21. Juni 2012

Deutschlands demographische Zukunft. Eine ausgezeichnete interaktive Grafik zu Sarrazin (2010). Vom Statistischen Bundesamt

Nicht immer sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Aber sehr oft sagt eine Grafik mehr als viele Zahlen. Jedenfalls dann, wenn sie diese Zahlen treffend visualisiert; und vor allem dann, wenn sie interaktiv ist - wenn man also selbst entscheiden kann, was man sehen möchte; wenn man zwischen Modellannahmen wählen und sich deren jeweilige Konsequenzen zeigen lassen kann.

Eine solche Grafik zu demographischen Entwicklung Deutschlands habe ich jetzt dort gefunden, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte - bei einer Behörde. Es ist das Statistischen Bundesamt.

Klicken Sie einmal hier. Sie kommen dann zu der Version, die der in Ihrem Browser voreingestellten Sprache entspricht. Sie können in dem Kästchen links unten selbst die Sprache einstellen, wenn Sie das ändern wollen.

Wenn Sie die Grafik öffnen, sehen sie die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung im Jahr 2009 als sogenannte Bevölkerungspyramide. Durch Drehen Ihres Scrollrads können Sie in die Vergangenheit (zurück bis 1950) und in die Zukunft (bis 2060) gehen. Alternativ können Sie die Jahreszahl, für die Sie sich interessieren, in ein Kästchen unter der Grafik eingeben. Oder Sie klicken auf "Start" bzw. "Play". Dann sehen Sie die Veränderungen von 1950 bis 2060 als Animation.

Wenn man die künftige Entwicklung darstellen will, dann muß man natürlich Annahmen machen; über die Geburten­häufigkeit, die Lebenserwartung und das Wanderungssaldo (Differenz zwischen Ein- und Auswanderungen). Dazu können Sie in dem Kästchen rechts oben zwischen verschiedenen Modellvarianten wählen. Welche Annahmen sie damit für die Modellrechnung festlegen, sehen Sie jeweils unterhalb dieses Kästchens.

Haben Sie eine Modellvariante und ein Jahr gewählt, dann können Sie mit dem Cursor eine horizontale gelbe Linie über die Grafik bewegen. Sie wählen damit eine Jahrgangsgruppe aus - sagen wir, die 3jährigen oder die 70jährigen - und sehen rechts unten, wieviele männliche und weibliche Personen es in Deutschland in diesem Jahr gab oder geben wird. "Proporz" gibt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern an.

Mittels Klick auf die Kästchen unterhalb dieser Informationen können Sie die Darstellung der Altersgruppen ändern und/oder sich den Frauen- oder Männerüberschuß in der jeweiligen Altersgruppe anzeigen lassen.

Man kann damit auf einen Blick sehen, daß wir im Augenblick in Deutschland noch in einer demographisch ungemein günstigen Situation sind: 2010 waren die kopfstärksten Jahrgangsgruppen diejenigen im Alter von ungefähr 40 bis 50 Jahren; die Babyboomer, jetzt in einem tatkräftigen Alter. Diese - wie die Sozialwissenschaftler sagen - "Kohorte" bewegt sich nun in Richtung Rentenalter.

Sehen Sie sich zum Vergleich einmal die Lage im Jahr 2035 an. Dann ist diese Kohorte jenseits der Rentengrenze.

Der kopfstärkste aller Altersjahrgänge werden dann die 71jährigen sein!

Den 1.250.000 71jährigen werden 868.000 41jährige gegenüberstehen; und 872.000 Menschen im Alter von 51 Jahren. 1jährige wird es gerade noch 567.000 geben, also weniger als halb so viele wie 71jährige.

Das gilt unter den (vermutlich realistischsten) Annahmen der Modellvariante 1-W1: Konstante Geburtenhäufigkeit und ein Wanderungssaldo von +100.000. Substantiell ändert sich nichts, wenn man die günstigste Variante 3-W2 (Geburtenhäufigkeit auf 1,6 steigend; Wanderungssaldo +200.000) oder irgendeine andere Variante wählt.



Wenn ich diese interaktive Grafik in der Überschrift eine "Grafik zu Sarrazin" nenne, dann meine ich damit nicht, daß das Statistische Bundesamt sie in diesen Zusammenhang stellt; natürlich nicht.

Aber tatsächlich ist sie eine instruktive Illustration dessen, was den Kern von Thilo Sarrazins erstem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" ausmacht: Nämlich keineswegs das Thema Einwanderung, sondern die Zukunftsfähigkeit Deutschlands unter der Bedingung des bevorstehenden drastischen demographischen Wandels. (Für meine Beurteilung dieses Buchs und der überzogenen, nicht selten bösartigen Reaktionen darauf siehe Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (1): Warum ich diese Serie schreibe. Plädoyer für eine vernünftige Diskussion; ZR vom 30. 8. 2010).

Sarrazin wollte auf die Probleme aufmerksam machen, die dieser demographische Wandel mit sich bringen wird; in allen Lebensbereichen, aber vor allem, was unseren künftigen Wohlstand angeht. Die Einwanderung nach Deutschland ist ein Thema, das Sarrazin in diesem Kontext auch als einen Teilaspekt behandelt.

Es ist Teil der Irrationalität der Reaktion auf das Buch - jedenfalls in den Medien -, daß dieser Teilaspekt ganz in den Vordergrund gerückt wurde. Die heftige, emotionalisierte Diskussion zu diesem Aspekt hat dem Buch einen Erfolg als Bestseller verschafft, den es vermutlich sonst nicht gehabt hätte. (Allein von der gebundenen Ausgabe wurden bis Januar 2012 1,5 Millionen Exemplare verkauft; inzwischen gibt es eine Taschenbuchausgabe). Aber diese Diskussion hat auch den Blick dafür verstellt, worum es Sarrazin zentral geht.

Freilich wurde und wird auch diese Thema der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland selten unbefangen diskutiert. Für die Nazis war das ein zentrales Thema gewesen; also - so lautet der seltsame Umkehrschluß - ist es ein Thema, mit dem wir uns jetzt besser nicht auseinandersetzen sollten. Die Demographie - überall in der Welt eine angesehene Wissenschaft - wird in Deutschland oft mit Argwohn betrachtet.

Ich habe deshalb in der Serie Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft diesem Thema einen dreiteiligen Artikel gewidmet, in dem Sie vielleicht das eine oder andere nachlesen mögen, das Sie im Zusammenhang mit den Daten des Statistischen Bundesamts interessiert. Im ersten Teil finden Sie ausführliche Erläuterungen zu den Begriffen und zugehörigen Parametern, die den Modellvarianten zugrunde­liegen:
  • Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (4): Demographische Entwicklung und Geburtenziffer von Einwanderern - Teil 1: Grundbegriffe; ZR vom 21. 9. 2010

  • Teil 2: Sarrazins Zahlen; ZR vom 24. 9. 2010

  • Teil 3: Sarrazins Szenarien; ZR vom 29. 9. 2010.
  • Wenn Sie Teil 3 lesen, werden Sie finden, daß Sarrazins so heftig kritisierten Annahmen - eine Geburtenhäufigkeit von 1,4; ein Wanderungssaldo von +100.000 - exakt dem ersten, in der Grafik voreingestellten Modell des Statistischen Bundesamts (Variante 1-W1) entsprechen.

    Allerdings nimmt Sarrazin auch Modellrechnungen vor, welche die höhere Geburtenrate von Einwandern aus islamischen Ländern berücksichtigen. Diese fehlen leider beim Statistischen Bundesamt. Jedoch könnten sie in der Variante 3-W2 impliziert sein, die eine Geburtenhäufigkeit von 1,6 annimmt. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß dieser Wert allein innerhalb der Bevölkerung deutscher Herkunft demnächst erreicht werden könnte.



    Mit Sarrazins erstem Buch und den Reaktionen darauf habe ich mich damals, ab dem Sommer 2010, ausführlich beschäftigt. Falls Sie weitere Artikel zu diesem Thema interessieren, finden Sie diese neben der Serie Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft in den beiden Serien Artikel zu Thilo Sarrazin und Notizen zu Sarrazin.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Bevölkerungspyramide Deutschland 2010. Vom Autor Lennart Kudling unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.