25. Juni 2019

Warum die Juden?

Die Frühmenschen breiteten sich, wohl von Afrika her, überallhin als Jäger, Bauern, Städte- und Reichsgründer aus: in Europa, Asien und auf dem amerikanischen Kontinent. Sie bauten in Ägypten und Amerika Pyramiden, entwickelten Waffen und hatten überall ein ähnliches Schmuckbedürfnis. Aber ihre Religionen und das Verhältnis zu Welt, Leid und Tod entwickelten sich sehr verschieden. ­

Die Götter trösteten, aber halfen nicht immer. Wer ist schuld am Unglück? Der Zufall? Eine böse Macht? Die ‚Strafen‘ der Götter erschienen nicht immer korrekt. Die Vernunft und Erfahrung ließen Zweifel entstehen; die Theodizee-Frage quälte sie früh.

Dass die meisten Völker die längste Zeit viele Götter hatten und sie wirklich ehrten, erscheint uns kindlich-gerecht. Noch die pantheistische Sensibilität unserer Klassiker bezeugt das Glück dieses Weltgefühls. Im fernen Osten entstanden aber auch andere Formen von Ethik und Religion, götterlose praktische Philosophien, die im Westen am Ende der Aufklärung die Agnostiker interessierten und zu Indien-Pilgern machten.

Merkwürdigerweise war es nur in Israel vor gut 25 Jahrhunderten auf dem kleinen Brückenzipfel zwischen Afrika, Asien und Europa zur singulären Erscheinung eines auf die Weltarbeit bezogenen neuartigen Glaubens gekommen: dass ein transzendenter, also überweltlicher Gott die Erde so stark liebe, dass er dem Volk Israel die Aufgabe zutraue, die Menschheit aus ihrer noch immer tierhaften Geschichte emporzuheben bis zur ‚Gotteskindschaft‘.

Viele heutige Postchristen halten die Frage der Existenz eines solchen Gottes oder zumindest einer solchen Zumutung, weil sie wissenschaftlich nicht überprüfbar, sondern nur eine Glaubenserfahrung ist, für politisch und im Alltagsleben nicht relevant. Eheleute streiten nicht über Gott, sagen Umfragen. Manche Journalisten verbreiten die Meinung, der Monotheismus sei Hochmut und sogar eine politische Gefahr, er sei die Erfindung einer altjüdischen Partei. Ein „heiliges Volk“ zu fordern, sei eine unverschämte Überforderung des Menschen.

Wie ist der Stand der Wissenschaft zur Entstehung des jüdischen Monotheismus? In der theoretischen und rein gelebten Form ist er erst im Babylonischen Exil im 6. Jh. zu finden. Die Literaturwissenschaft und die Archäologie bezeugen übereinstimmend als Wurzeln zwei Vorformen: Eine Monolatrie (Verehrung nur eines Hauptgottes) im Nordreich Israel und im Südreich Juda: Die Vorstellung eines nicht lokal gebundenen Himmelsgottes und die Erfahrung mit einem auf die Personen einer Sippe bezogenen Schutzgott. Im Exil wurden in den Sagen von der Schöpfung und dem Erzvater Abraham die Gestirngötter und die baalischen Landgötter entthront und die entscheidende volle Aufklärung vollzogen: Die Götter der anderen Völker existieren gar nicht, sind „Nichtse“.

Die jüdischen Laien, Propheten, Leviten und Priester, die schreiben konnten, beschrieben anhand der gescheiterten Königsgeschichte, was am gelebten Gottesglauben, im sozialen Leben und im Tempel falsch gelaufen war. Der biblische Gottesbegriff wurde also weniger an der Natur als vielmehr anhand der Geschichte gereinigt: Dort ‚sprach‘ Gott deutlicher. Die Sage vom Exodus aus Ägypten, dem Land des Dienstes für die Toten, illustriert das Ziel des jüdischen Glaubens: die Befreiung des Menschen zu einem erlösten Weltleben in einem freien Land.

Der unsichtbare Gott – man beachte die jüdischen Verbote eines Bildes von Gott und sogar des Aussprechens seines Namens – ‚existiert‘ nur im Wort für die Erfahrungen, die man mit Gottes Willen machte, den Mose und die Propheten zu erkennen gesucht hatten. Den Autoren war die Neuheit ihrer Bilder und Gleichnisse für den Gott Israels bewusst. Sie suchten Metaphern für seine göttlich-maßlose Liebe: Israel sei Gottes „Sohn“, sei Gottes „Braut“; Gott sei der „Fels“, die „Burg“ Israels. Sie trauten sich, ihn ins Zelt zum Gespräch mit Mose zu setzen und betonten gleichzeitig seine Freiheit: Er wohne im Ausland und komme von seinem Berg wie eine Gewitterwolke zu Hilfe. Den Tempel brauchte es nicht, Gott ist „mitgezogen“ ins Exil.

Auch der christliche Trinitätsglaube ist monotheistisch. Der Jude Jesus, seine Worte sind der Kirche WORT Gottes, weil er im Geist Gottes sprach, für ihn lebte und wegen dieses Ärgernisgebens sterben musste.

Der größte Teil der jüdischen Bibel ist Theologie in Form von großer Literatur: Widerstandsliteratur gegen die Mächte wie Assur und Ägypten. Es bestechen die Liste der Sozialordnung und das Einklagen der Propheten: die Wohltat des Sabbat auch für die Sklaven und Tiere, die Ränder der Felder für die Armen und Fremden, der Löser, welcher der kinderlosen Verwandten das Weiterleben der Familie und das Erbe sichert. Es erstaunt durch den Mut, das ewige Murren des Volkes gegen die Zumutungen Gottes ebenso getreu zu erzählen wie das Versagen des Hohenpriesters und der allermeisten Könige.

Die Sehnsucht nach Jerusalem und die Hoffnung auf eine Erlösung bis hin zum Weltfrieden prägt diese Sammlung von Gedanken aus fast tausend Jahren. Die Erzählzyklen werden ergänzt durch Lieder, Lehrschriften, Heldensagen, Prophetenlegenden, aber auch mit Sammlungen saftiger lebensnaher Weisheitssprüche und einem existenzphilosophischen Gespräch Ijobs mit seinen Freunden. Hinter allen realistischen Urteilen leuchtet die Zuversicht, dass Gott in seiner Vergebung größer sei als die Sünden von Menschen, dass es aber auch tadellose und heilige Menschen gebe.

Das schöne jüdische Wort „barmherzig“ für Gottes Art des Urteilens ebnet im heutigen Zeitgeist wie eine Walze alles ein, - damit das Ego seinen Fuß nicht mehr zu heben braucht? Es sollte beim menschlichen Handeln das soziale Gewissen wecken. Daran hängen alle irdischen messianischen Hoffnungen. Das Aufregendste, das gerade zwischen Christen und Juden (auch im Blick auf den jetzigen Staat Israel) geschieht, ist die Wiederentdeckung, wie sehr der Auftrag Gottes ein gemeinsamer ist. Eine späte Antwort auf Auschwitz. Aber mit Hans Jonas Worten ist dies die einzige göttliche Art der Einmischung in die Weltdinge: „mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles“.

Ludwig Weimer

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