Wissenschaftlichen Kommission,“ ebenfalls unter der Leitung seines Chefs, Carl Stumpf, für die Pfungst die zwischen dem 13. Oktober und dem 29. November 1904 durchgeführten Aufgaben entwarf, die dem Klugen Hans gestellt wurden und die ihr vernichtendes Gutachten am 9. Dezember veröffentlichte, kam Pfungst zu dem Schluß, daß zwar kein bewußter Betrug, aber doch eine reine Täuschung vorliegen würde: Wilhelm von Osten trug bei seinen Vorführungen stets einen weißen Hut mit weit ausladender Krempe, und der kluge Hans achtete genau auf das Auf- und Niederwippen. Wenn die Zahl der richtigen Klopflaute für eine Antwort, auch beim Buchstabieren, erreicht war, senkte von Osten unmerklich den Kopf und Hans stellte das Morsen ein. In Fällen, in denen Hans seinen Besitzer nicht sehen konnte oder dieser die Antwort selber nicht kannte, sank die Zahl der „korrekten Antworten“ aus das Maß, das durch eine reine zufällige Streuung zu erwarten war.
Wie nicht anders zu erwarten, hat sich Wilhelm von Osten nie im Glauben an die Intelligenz seines vierbeinigen Schülers beirren lassen, bis zu seinem Tod infolge eines Leberkrebses im Juni 1909. Anders natürlich die Öffentlichkeit, zumal die Berliner: nachdem die Sensation keine mehr war, diente der Kluge Hans nur noch als Zielscheibe für Spott. Apropos „Sommerhit“: Otto Reutter, schon damals als Coupletsänger eine Berliner Institution, ließ sich diese Steilvorlage nicht entgehen.
Ja, wenn du mal mit 'nem Hengst, so zu reden anfängst,
Eh' du'n drängst, weiß so'n Hengst ja schon längst, was du denkst,
Denn so'n Pferd ist gelehrt - ja mein Hans, o der kann's -
Mehr Verstand, wie ich im Kopf, hat mein Hans schon im Schwanz!
…
O liebe Leute, wenn Ihr irgend könnt,
Eßt Pferdefleisch und werdet intelligent!
Und du, mein Hänsel, such' dir eine Gretel,
Damit die Pferdezucht sich schnell veredel.
Ich schäm mich - gegen einen solchen Rappen,
Da ist der Mensch ein wahrer Jammerlappen.
Den Rappen zu berappen nach dem Wert,
Das ist sehr schwer - ein Königreich für 'n Pferd!
...
Mein Hans kennt das ganze A B C
(Hält dem Pferd die A B C Tafel vor. Das Pferd bezeichnet mit dem Maule, das sich dabei öffnet, den jeweiligen Buchstaben)
Was trinkt der Chinese am liebsten? - T (Tee)
Wer ist der stolzeste Vogel? - V (Pfau)
Wie heißt die Frau vom Ochsen? - Q (Kuh)
Was ist das bekannteste Konto - K
Nun, steht mein Hans nicht einzig da?
Jetzt, liebes Hänschen sage mir,
Wieviel mag 2 x 2 sein? (Das Pferd stampft viermal) Vier.
Ein alter Mann, 'ne junge Frau dabei,
Wieviele Personen sind das? (Das Pferd stampft dreimal) Du zählst drei?
Ach, ich versteh', warum du drei gewählt.
Du hast wohl gleich den Hausfreund mitgezählt. (Das Pferd nickt)
...
So, nun kann mein Hans nach Haus geh'n -
Und wer drin war, der kann raus geh'n -
Und wenn die Person, die drin war, aus dem Pferd ist,
Dann kann jeder sehen, daß der Hans geleert ist.
(„Der kluge Hans, das Wunderpferd.“ Der Text des „parodistischen Scene,“ im Verlag Otto Teich in Leipzig verlegt, ist als Broschüre ohne Jahresangabe erhalten; eine Aufnahme auf Shellackplatte - falls es sie je gegeben hat – nicht. Dem Kleinen Zyniker kommt angesichts der 3. und 4. der obigen Zeilen natürlich sofort eine gewisser französischer Film aus dem Jahr 1972 mit Pierre Richard in den Sinn. Im Original bittet Paulette ihren Hausfreund: „Fais le cheval! Si! Fais le cheval!“, worauf François nüchtern entgegnet: „Je fais le cheval avec toi à 2 heures et je cours à Longchamp à 4 heures.“)
Zu den wenigen, die den Glauben an das Wunderpferd Hans nicht auch nach dessen Entzauberung einbüßten, zählte der Juwelier Karl Krall aus Elberfeld. Krall, 1863 dort geboren, hatte als gelernter Goldschmied das väterliche Geschäft fortgeführt. 1905 hatte er Kontakt mit Wilhelm von Osten aufgenommen und nach dessen anfänglichem Sträuben eigene Versuche mit dem Klugen Hans im April und Oktober 1907 durchführen können, die ihn zum Ergebnis brachten, daß das Pferd sehr wohl intelligent sei und seine Aufgaben aus eigenem Antrieb lösen würde. Wenige Tage nach von Ostens Tod am 29. Juni 1909 wurde brachte er Hans, dessen Pflege ihm van Osten überlassen hatte, am 5. Juli per Bahn nach Mettmann bei Düsseldorf, wo das Tier zunächst auf „dem Landgut von Frau Dr. Schubert“ untergestellt wird. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß Hans tierärztlicher Behandlung bedurfte, weil die verwahrlosten Haltungsumstände in Berlin eine Hufkrankheit zur Folge gehabt hatten, brachte ihn Krall am 15. August nach Elberfeld, wo ihm der Bankier August von der Heydt eine Unterkunft in den Stallungen der Familienvilla zur Verfügung gestellt hatte. Krall setzte hier seine Versuche mit Hans und in der Folge elf weiteren Pferden, einem Pony, zwei Eseln und schließlich 1913 mit der Elefantenkuh Kama fort. Nachdem nach dem Ausbruch des „Großen Kriegs“ seine Pferde von der Heeresleitung eingezogen worden waren, da sie ja keine Transportdienste leiteten, gab Krall seine „Elberfelder Pferdeschule“ auf. Anfang 1929 ist er im Alter von 65 Jahren in München, wo er seit vier Jahren wohnte, gestorben.
(Karl Krall mit Xarif, einem der Nachfolger des Klugen Hans, in der Pferdeschule in Elberfeld. Abb. aus Karl Krall, "Denkende Tiere," 1912)
Bei der Heydtschen Villa handelte es sich nicht um die sogenannte Sommervilla auf der Königshöhe, 14 Kilometer von Zentrum Wuppertals, daß von der Heydt 1880 damals weit vor dem bebauten Stadtgebiet erworben hatte und 1885 und 1907 im Gründerzeit- und Jugendstil umbauen und erweitern ließ und die heute unter Denkmalsschutz steht, sondern um den ersten Stammsitz der Bankiersdynastie, die sein Großvater Daniel Friedrich 1794 durch die Heirat mit der Bankierstochter Wilhelmine Kersten, der Tochter des Gründers eines des ältesten Bankhäuser in Deutschland, des Bankhauses Kersten aus dem Jahr 1754, begründet hatte. Diese erste Villa, 1801 errichtet, lag am Nordufer der Wupper, gute 200 Meter von dem 1848 eröffneten Elberfelder Bahnhof entfernt, auf dessen Grundstück sich der nach dem Zweiten Weltkrieg gebaute heutige Wuppertaler Hauptbahnhof befindet. Der Straßenname „Am Mäuerchen“ (heute zu „Mäuerchen“ verkürzt) leitet sich von der Befestigung der Uferböschung ab. Erhalten ist dieses Gebäude nicht. Die Royal Air Force flog in der Nacht von 24 auf den 25. Juni 1943 einen schweren Angriff mit 630 Bombern auf Elberfeld, in dessen Verlauf 1082 Tonnen Spreng- und 1220 Tonnen Brandbomben auf das Stadtgebiet abgeworfen wurden. 1900 Menschen kamen dabei ums Leben, der Brandbereich umfaßte 12 Quadratkilometer. Zu den 3000 zerstörten Gebäuden gehörte auch die Stammvilla der Familie von der Heydt, einschließlich eines Großteils der Kunstsammlung, deren geretteter Teil den Grundstock für die Sammlungen des heutigen Van-der-Heydt-Museums, 200 Meter weiter an der Turmstraße, der zweiten Querstraße nördlich der Wupper gelegen, bilden.
(* Oder das „Ungeheuer von Loch Neuss“ – den kleinen Brillenkaiman Sammy, der von fast genau 30 Jahren, am 15. Juli 1994, bei einem Badeausflug am Straberger Baggersee bei Dormagen, seinem Besitzer entwischte und fünf Tage lang die Schlagzeilen der Republik beherrschte, bevor er in Kältestarre von einem Taucher aufgelesen wurde. Dormagen liegt übrigens in Luftlinie gut 15 Kilometer von Düsseldorf und 28 Kilometer von Wuppertal entfernt.)
(Grete Stern, Selbstportrait aus dem Jahr 1956)
Und schließlich wurde in Elberfeld, vor ebenfalls fast genau 120 Jahren, am 9. Mai 1904, in der Briller Straße 31, die Photographin geboren, deren Porträtaufnahme von Jorge Luis Borges aus dem Jahr 1951 ich an den Anfang dieses Beitrags gesetzt habe: Grete Stern. In ihrem Lebenslauf zeigt sich schon früh ein kosmopolitischer Zug, lange bevor die Machtergreifung der Nazis das für Juden in Deutschland zu einer schlichten Notwendigkeit machte. Die letzten drei Schuljahre vor der Ablegung des Abiturs 1923 verbrachte Grete in London, ihre Studien in Kunstgewerbe und Grafik bis 1927 in Stuttgart und Berlin. Als Privatschülerin der deutschen Fotografen Walter Peterhans kam sie 1929 ans Bauhaus in Dessau, als Peterhans dort die Werkstatt für Fotografie organisierte. Nach der Schließung des Bauhauses durch die neuen Machthaber emigrierte Grete Stern nach London, wo sie 1935 den argentinischen Fotografen Horacio Coppola heiratete, den sie am Bauhaus kennengelernt hatte. 1936 zog das Paar nach Buenos Aires und eröffnete eine eigenes Fotostudio. In Buenos Aires begann sie sich auf Porträtfotografie zu konzentrieren, besonders, nachdem sie 1940 in den Vorort Ramos Mejía umgezogen waren. Der modernistische Bau in der heutigen Calle Hilario Ballesteros 1054, der seitdem als „casa Stern“ (oder „casa Stern-Coppola“) bekannt ist, und in dem sich auch das gemeinsame Atelier befand, ist zwischen den Jahren 1934 und 1939 von dem avantgardistischen Architekten Vladimiro Acosta errichtet worden. Acosta wurde im Juli 1900 als Vladimir Konstantinowski als Kind ukrainischer Eltern in Odesa geboren; nach der Oktoberrevolution emigrierte die Familie nach Rom, wo der zukünftige Acosta im Büro von Marcello Piacentini eine Ausbildung zum Architekten durchlief. Nach 1922 stieg Piacentini im folgenden Jahrzehnt zum „obersten Staatsarchitekten“ des Mussolini-Regimes auf, der die Merkmale der faschistischen Architektur prägte; 1922 ging Acosta nach Berlin, um seine Studien bei Walter Gropius fortzusetzen. 1928 wanderte er nach Argentinien aus. Die Casa Stern wurde in den 1940er Jahren ein Treffpunkt der buenosairenser Intelliguenzia (nach spanischer Schreibweise) wie eben Borges und Besucher aus dem Ausland wie etwa Pablo Neruda und blieb dies auch, nachdem sich das Paar 1943 getrennt hatte. 1958 erwarb Grete Stern die argentinische Staatsbürgerschaft. Ihr Lichtbildnerisches Handwerk betrieb sie bis 1985, immer noch mit den gleichen Kameras, die sie vor einem halben Jahrhundert aus der Alten Welt mitgebracht hatte.
(Die Casa Stern in Ramos Meíja)
(Borges bei einem Besuch in der Casa Stern)
Aber nicht um ihre Porträtaufnahmen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestritt, soll es hier gehen, auch nicht um ihre Fotoserien über die „Indigenos“ im Norden des Landes, die sie als Mitarbeiterin am Museo Nacional de Bellas Artes ab 1956 dokumentierte (ihre 1964 während drei Monaten entstandene Reihe „Aborígenes del Gran Chaco“ umfaßt 1500 Aufnahmen), sondern, ganz im Zeichen Kafkas, um die Serie von surrealistischen Photomontagen, die zwischen 1948 und 1951 in der Wochenzeitschrift „Idilio“ erschienen sind und die als „Sueños,“ „Träume,“ ihren Nachruhm begründet haben.
„Idilio,“ die bis 1957 erschien, war eine „Revista del Corazon.” Der deutsche Ausdruck “Klatschzeitschrift“ klingt um einiges abfälliger, trifft den Inhalt aber durchaus: eine Zeitschrift, die sich Mode, Rezepten und den Umtrieben in der Welt der Hautevolée widmete. Das Verlagshaus Editorial Abril war neben den spanischen Übersetzungen der Comics aus dem Haus Walt Disney auf dergleichen ausgerichtet: neben „Idylle“ erschienen dort noch die Frauenzeitschriften „Claudia,“ „Claudia Casa,“ „Maniqui“ und „Nocturno,“ Programmzeitschriften wie „Radiolandia 2000,“ „Antena“ und „TV Guía“ und die Automobilblätter „Parabrisas“ und „Corsa.“ Keine anspruchsvolle publizistische Plattform also, und vom Anspruch her nicht mit der gebildeten weiblichen Leserschaft von „El Hogar“ (Das Heim) zu vergleichen, für die Borges ein Jahrzehnt vorher seine Kolumne über „Libros y autores extranjeros“ geliefert hatte, in der er sich dreimal mit Kafkas Werk befaßt hatte: am 6. August 1937 besprach er dort die englische Übersetzung von „Der Prozeß,“ durch Edwin und Willa Muir, die gerade bei Gollancz in London erschienen war; am 29. Oktober 1937 widmete er ihm eine seiner „Biografías sintéticas“ und am 27. Mai 1938 veröffentlichte er seine Übersetzung der Fabel „Vor dem Gesetz“ als „Traduccíon: un cuento de Kafka: Ante la ley.“
("Idilio," Titelseite der Ausgabe vom 27. Dezember 1949)
„Idilio“ verdankte sich dem Strauß an Maßnahmen, mit denen sich Perón nach seinem Amtsantritt im Sommer 1946 Rückhalt besonders bei der armen Landbevölkerung verschaffen wollte. Dazu gehörte die Verstaatlichung eines großen Teils der Industrie und der Eisenbahnen und die Einführung des Wahlrechts für Frauen sowie generell einer groß beworbenen Förderung der Frauen im Land. Dieses Wahlrecht war bereits 1932 vom Unterhaus der argentinischen Parlaments beschlossen worden, aber vom Senat nie zur Abstimmung auf die Tagesordnung gesetzt worden. Am 23. September 1947 verabschiedete der Nationalkongreß, in dem Peróns Partido Justicial über die absolute Mehrheit verfügte, das Gesetz 13.010, das Frauen in dieser Hinsicht die gleichen Rechte wie Männern zugestand. Als Resultat wurde die PJ bei den Parlamentswahlen bei den nächsten Parlamentswahlen am 1. November 1951 wiederum absoluter Wahl mit einer beinahe Zweidrittelmehrheit (63,5 Prozent). Die Kehrseite war die Einleitung des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes durch Peróns Verstaatlichungen, die im September 1955 dann in den Staatstreich des Militärs, die „Revolucíon Libertadora,“ mündete und das, was die meisten Beobachter als eine Präsidialdiktatur betrachteten, durch eine Militärdiktatur ablöste. Die Inflation, die während Peróns zweiter Amtszeit einsetzte, hatte die Ersparnisse und die Kaufkraft auf ein Viertel reduziert, und Peróns „progressive“ Maßnahmen, wie die Legalisierung der Prostitution und die Gleichstellung unehelicher Kinder mit legitimen“ hatte im Juni 1955 zur Exkommunikation durch die katholische Kirche geführt.
(Der Kleine Pedant fügt an, daß Perón nicht formell aus der Kirche ausgeschlossen wurde, da der Bannspruch nicht vom Papst – der allein dazu befugt wäre, ein Staatsoberhaupt zu exkommunizieren – ausgesprochen wurde, sondern von der Päpstlichen Kommission für Südamerika, und daß der direkte Auftakt des Staatstreichs die Kundgebung auf der Plaza del Mayo am folgenden Tag war, bei der Perón die Massen für sich mobilisieren wollte und die Luftwaffe die Menge bombardierte, mit mehr als 300 Todesopfern. Das eigentliche Angriffsziel war die Casa Rosada, der Präsidentenpalast, gewesen.)
In „Idilio“ erschien ab der ersten Ausgabe, die am 26. Oktober 1948 auf den Markt kam, in jeder Nummer eine – nun: „Kolumne“ ist zuviel gesagt; ein kleiner Beitrag unter dem Rubrikentitel „El psicoanálisis te ayudará“ („Die Psychoanalyse wird dir helfen“), in der ein gewisser Dr. Richard Rest anhand eines ausgewählten Traums, der von Leserinnen in Briefen an die Redaktion geschildert worden waren, eine Facette der Traumtherapie des Wiener Meisters referierte, etwa den „complejo de inferioridad,“ „la tendencia a dominar y la rivalidad,“ „desorientacíon general,“ „temor a los hombres“ oder „complejo de culpa.“ Kursorisch wurden die Traummotive wie der Tod, „die Träume über Verfolgung,“ „Träume über Ausweglosigkeit,“ „Träume über drohende Gefahren“ erklärt. Daß dabei eher ein „Malen-nach-Zahlen“ nach Art der antiken Traumauslegungen eines Artemidor herauskam als eine Wiedergabe der Konzepte Freuds, versteht sich von selbst.
("Idilio," Nr 31, Juni 1949)
Daß in einer Zeitschrift von der Art der „Bunten“ oder „Bild der Frau“ überhaupt dergleichen erschien, mag überraschen. Aber die Psychoanalyse war im Lateinamerika jener Jahre, und zumindest in Argentinien, durchaus für ein breites Publikum popularisiert worden. Zwischen 1935 und 1946 erschienen im Verlag Tor in Buenos Aires zehn preiswerte Bände in der Serie „Freud al alcance de todos“ (also etwa „Freud für jedermann verständlich“), mit einem Umfang von jeweils 180 bis 200 Seiten, ebenfalls zu einem bestimmten Aspekt des Freudschen Ideengebäudes: „Freud y el problema sexual,“ „Freud y su manera de curar,“ „Freud y la histeria feminina,“ „Freud y los degeneracíones,“ „Freud y los actos maniacos“ und, für unser Thema zentral, als siebter Band „Freud y el Misterio de los Sueños“: Freud und das Geheimnis der Träume. Hinter dem Verfassernamen „Dr. J. Gómez Nerea“ verbarg sich allerdings kein professioneller Seelenklempner, sondern der aus Peru stammende Avantgardedichter Alberto Hidalgo. Hidalgo war 1897 in Arequipa, der zweitgrößten Stadt Perus, geboren und hatte dort zwischen 1917 und 1919 drei kleine Gedichtbände drucken lassen, war aber zu dem Schluß gekommen, daß die provinzielle Enge seiner Heimat nicht dazu geeignet war, eine literarische Weltrevolution voranzutreiben, und deshalb mit 22 Jahren in die argentinische Metropole übergesiedelt. 1926 gab er die Anthologie „Índice de la nueva poesía americana“ heraus, die erstmals die „großen Namen“ der modernen lateinamerikenischen Lyrik wie Borges, Vicente Huidobro, Macedonio Fernandez, Pablo Neruda und César Vallejo zwischen zwei Buchdeckeln vereinte (neben vielen längst verschollenen Namen wie Jacobo Fijman, Magda Portal oder Gerardo Seguel) – in gewisser Weise kommt diesem „Katalog der neuen amerikanischen Dichtung“ der Rang zu, den in der deutschen Literatur Kurt Pinthus‘ „Menschheitsdämmerung“ einnimmt, die 1919 im Rowohlt-Verlag mit dem Untertitel „Symphonie jüngster Dichtung“ erschienen ist. In der Folge entwickelte sich Hidalgo zu einem monomanischen Egozentriker und literarischen Einzelgänger, dessen Texte sich ganz der eigenen Befindlichkeit widmen – was ihn aber nicht hinderte, 1926 in der „Ubicación de Lenin“ (El Inca) dessen „Standort“ zu preisen oder 1945 eine „Oda a Stalin“ (El Martillo) folgen zu lassen.
Auch bei Dr. Richard Rest, der in „Idilio“ den Ängsten und Neurosen der Leser*innenschaft die Patina der Modernität verlieh, handelt es sich um ein Pseudonym. Die wirklichen Verfasser der bis 1951 erscheinenden Glossen waren der aus Italien stammende Soziologe Gino Germani (1911-1979) und der Dozent Enrique Butelman (1917-1990), der 1957 an der Universität von Buenos Aires das Institut für Psychologie (bezeichnenderweise im Fachbereich „Filosofía y letras“) gründete. Germani war 1934 aus seiner Geburtsstadt Rom vor der ideologischen Enge der faschistischen Diktatur nach Argentinien geflohen und wurde einer der Begründer der modernen Soziologie dort. 1965 entschloß sich Germani, der jedweden Nationalismus zutiefst verabscheute und dessen argentinische Spielart er als „Selbstmord der Menschheit“ bezeichnete, von einer Gastprofessur aus Harvard nicht zurückzukehren; in seinen vier letzten Lebensjahren hatte er einen Lehrstuhl an der Universität von Neapel inne.
Die banalen Handreichungen in „Idilio“ sind nur deshalb nicht als „völlig vergessen“ zu bezeichnen, weil sie dafür irgendjemandem im Gedächtnis geblieben sein müßten. Anders ist es mit den Fotomontagen aus der Hand von Grete Stern, mit denen jede Folge illustriert wurde. Von den ersten 46 davon existieren hochwertige photographische Kopien, die sie nach der Fertigstellung im heimischen Atelier anfertigte; für die späteren haben für die Reproduktionen im Bildband „Sueños“ (zuerst 1995 bei IVAM in Barcelona erschienen) und für diverse Ausstellungskataloge die Zeitschriftenabdrucke als Vorlage gedient. (Das Spanische weist bekanntlich in diesem Bereich eine lexikalische Lücke auf. Während bei den Verben für "schlafen" und "träumen" zwischen "dormir" und "soñar" unterschieden wird, gibt es nur das Substantiv "el sueño" für Beides.)
("Sueño cosmico")
("Barquito de papel" - Das Papierbötchen)
("Sirena del Mar," Idilio Nr. 72 vom April 1950)
("Sueños de Inexperiencía," Idilio Nr 77, Mai 1950)
("No Destino Con El Agua" (Unter Wasser funktioniert es nicht), Idilio, Juli 1951)
("Träume vom Gefangensein," Idilio, 11. Oktober 1949)
("Träume von der Ambition," Idilio Nr 79, 8.8.1950)
("Träume von der Flucht," Idilio, Nr. 84, 27.11.1950)
("Träume von der Sprachlosigkeit," Idilio Nr. 67, 28.2.1950)
(Der gesichtslose Casinobesitzer aus der Traumsequenz in "Spellbound," 1945)
("Los sueños de renacimiento" - Träume von Wiedergeburt, Idilio Nr. 29, 7.6.1949)
("Los sueños de reminiscencias," Idilio Nr. 22, 19.4.1949)
("Made in England," Oktober 1950)
("Los sueños de vestido" - Träume über Kleidung, Idilio, Nr. 4, 16.11.1948)
Angemerkt sei zuletzt: daß diese Collagen ihrem vorgeblichen Thema, der Freudschen Traumanalyse, natürlich diametral widersprechen. Nach Freuds Auffassung bewirkt die Zensur durch das Überich, daß sich die verborgenen Wünsche und Triebe immer nur in verlarvter, harmloser Form präsentieren, deren bedrohliches Potential sich erst durch die Aufschlüsselung durch den Therapeuten offenbart – oder vielmehr der jahrlangen Kärrnerarbeit des Patienten unter beharrlicher Anleitung. Das ist der Grund, warum die „zündenden Szenen“, anhand derer Freud in seinen Schriften den „eigentlichen Inhalt“ der Neurosen seiner Patienten festmacht, von solch lähmender Banalität sind: ob sich nun „Irmas Injektion“ handelt oder den Anblick der im Baum hockenden Wölfe, die den „Wolfsmann“ als fünfjähriges Kind angeblich für sein Leben traumatisiert haben). Darin unterscheiden sich die Traumschilderungen, die für Freud wichtig erscheinen, grundlegend von denen bei seinem Schüler C. G. Jung, die einen tiefen, faszinierenden Sog auf den Leser ausüben und deren „Sinn“ sich unmittelbar erschließt. Und genau solch eine Eingängigkeit, die der Analyse nicht bedarf, findet sich in Grete Sterns Collagen. Das ist übrigens auch der Unterschied zu jener anderen freudianisch grundierten Traumszene aus der Unterhaltungskultur jener Jahre – der Sequenz in Alfred Hitchcocks Film „Spellbound“ von 1945, in der Gregory Peck den Schlüssel zu den Ängsten und dem Schuldkomplex findet, die ihn quälen und deren Symbolik, von Salvador Dalí in Szene gesetzt, ohne Auslegung unverständlich bleiben würde. Bezeichnenderweise läuft diese Szene während einer solchen Therapiesitzung ab, in der Peck als angehender junger Psychologe dem Zuschauer genau berichtet, was er gerade auf der Leinwand zu sehen bekommt (ein Spielcasino ohne Wände mit Vorhängen, auf denen starrende Augen zu sehen sind, eine Schere, die die Augen zerschneidet, ein paar riesiger Flügel, die ihn verfolgen…), begleitet vom laufenden Kommentar seiner Psychiaterin, die ihn behandelt und die ausgerechnet von Ingrid Bergman gespielt wird, was der ganzen Situation einen weiteren Anflug von Unwirklichkeit, und nicht im guten Sinne, verleiht.
Grete Stern, die 1958 die argentinische Staatsbürgerschaft erworben hatte, starb in Buenos Aires am 24. Dezember 1999, im Alter von 95 Jahren. Horacio Coppola, zwei Jahre jünger als seine erste Frau, dessen erster großer Auftrag eine Serie von Stadtpanoramen zum 400. Gründungsjubiläum von Buenos Aires gewesen war, den ihm die Regierung 1936 erteilt hatte, starb dort im Juli 2012, sieben Wochen vor seinem 106. Geburtstag. Der Kleine Pedant merkt an, daß er sich damit in die kleine Gruppe jener Kreativen einreiht, die bis weit über ihren 100. Geburtstag aktiv geblieben sind, und deren Todesdaten wie ein statistisches Artefakt sich auf die Jahre 2010 bis 2015 zu beschränken scheinen. Oscar Niemeyer, der Architekt von Brasilia etwa, starb Ende 2012 ebenfalls im Alter von 105 Jahren, und Portugals berühmtester Filmregisseur, Manoel de Oliveria, im April 2015 mit 106 Jahren.
(Aus der Bildserie von Horacio Coppola über Buenos Aires, 1936)
U.E.
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