22. Juni 2019

Fall Lübcke: Artikel 18 Grundgesetz und der innerparteiliche Ausrichtungskampf

Gemäß dem Pressekodex (Ziffer 13) ist die Unschuldsvermutung auch von Journalisten in Ausübung ihrer Tätigkeit zu beachten. Daran sollte man angesichts der jeglichen berufsethischen Standards hohnsprechenden Agitation, die der gewaltsame Tod des CDU-Politikers und Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Kassel, Walter Lübcke, im bundesrepublikanischen Blätterwald ausgelöst hat, bei aller Resignation ob der voraussichtlichen Sinnlosigkeit solcher Kassandrarufe doch erinnern.
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Zu ihrem vorläufigen Tiefpunkt hat die öffentliche Debatte über den Fall Lübcke aber nicht ein hauptamtlicher Publizist, sondern der parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verteidigung geführt. In einem in der WELT erschienenen Gastbeitrag (online hinter der Bezahlschranke abrufbar) geht Peter Tauber wie selbstverständlich davon aus, dass der derzeit Verdächtige auch wirklich der Täter sei und aus rechtsextremen Motiven gehandelt habe. Nach der Nennung von Personen, die nach Ansicht des früheren CDU-Generalsekretärs

durch eine Sprache, die enthemmt und zur Gewalt führt, mitschuldig am Tod Walter Lübckes

sein sollen, wird immerhin konzediert, dass die gegenwärtige Lage von Weimarer Verhältnissen noch entfernt ist, wobei der promovierte Historiker mindestens unsauber formuliert, wenn er – bezogen auf die erste deutsche Republik – zunächst von „über 500 politisch motivierte[n] Mordtaten“ spricht und dann „Erzberger, Scheidemann und Rathenau […] zu den bekanntesten Opfern“ zählt. Der in der Mitte Genannte überlebte nämlich das auf ihn verübte Attentat und starb 1939 im dänischen Exil.

Mit kleinen Ungenauigkeiten, die in ihrer Summe den Text des Merkel-Getreuen zu einer veritablen Peinlichkeit zusammenschnurren lassen, geht es dann weiter: Als Konsequenzen aus dem von ihm erhobenen Befund fordert Tauber nicht nur die Anwendung des Strafrechts, sondern bringt auch vor, dass die Eltern des Grundgesetzes

uns ein scharfes Schwert zum Schutz der Verfassung in die Hand gegeben

hätten, nämlich den Artikel 18 Grundgesetz. Zu dieser Bestimmung wird uns mitgeteilt, darin sei

festgeschrieben, dass derjenige entscheidende Grundrechte wie das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Eigentum oder auch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis verwirkt, der diese Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“.

Wer dieses ominöse, über das konstitutionelle Excalibur verfügende Wir denn ist, darüber schweigt sich der Beitrag aus, obwohl auch für einen Nichtjuristen – besonders einen, der die entsprechende Verfassungsnorm offenbar gelesen hat – leicht recherchierbar sein sollte, dass die Anwendung dieser Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht obliegt, und zwar – wie § 36 Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu entnehmen ist – auf Antrag des Bundestages, der Bundesregierung oder einer Landesregierung. Taubers Formulierung liest sich dagegen so, als wäre die Grundrechtsverwirkung durch einen Verwaltungsakt oder die Entscheidung eines Fachgerichts auszusprechen und damit sozusagen Alltagsrechtsanwendung.

Wenn man den die Rechtsfindung fördernden Blick in den Wortlaut des Artikel 18 Satz 1 Grundgesetz

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte

wagt und diese Zeilen mit Taubers Normtextreferat vergleicht, so wird offenbar, dass nach unserer Verfassung auch das Asylrecht durch Missbrauch zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verwirkt werden kann, der CDU-Politiker dies aber nicht erwähnt. Freilich: Auch das ist für sich gesehen kein Beinbruch, doch ganz im Sinne von Goethes Tasso „fühlt man Absicht und man ist verstimmt“. Denn wenn man so argumentiert wie Tauber, dann müsste ein dem genius loci entsprechendes Posting in einem Salafistenforum für die Verwirkung des Asylrechts ausreichen. Dies ist von dem immer gewählt Formulierenden aber sicher nicht intendiert.

Ich vermute auch, dass der Von-der-Leyen-Adjutant den juristischen Unterschied zwischen dem Prinzip der Prävention und jenem der Repression nicht ganz versteht. Dass Artikel 18 Grundgesetz ersteres Ziel verfolgt, wurde vom Bundesverfassungsgericht in den wenigen Fällen, in denen es mit einem Antrag auf Grundrechtsverwirkung beschäftigt war – stattgegeben wurde einem solchen Ansinnen noch nie – unmissverständlich klargestellt. So wurde im Beschluss vom 02.07.1974, 2 BvA 1/69, Randnummer 9, mit weiteren Nachweisen ausgeführt, dass Artikel 18 Grundgesetz

der Abwehr von Gefahren, die der freiheitlich- demokratischen Grundordnung durch individuelle Betätigung drohen können[,]

dient und für Artikel 18 Grundgesetz

die Gefährlichkeit des Antragsgegners im Blick auf die Zukunft entscheidend [ist].

Weder ein Kollektivmaulkorb für Politiker unliebsamer Parteien oder Mitglieder „rechter Netzwerke“ noch die Sanktionierung eines vielleicht früher einmal relevanten, aber pro futuro nur noch unerheblichen Wirkens gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) und auch nicht ein vielleicht Anstoß erregendes, aber keine Gefahr für die FDGO darstellendes Auftreten rechtfertigen die Anwendung des Artikel 18 Grundgesetz. Denn es geht in dieser Norm eben nicht darum, Meinungsabweichler für ihr unbotmäßiges Unterfangen zu bestrafen, vielmehr soll ein Wanken des Fundaments, auf dem dieser Staat errichtet ist, vermieden werden. Deshalb ist der Ausschluss vom Diskurs als befristet beziehungsweise befristbar konzipiert (siehe § 40 Bundesverfassungsgerichtsgesetz).

Wer nun einwirft, dass sich Artikel 18 Grundgesetz dann wohl als Totgeburt erweist, möge Folgendes bedenken: Man kann den Sinn dieser Bestimmung auch darin sehen, dass sie letztlich eine zusätzliche Absicherung der darin genannten Grundrechte mit sich bringt. Zum Beispiel die in Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz positivierten Grundrechte unterliegen dem Schrankenvorbehalt des Absatzes 2 der genannten Norm. Artikel 18 Grundgesetz würde nach der auch hier vertretenen Auffassung den einfachen Gesetzgeber daran hindern, zum Beispiel im Strafrecht einen Entzug der Meinungsfreiheit als Nebensanktion zu etablieren, was ihm von Artikel 5 Grundgesetz nicht schlechterdings verwehrt wäre. Die Leichtfertigkeit, mit der Tauber seinen politischen Antipoden den Knebel vor dem Mund anbringen möchte, wäre somit von der Verfassung keinesfalls gewollt.

Alexander Wendt, der sich in seinem Online-Magazin Publico seinerseits mit den verfassungsjuristischen Inkonsistenzen der Argumentation des CDU-Politikers befasst, attestiert Tauber, dieser wolle „nicht debattieren, sondern herumdröhnen“. Meines Erachtens möchte der gebürtige Frankfurter weder das eine noch das andere. Sein Vorwurf an Hans-Georg Maaßen und die „namenlosen Wichtigtuer von der Werte-Union“, wonach sich diese über die Integrations- und Einbindungsfähigkeit der politischen Rechten täuschten, sowie das zeitnahe Erscheinen einer sekundierenden, von Partei- und Gesinnungsfreund Ruprecht Polenz verfassten Kolumne auf SPIEGEL-Online sprechen meines Erachtens eher dafür, dass hier schon einmal für den nach den heurigen Landtagswahlen im Osten oder nach der Demission Angela Merkels zu erwartenden Ausrichtungskampf innerhalb der CDU Pflöcke eingeschlagen werden sollen. Politikern, die scheinbar selbstlos und zweckfrei handeln, sollte man grundsätzlich misstrauen.

Noricus

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