11. November 2015

Zur Erinnerung an Helmut Schmidt

Den folgenden Beitrag schrieb Zettel zum 90. Geburtstag von Helmut Schmidt am 23. Dezember 2008. Wir wiederholen ihn zur Erinnerung an den gestern verstorbenen Bundeskanzler.

Kallias

Helmut Schmidt: Ein großer Kanzler. Aber auf eine andere Art als Adenauer, Brandt, Kohl

War Helmut Schmidt ein großer Kanzler?

Konrad Adenauer war es, der Kanzler des Wiederaufbaus und der Westintegration. Man könnte ihn, ohne zu übertreiben, den "Vater der Bundesrepublik" nennen. Willy Brandt war ein großer Kanzler; der Kanzler einer Liberalisierung unserer Gesellschaft (der "inneren Reformen") und natürlich der Aussöhnung - jedenfalls des Beginns einer Aussöhnung - mit den Staaten Osteuropas. Helmut Kohl war ein großer Kanzler; der Kanzler der deutschen Einheit.

Mit Helmut Schmidt verbindet sich keine solche historische Leistung. Auf den ersten Blick könnte man meinen, er gehöre eher zu den weniger bedeutenden Kanzlern wie Ludwig Erhard und Kurt- Georg Kiesinger. (Von dem bisher einzigen Kanzler, der seinem Amt nicht gewachsen war, Gerhard Schröder, will ich nicht reden).

Aber Helmut Schmidt gilt als einer der großen Kanzler. Liegt es nur an seiner beeindruckenden Persönlichkeit, seiner überragenden Intelligenz? Liegt es daran, daß er in fast drei Jahrzehnten nach dem Ende seiner Kanzlerschaft in die Rolle eines Elder Statesman, ja eines Übervaters der Nation hineingewachsen ist?

Nein. Helmut Schmidt war einer der großen Kanzler. Aber auf eine andere Art als Adenauer, Brandt, Kohl.



Historiker lehnen es meist ab, über ein "Was wäre gewesen, wenn ..." zu spekulieren. Wissenschaftlich ist das unseriös, weil es ins Uferlose, ins nicht Beweisbare und nicht Widerlegbare führt. Aber dem Amateur ist es erlaubt; und auch mancher Historiker erlaubt es sich hier und da. Zum Verständnis der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt ist es unerläßlich.

Die Jahre von 1974 bis 1982, in denen Helmut Schmidt Kanzler war, waren Schicksalsjahre der Bundesrepublik; so wie zuvor nur die ersten Jahre nach ihrer Gründung und die Jahre 1989/1990.

Nach 1949 wurden die Weichen in Richtung auf eine demokratische, kapitalistische, in den Westen integrierte Bundesrepublik gestellt. Um die Jahreswende 1989/1990 entschied sich, ob die Revolution gegen die kommunistische Gewaltherrschaft friedlich bleiben und ob es gelingen würde, den Vier Mächten die Wiedervereinigung abzuringen.

In der Zeit Helmut Schmidts entschied sich, ob die Bundesrepublik der freiheitliche Rechtsstaat bleiben würde, die sie unter den Kanzlern Adenauer, Erhard, Kiesinger und Brandt geworden war.

Schmidt hat nicht gestaltet, er hat verteidigt. Seine Größe als Kanzler liegt darin, daß es ihm gelungen ist, das Bestehende zu erhalten. Daß das "Was wäre, wenn ..." uns erspart geblieben ist.



Die Bundesrepublik war in diesen Jahren dreifach gefährdet; und jede dieser Gefährdungen hätte das Ende des freiheitlichen Rechtsstaats bedeuten können.

Die erste Gefährdung, die Helmut Schmidt abgewehrt hat, wurde in jeder Sendung, in jedem Artikel zu seinem 90. Geburtstag gewürdigt: Er hat standgehalten im Kampf gegen den Terrorismus.

Was aus der Bundesrepublik geworden wäre, wenn sie damals einen Kanzler gehabt hätte, der sich bei der Entführung Hanns- Martin Schleyers auf einen Handel mit den Terroristen eingelassen hätte - ja keine abwegige Vorstellung; zweieinhalb Jahre zuvor hatte es im Fall Lorenz einen solchen Handel gegeben -, das mag man sich nicht ausmalen.

Die Bundesrepublik war in den siebziger Jahren zweitens gefährdet durch die Bestrebungen des linken Flügels der SPD und der linken Flügel etlicher Gewerkschaften, auf dem Weg sogenannter "systemüberwindender Reformen" den Sozialismus einzuführen. Dazu sollte zum Beispiel eine immer weiter gehende Investitionslenkung dienen. An Helmut Schmidt - nicht nur an ihm, aber wesentlich an ihm - sind derartige Pläne gescheitert.

Freilich verlor Schmidt am Ende den Kampf gegen die SPD- Linke, den er gemeinsam mit seinem Wirtschaftsminister, dem Grafen Lambsdorff von der FDP, geführt hatte. Mit dem "Lambsdorff- Papier", einer auch heute noch höchst lesenswerten Abrechnung mit sozialistischen Tendenzen in der SPD (veröffentlicht am 9. September 1982) zog Lambsdorff die Notbremse. Es gelang damit, den Weg in den Sozialismus zu stoppen; aber der Preis war das Ende der sozialliberalen Koalition und damit das Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts.

Bei den Wahlen, die auf das erfolgreiche konstruktive Mißtrauensvotum gegen ihn folgten, kandidierte Helmut Schmidt nicht mehr. Mit welcher SPD hätte er auch im Fall eines Wahlsiegs (der angesichts der ungeheuren Popularität, die er nach seiner Abwahl erstmals genoß, nicht ausgeschlossen war) seine politischen Vorstellungen realisieren sollen? Und mit welchem Koalitionspartner, nachdem die FDP mit dieser SPD nicht mehr koalieren wollte?

Mit einer SPD - und das war die dritte Gefährdung - die in ihrer großen Mehrheit entschlossen war, Deutschland in eine Situation zu bringen, in der die Sowjetunion uns hätte militärisch erpressen können.



Die Sowjetunion hatte damals - man kann es zum Beispiel im Time Magazine vom 10. Dezember 1979 nachlesen - ein globales strategisches Gleichgewicht mit den USA erreicht. Zu deutsch: Man konnte sich gegenseitig auslöschen; vielfach sogar ("Overkill"). Mit der Aufstellung der SS-20- Raketen zielte die Sowjetunion nun nicht mehr auf den globalen Gegner USA, sondern auf Westeuropa.

Einen nuklearen Angriff der UdSSR hätte Westeuropa selbst nicht nuklear beantworten können; es hatte ja weder eigene Atomwaffen (von der nationalen französischen Force de Frappe abgesehen), noch besaß es auch nur eine integrierte militärische Organisation unabhängig von der Nato. Frankreich dachte nicht daran, die Force de Frappe in einem anderen als dem eigenen nationalen Interesse einzusetzen. Zumal die Bundesrepublik wäre einem solchen Angriff durch die UdSSR also ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr ausgesetzt gewesen.

Nuklear antworten können hätten allein die USA. Aber mit einem Gegenangriff hätten sie die Zerstörung des eigenen Landes nicht nur riskiert, sondern unweigerlich herbeigeführt.

Warum sollten die Amerikaner das tun, wenn der sowjetische nukleare Angriff ausdrücklich nicht ihnen galt, sondern ausschließlich Westeuropa? Wenn die Sowjets vielleicht im Augenblick des Angriffs Garantien geben würden, daß ihr Angriff nicht den USA galt?

Die Androhung eines amerikanischen Gegenschlags für diesen Fall war unglaubwürdig. Die Sowjets konnten folglich drohen, ohne einen derartigen Gegenschlag befürchten zu müssen.

Mit der Aufstellung der SS-20 war damit Westeuropa jeder nuklearen Erpressung der UdSSR ausgeliefert. Es ging gar nicht darum, daß der Atomkrieg tatsächlich geführt werden würde; schon das Bestehen einer solchen strategischen Dominanz mußte die Kräfteverhältnisse in Europa drastisch zugunsten des kommunistischen Lagers ändern. Mit allen - auch innenpolitischen - Folgen. In Italien und Frankreich gab es starke kommunistische Parteien, in Deutschland eine ständig erstarkende SPD- Linke, die erklärtermaßen ebenfalls den Sozialismus anstrebte.

Diese strategische Bedeutung der Aufstellung der SS-20 hatte Helmut Schmidt, der sich schon als Abgeordneter ("Verteidigungsexperte" der SPD) und dann als Verteidigungsminister intensiv mit geostrategischen Fragen befaßt gehabt hatte, als einer der ersten klar erkannt. Und als einer der ersten hat er es in der berühmten "Londoner Rede" am International Institute for Strategic Studies (IISS) vom September 1977 ausgesprochen. Dies führte zum Nato- Doppelbeschluß: Entweder die Sowjets ziehen die SS-20 zurück, oder die Nato antwortet mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenrakten, der Pershing II.



Deren Bedeutung lag nicht darin, daß sie auf die UdSSR zielten; das taten auch die amerikanischen Langstreckenraketen. Und wie gesagt - geostrategisch gab es ja den gegenseitigen "Overkill". Entscheidend war, daß dann, wenn die Pershing II in Deutschland aufgestellt sein würden, ein Angriff der UdSSR auf Deutschland auch ein Angriff auf diesen Teil des amerikanischen Abschreckungs- Potentials gewesen wäre und damit automatisch einen amerikanischen Gegenangriff nach sich gezogen hätte.

Mit der Aufstellung der Pershing II wäre also wieder eine funktionierende Abschreckung hergestellt gewesen. Die Logik war genau dieselbe, die heutzutage dazu führt, daß Tschechien und Polen Teile eines amerikanischen Raketen- Systems auf ihrem Boden haben wollen.

Die Stationierung der Pershing II war freilich nur die zweitbeste Möglichkeit. Die beste war natürlich, daß die Sowjets diese Sprache verstehen und die SS-20 abziehen würden. Im April dieses Jahres hat sich Helmut Schmidt erinnert:
In September 1977, my London address in honour of Alastair Buchan launched the debate on the need for the West to counteract the deployment of Russian medium-range missiles in Europe. Around the dinner table after my speech, I elaborated the underlying ideas. It was Helmut Sonnenfeldt, then a member of the Institute's Council and present at the dinner, who helped that these ideas were paid due attention in Washington.

The upshot of my London speech was NATO's double track decision in 1979. In the end, it made Moscow relent. The Soviets withdrew their SS20s; American Pershing II were not deployed in Europe. The outcome contributed significantly to the changes within the Soviet leadership that finally ushered in the end of the Cold War.

Im September 1977 löste meine Londoner Rede zu Ehren von Alastair Buchanan die Debatte über die Notwendigkeit aus, daß der Westen Gegenmaßnahmen gegen die Aufstellung von russischen Mittelstrecken- Raketen in Europa ergreift. Zu Tisch nach meiner Rede entwickelte ich die zugrundeliegenden Überlegungen. Es war Helmut Sonnenfeldt, damals Mitglied des Verwaltungsrat des Instituts [des IISS; Zettel], der bei diesem Essen anwesend war und der half, daß diesen Überlegungen in den USA angemessene Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Das Endergebnis meiner Londoner Rede war der Doppelbeschluß der Nato von 1979. Schließlich führte das zum Nachgeben Rußlands. Die Russen zogen ihre SS-20 zurück; es wurden keine amerikanischen Pershing II in Europa aufgestellt *). Dieses Ergebnis trug wesentlich zu den Änderungen in der sowjetischen Führung bei, die schließlich in das Ende des Kalten Kriegs mündeten.
Dieser Erfolg Helmut Schmidts, den Nato- Doppelbeschluß durchgesetzt zu haben, führte freilich zugleich zu seiner letzten Niederlage als aktiver Politiker der SPD: Auf dem Kölner Parteitag 1983 stimmten von rund 400 Delegierten noch ganze 14 für den Nato-Doppelbeschluß; darunter Schmidt selbst und Hans Apel, der sein Verteidigungs- Minister gewesen war. "... der Verlierer heißt Helmut Schmidt" schrieb der "Spiegel" damals.

Hätte die sozialliberale Koalition damals noch bestanden, dann hätte dieser Beschluß eines "schmachvollen" (so Robert Leicht) SPD- Parteitags vermutlich das Ende des Nato- Doppelbeschlusses bedeutet. Aber Schmidt war ja inzwischen gestürzt. Helmut Kohls neue Koalition billigte den Beschluß kurz nach dem "nein" der SPD. Schmidt hatte, wie beim Kampf gegen den Terrorismus, wie beim Kampf gegen die Sozialisten in der SPD, am Ende gewonnen.

Er hatte freilich auf allen drei Gebieten nicht mehr erreicht, als den freiheitlichen Rechtsstaat zu erhalten und zu sichern. Aber das war in den siebziger, war am Anfang der achtziger Jahre sehr viel.



*) Hier ist die Erinnerung Helmut Schmidts nicht korrekt. In der Bundesrepublik wurden, nachdem der Bundestag zugestimmt hatte, drei amerikanische Pershing-II -Bataillone mit ingesamt 120 Raketen aufgestellt, und zwar bei Sigmaringen, Illertissen und bei Heilbronn. - Mit Dank an Hubersn, der mich hierauf aufmerksam gemacht hat.



Titelvignette: Helmut Schmidt 1982. Copyright: Presidenza della Repubblica Italiana. Zur Nutzung freigegeben (Bild bearbeitet). Für Kommentare bitte hier klicken.