3. Februar 2012

Europas Krise (9): Krise des Kapitalismus? Krise des Etatismus! Über die Verwechslung von Diagnose, Aitiologie und Therapie


Ein Klagelied schallt durch Europa. Man hört es mal laut und mal leise. Die einen singen einen elegischen Schwanen­gesang; andere stimmen ein herzzereißendes Lamento an. Die Entschlossensten schmettern bereits aus voller Kehle ihr Requiem für einen Kapitalismus, den sie immer schon im Grabe sehen wollten.

Die Krise Europas, darin sind sich alle einig, die mit ihrem Tönen zu dieser Kakophonie beitragen, ist zuvorderst eine Krise des Kapitalismus. Er ist es, der versagt hat; und in seinem Versagen bedroht er das politische Europa, ja unsere Demokratie.

In Gestalt eher leiser Töne ist das Klagelied schon bis mitten hinein ins Zentrum des Kapitalismus vorgedrungen, das Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) mit seinen jährlichen Treffen in Davos. Bereits im Vorfeld der diesjährigen Veranstaltung zitierte der Berner "Bund" den Gründer des WEF, Klaus Schwab, so:
"Der Kapitalismus in der bisherigen Form passt nicht länger zu unserer Welt", erklärte WEF-Gründer Klaus Schwab. "Wir haben es verpasst, die Lehren aus der Finanzkrise von 2009 zu ziehen." Der globale Wandel sei dringend nötig.

Während man mit grossen Risiken kämpfe, sei man immer noch belastet von den Sünden der Vergangenheit. "Wir haben eine moralische Kluft, wir sind überschuldet, wir haben die Investitionen in unsere Zukunft vernachlässigt, wir haben den sozialen Zusammenhalt unterminiert und wir laufen Gefahr, das Vertrauen künftiger Generationen zu verlieren", sagte Schwab.
Sie finden, daß das gar keinen leisen Töne sind? Dann lesen Sie dies:
Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von "Quote" oder "Format") und, und, und ...
Wo steht so etwas? In einer trotzkistischen, einer maoistischen Klassenkampf-Postille? Es stand Mitte Januar in der "Süddeutschen Zeitung"; und der Autor, der Europa so sieht, ist kein Linksextremist, sondern - so schreibt es die SZ unter die Überschrift "Kapitalismus braucht keine Demokratie" - Ingo Schulze, Schriftsteller. Ingo Schulze also, der seine ersten 27 Lebensjahre als Bürger der DDR verbracht hatte. Ein angesehener Autor; des Linksextremismus nicht verdächtig.



Was Ingo Schulze zu diesem Stakkato veranlaßt, das liest man, etwas weniger aufgeregt formuliert, in diesen Tagen und Wochen landauf, landab:

Die gewählten Politiker könnten nicht mehr frei entscheiden, weil sie der Diktatur der Finanzmärkte unterworfen seien; in Griechenland und Italien sei die Demokratie dadurch, daß parteilose Fachleute die Regierungsgewalt übernommen hätten, faktisch abgeschafft. Das Schicksal Europas werde nicht mehr von den Volksvertretern in Brüssel bestimmt, sondern zwischen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ausgekungelt, die freilich ihrerseits sich nach dem Wohl der Märkte und nicht dem der Völker Europas richten müßten.

Das ist alles gar nicht falsch. Es ist selbst dann nicht unbedingt falsch, wenn man es so zugespitzt formuliert wie kürzlich Dirk Schümer in der FAZ:
Welche Folgen die europäische Wirtschaftsregierung - in Wahrheit eine hektische Bettel- und Ausverkaufs­hysterie - für das Ansehen des europäischen Projekts, für die Glaubwürdigkeit der Demokratie an sich haben wird, das ist nicht pessimistisch genug abzuschätzen. Wenn sogar beim vermeintlichen Kassenprimus Deutschland die Notverordnungen aus Brüssel über Nacht im Finanzministerium eintrudeln, um dann samt Billiardenhaftungen morgens besinnungslos von einem überrumpelten Parlament abgesegnet zu werden, dann kann man das beim besten Willen nicht mehr demokratische Entscheidungsfindung nennen.
Ja, so kann man die Lage beschreiben, wenn man zur Zuspitzung neigt.

Aber es ist eben eine Beschreibung der Lage. Eine Erklärung, wie es dazu gekommen ist, haben wir damit noch nicht. In der Medizin unterscheidet man zwischen der Diagnose, der Aitologie (der Verursachung der Erkrankung) und der Therapie. Was Schümer darlegt, das ist eine Diagnose. Aber es ist keine Aitiologie; und erst recht bietet es keine Therapie an. Es ist faktisch so, daß die Finanzmärkte einen bestimmenden Einfluß haben; daß bestimmte demokratische Mechanismen in einigen Ländern suspendiert sind usw. Aber warum ist es so weit gekommen?

Es scheint die Meinung weit verbreitet zu sein, daß die Macht der Finanzmärkte ihre Ursache in der Macht der Finanzmärkte hat. So, wie in Molières "Eingebildetem Kranken" der Doktor-Kandidat die einschläfernde Wirkung des Opiums damit erklärt, daß dieser eine "Kraft des Einschläferns" habe, eine vis dormitiva. Oder wie man in Preußen einst sagte: "Die Armut kommt von der Pauverté".

Die Macht der Finanzmärkte über die Politik also als ein causa sui, etwas, das seine Ursache in sich selbst hat; nun einmal geschaffen durch den Kapitalismus?

Es scheint, daß viele das so sehen; und es ist doch offenkundig falsch.



Als Gero von Randow gestern den französischen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande zitierte, der die Finanzmärkte als seinen "wahren Gegner" ausgemacht hatte, bemerkte er dazu trocken:
Die Finanzwelt hätte die Macht usurpiert? Mit anderen Worten, sie hat in den vergangenen Jahrzehnten den Finanzministern gegen deren Willen die Schuldscheine aus der Hand gerissen? (siehe "Mein wahrer Gegner ist die Finanzwelt"; ZR vom 3. 2. 2012).
Treffender und kürzer kann man es kaum auf den Punkt bringen: Die Macht der Finanzmärkte wäre null, wenn europäische Regierungen - allen voran die Griechenlands, Italiens und Portugals - sich nicht auf diesen Finanzmärkten bis über beide Ohren verschuldet hätten.

Diese Schuldenpolitik ist die Ursache für die jetzige Lage. Hier liegt die Aitiologie. Es ist ein Denkfehler, sie mit der Diagnose zu verwechseln. Und es ist ein weiterer Fehler, die Diagnose bereits für die Therapie zu halten.

Daß die Finanzmärkte aufgrund der Überschuldung europäischer Staaten gegenwärtig von kritischer Bedeutung für die Entscheidungen der Politik sind, ist die Diagnose. Die Meinung, die Therapie könne darin bestehen, die Finanzmärkte zu kontrollieren, ist ungefähr so irrig wie die Vorstellung, man könne einen Tumor heilen, indem man ihn nicht mehr röngt.

Denn die Finanzmärkte spiegeln in ihrem Verhalten ja nur die reale Lage der betreffenden Länder wider. Behindert man diesen Indikator, dann macht man das künftige Schuldenmachen eher leichter; gewiß verhindert man es nicht.

Wenn man nun sich der Aitiologie zuwendet und nach den Ursachen dieser maßlosen Verschuldungen fragt, dann stößt man in der Tat auf die Frage demokratisch legitimierter Macht. Aber es sind nicht die Finanzmärkte, die diese Macht in Frage stellen; sondern es war und ist die Praxis einer aus dem Ruder laufenden Demokratie. Noch einmal Dirk Schümer:
Die Klasse der Politiker, die mit Klientelismus und Stimmenkauf ihre Länder an den Rand des Bankrotts geführt haben, ist "von den Märkten" in die Wüste geschickt worden. (...)

Besinnungslos selbstverliebte Volksvertreter wie die griechischen Parteistrategen à la Antonis Samaras, die noch am Abgrund des Bankrotts die alten Intrigen und Erpressungen durchspielen, erinnern fatal an den Comic "Asterix auf Korsika". Dort erklärt der Inselhäuptling, wie man dortzulande die Chefs aussucht: "Wir werfen unsere Wahlzettel in eine Urne. Dann werfen wir die Urne ins Meer. Dann machen wir eine Prügelei, und der Stärkste wird Chef."
Hier sind wir bei der Wurzel des Übels angekommen. Das sind nicht die Finanzmärkte, denen sich diese Regierungen durch ihre Politik maßloser Verschuldung ausgeliefert haben. Sondern es sind diese Regierungen und die sie tragenden Parteien und Politiker selbst; sie, die Macht zu gewinnen und zu sichern suchten, indem sie ihrer jeweiligen Klientel immer neue Wohltaten zukommen ließen. Finanziert über Schulden; unter dem Schirm des Euro, der auch diese windige Fiskalpolitik noch seriös erscheinen ließ.

Nicht der Kapitalismus ist schuld an der Krise, in der jetzt Europa steckt, sondern der Etatismus - die Krake Staat in südeuropäischen Ländern, die sich überall hinein erstreckt; ein Staat, der einerseits die Initiative des Einzelnen lähmt, der aber auf der anderen Seite Denjenigen reichlich gibt, die seine Ressourcen anzuzapfen verstehen, zum Wohl wiederum - do ut des - der spendenden Parteien und Politiker. Das sind freilich Ressourcen, die er nur gar nicht hat, der Staat; was ihn zwangsläufig auf den Weg der Schuldenmacherei bringt.



Und wie sieht es mit einer Therapie aus? Es fällt auf, daß Autoren wie Schulze und Dümer es beim Klagen belassen. Andere werden deutlicher und wollen - wie der Präsidentschaftskandidat Hollande - die Finanzmärkte entmachten. Natürlich durch neue staatliche Regulierungen; was ungefähr so sinnvoll ist, wie daß man als Mittel gegen die gegenwärtig herrschende Kälte die Anzeige der Thermometer bei null Grad fixiert.

Das Heilmittel ist nicht weniger, sondern mehr Kapitalismus. Die Rückkehr nämlich zu einem freien Wettbewerb, der in Ländern wie Griechenland und Italien weitgehend durch staatliche Eingriffe und Regulierungen eingeschränkt, wenn nicht außer Kraft gesetzt wurde.

In der FAZ befaßt sich heute der emeritierte Bonner Politologe Erich Weede mit der Krise Europas. Er macht darauf aufmerksam, wie eng der historische Erfolg Europas auf Freiheit und Vielfalt beruht, auf dem Kapitalismus:
Europa ist der Kulturkreis oder die Zivilisation, die die freie Marktwirtschaft oder den Kapitalismus erfunden hat, die Naturwissenschaft und Technologie eher und mehr als andere Hochkulturen entwickelt hat, die als erste die Massenarmut überwunden hat.
Warum war Europa so erfolgreich? fragt Weede dann. Seine Antwort:
Weil Europa den Menschen zuerst einigermaßen sichere Eigentums- und Verfügungsrechte oder wirtschaftliche Freiheit gewährt hat. Die sind wichtig, weil Menschen Arbeitsanreize brauchen. Das wusste schon Adam Smith. Die Sozialisten in allen Parteien wissen es heute noch nicht. (...)

Wer diese Einsicht verstanden hat, wer Kapitalismus wie die Marxisten oder Mises durch Privateigentum an Produktionskapital definiert, der muss ein Anhänger des Kapitalismus sein. Dass es davon in Deutschland so wenige gibt, sagt etwas über die kaum vorhandenen Grundkenntnisse in Politischer Ökonomie in diesem Land.
Das, denke ich, ist die Antwort auf die Frage, wieso auch intelligente Autoren so blind sein können, die Finanzmärkte für die jetzige Krise verantwortlich zu machen: Sie wissen es nicht besser.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist. Mit Dank an isildur.