25. Juni 2024

H. F. Harvey, "Augusthitze" (1910)





W. F. Harvey, “Augusthitze” (1910)

Phenistone Road, Clapham, 20. August 190-

Heute habe ich den wohl ungewöhnlichsten Tag in meinem ganzen Leben erlebt, und deshalb möchte ich meine Erinnerungen daran so schnell wie möglich zu Papier bringen, solange sie noch frisch sind.

Lassen Sie mich damit anfangen, daß mein Name James Clarence Withencroft lautet.

Ich bin vierzig Jahre alt und bei bester Gesundheit. Ich bin niemals krank gewesen.

Von Beruf bin ich Künstler. Kein sehr erfolgreicher, aber ich verdiene mit meinen Zeichnungen genug, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Meine einzige Verwandte, meine Schwester, ist vor fünf Jahren gestorben. Ich bin also ganz auf mich selbst gestellt.

Heute morgen habe ich um neun Uhr gefrühstückt, und nachdem ich die Zeitung durchgeblättert hate, zündete ich mir eine Pfeife an und döste vor mich hin, in der Hoffnung, daß mir vielleicht ein Motiv für meinen Bleistift einfallen würde.

Im Zimmer herrschte eine erstickende Hitze, obwohl Tür und Fenster offenstanden, und ich hatte mich entschieden, daß der kühlste und erträglichste Platz das tiefe Beckenende des hiesigen Schwimmbads wäre, als mir eine Idee kam.

Ich fing an zu zeichnen. Ich war so vertieft in meine Arbeit, daß ich das Mittagessen ausfallen ließ, und beendete die Arbeit erst, als die Kirchturmuhr von St. Jude’s vier schlug.

Auch wenn es nur eine hastig hingeworfene Skizze war, war das Ergebnis doch das Beste, das mir je gelungen war.

Sie zeigte einen Verbrecher auf der Anklagebank, gerade als der Richter das Urteil verkündet hatte. Der Mann war dick – von gewaltiger Korpulenz. Das Fett lag in breiten Wülsten um sein Kinn und verhüllte seinen kurzen, stämmigen Nacken. Er war glattrasiert (vielleicht sollte ich besser sagen: er war anscheinend wenige Tage zuvor rasiert gewesen) und fast kahlköpfig. Er stand vor der Bank, seine kurzen, plumpen Finger krampften sich am Geländer fest und er blickte starr geradeaus. In seinem Gesicht zeigte sich kein Schrecken, sondern nur ein absoluter innerer Zusammenbruch.

Es war, als ob in ihm nichts mehr an Stärke geblieben war, um diesen Berg von Fleisch aufrecht zu halten.

Ich rollte die Zeichnung zusammen und steckte sie ein, ohne genau zu wissen, weshalb. Dann verließ ich das Haus, beschwingt von jenem Glücksgefühl, das sich nach einer gut gelungenen Arbeit einstellt.

24. Juni 2024

Jorge Luis Borges, "Franz Kafka" (1951)



"Only connect! That was the whole of her sermon. Only connect the prose and the passion, and both will be exalted, and human love will be seen at its height. Live in fragments no longer. Only connect." (E.M.Forster, "Howards End")



(Jorge Luis Borges im Jahr 1951. Aufnahme von Grete Stern)

I.

Jorge Luis Borges, „Franz Kafka” (1951)

Um das Jahr 1916 oder 1917 fingen wir an, dem Namen Kafkas Veröffentlichungen des Expressionismus zu begegnen, die sich der Extravaganz verschrieben hatten (womit sie Erfolg hatten) und die sich beispielsweise „Der jüngste Tag“ oder ähnlich nannten. Kafka ist als Autor zu ausgefallen, als daß wir damals seine Originalität zu würdigen wußten. Wir lasen diese ersten Erzählungen und sie erschienen uns sinnlos, enttäuschend und sogar – wir gestehen es heute ungern – recht altmodisch. Jahre später lasen wir den „Prozeß“ in einer französischen Übersetzung, und waren von diesem Buch sehr beeindruckt. Im Nachhinein schmälerte sich die Begeisterung aufgrund des Verlaufs der Handlung. So haben wir uns im Lauf der Jahre an Kafka angenähert und sind dann wieder auf Distanz gegangen. Wir haben einiger seiner Erzählungen aus dem Deutschen übertragen, darunter die vielleicht vorzüglichste, „Beim Bau der chinesischen Mauer.“ Für einige Übersetzungen seiner Bücher ins Spanische haben wir Vorworte verfaßt. Und wir haben ihn in einigen unserer Erzählungen bewußt nachgeahmt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir ihn auch in Zukunft nachahmen werden, ohne es zu wollen, denn Kafka ist ein Autor, der eine heftige Anziehung auf einen ausübt.

Immer wenn wir uns dieser Anziehungskraft bewußt werden, versuchen wir uns ihrer zu entledigen. Wir erinnern uns an den Augenblick, als wir mit unschuldigem Entzücken entdeckten, daß manche seiner Romane, wie „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ genau das schildern, was in der Mathematik ein „infiniter Regress,“ eine „Endlosrekursion“ genannt wird. Im „Schloß“ gibt es einen Landmesser, dem nie Zutritt gewährt wird, sondern der niemals über Vorzimmern hinaus gelangt. Nun: dieser Vorgang beschreibt das Paradox, das Zenon von Elea gegen die Möglichkeit einer Bewegung vorgebracht hat. Jemand, der sich an einem Punkt A befindet, kann einen Punkt B niemals erreichen, denn zuvor muß er erst einmal die Hälfte dieser Strecke zurücklegen, und davor die Hälfte jener Strecke – und so weiter bis ins Unendliche. William James das gleiche Argument auf die Zeit angewendet. Wir waren nicht immer so unbedarft. Ein anderes Mal haben wir nach Kafkas literarischen Vorläufern gesucht, und sind bei vielen Autoren fündig geworden. Wir erinnern uns etwa an einen Roman von David Garnett, „Lady into Fox,“ dessen Handlung, wenn man sie nacherzählt und nicht liest, sehr an die Erzählungen von Kafka erinnert, besonders an „Die Verwandlung.“ Dieser Roman, und ein weiterer dieses englischen Autors, „A Man in the Zoo,“ ähneln, wie gesagt, Kafka. Aber wenn man sie liest, unterschieden sie sich gründlich von seinem Werk. Der Grund liegt darin, daß wir dort Zeugen eines phantastischen Geschehens sind; wenn wir Kafka lesen, scheint uns das, was seinen Gestalten passiert, uns selber zu widerfahren.

11. Juni 2024

Thesen zur Wahl

Ich gebe gerne zu, dass wir zur Europa-Wahl nicht viel beigetragen haben, aber ein paar Gedanken möchte ich doch, wenn auch vielleicht in Retrospektive, loswerden:

Es wird derzeit gerne viele davon gesprochen dass die Bürger vor allem viel gegen die Ampel gestimmt haben und deshalb die Afd so stark geworden wäre. Das ist maximal die halbe Wahrheit, eher nur ein Drittel: Richtig ist, dass viele gegen die Ampel gestimmt haben. Richtig ist aber auch, dass die Ampel nicht gleichmässig verloren hat, sondern das es in allererste Linie die Grünen, in zweiter Linie die SPD und erst in dritter Linie die FDP gewesen ist. Und das obschon die FDP eine extrem unsympathische Spitzenkandidatin aufgeboten hat. Mithin war das Ganze vor allem eine Flucht aus den roten, aber noch mehr aus den grünen Positionen. Auch die Wählerrichtung ist von großer Bedeutung, denn nicht die CDU war der Sammler dieser Wahlflüchtigen, es war vor allem die AfD. Und die AfD ist nicht eine rein rechte Partei, sie ist vor allem ein absoluter Gegenentwurf zu den Grünen. Was die Grünen richtig finden, findet die AfD falsch, und umgekehrt genauso. Mithin ist diese Wanderung nicht nur eine Abwendung von grünen Ideen, sondern eine Abwanderung ins Gegenteil!