17. März 2011

Neue Lage. Die Kanzlerin rechtfertigt das Moratorium

Nach der "nuklearen Katastrophe" in Japan, und obwohl "wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind", können wir nicht zur Tagesordnung übergehen, sagte die Kanzlerin heute morgen im Bundestag.
Die unfaßbaren Ereignisse in Japan, sie lehren uns, daß etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden konnte. Sie lehren uns, daß Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich waren, sondern Realität wurden. Und wenn das so ist, wenn also in einem so hochentwickelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche möglich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde, dann verändert das die Lage.
Im "Lichte der neuen Lage" sei nun eine Sicherheitsüberprüfung nötig. Das Atomgesetz sehe die einstweilige Abschaltung vor, bis "sich die Behörden Klarheit über eine neue Lage verschafft haben". Die Ankündigung des SPD-Parlamentariers Oppermanns, ein neues Gesetz einzubringen, sei zu begrüßen; nötig sei es jedoch nicht.

"Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, daß Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können", und damit sei ein Gefahrenverdacht im Sinne von §19(3) Atomgesetz gegeben.
Auf dieser Rechtsgrundlage kann bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts die einstweilige Betriebseinstellung angeordnet werden. Jetzt hören Sie wieder gut zu: Ein derartiger Verdacht ist im Atomrecht - weil das so genau ist - dann gegeben, wenn sich wegen begründeter Unsicherheiten im Rahmen der Risikovorsorge Schadensmöglichkeiten nicht völlig ausschließen lassen.
Es handele sich um eine aufsichtsrechtliche Maßnahme, wobei das Atomgesetz in einer "neuen Lage" angewendet werde. Die Debatte über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme sei daher schwer nachzuvollziehen. Man solle aufhören, einander "juristische Tricks" zu unterstellen.



Der von der Kanzlerin erwähnte §19(3) des Atomgesetzes besagt folgendes (mit meinen Hervorhebungen):
Die Aufsichtsbehörde kann anordnen, daß ein Zustand beseitigt wird, der den Vorschriften dieses Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, den Bestimmungen des Bescheids über die Genehmigung oder allgemeine Zulassung oder einer nachträglich angeordneten Auflage widerspricht oder aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können. Sie kann insbesondere anordnen,
1. daß und welche Schutzmaßnahmen zu treffen sind,
2. daß radioaktive Stoffe bei einer von ihr bestimmten Stelle aufbewahrt oder verwahrt werden,
3. daß der Umgang mit radioaktiven Stoffen, die Errichtung und der Betrieb von Anlagen der in den §§ 7 und 11 Abs. 1 Nr. 2 bezeichneten Art sowie der Umgang mit Anlagen, Geräten und Vorrichtungen der in § 11 Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Art einstweilen oder, wenn eine erforderliche Genehmigung nicht erteilt oder rechtskräftig widerrufen ist, endgültig eingestellt wird.


Kommentar:

Die Kanzlerin bleibt bei der Position, die sie Anfang der Woche eingenommen hat. Sie schlägt dabei einen weiten und luftigen Bogen von dem Unfall in Japan über die Infragestellung wissenschaftlicher Einschätzungen zu einer "neuen Lage", die damit entstanden sei und schließlich zu den atomgesetzlichen Eingriffsrechten der Behörden.

Man braucht der Kanzlerin wahrlich keine "juristischen Tricks", wie sie sich beklagte, zu "unterstellen". Die Tricks liegen ja offen zutage.

Der umweltpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Michael Kauch präzisierte Merkels Argumentation noch etwas: er meinte, es sei jetzt fraglich geworden, ob die Annahmen, die unserer "Sicherheitsphilosophie" zugrundeliegen, zutreffend sind. Es habe sich gezeigt, daß in Japan die Sicherheitspuffer nicht gereicht haben, und eben dieses müsse auch bei uns nun geprüft werden. Es gehe also nicht darum, die KKW zu überprüfen, sondern das Regelwerk, nach dem geprüft wird, sei jetzt selbst auf den Prüfstand zu stellen. Gleiche Risiken seien nun anders zu bewerten. Er verwies auf den §7d des Atomgesetzes (den auch die Kanzlerin in ihrer Rede erwähnt hat), welcher von der schwarzgelben Koalition neu eingeführt worden sei, und der gerade diese fortlaufende Prüfung der Genehmigungsregeln vorsehe.

Er lautet so (meine Hervorhebung):
§ 7d Weitere Vorsorge gegen Risiken
Der Inhaber einer Genehmigung zum Betrieb einer Anlage zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität hat entsprechend dem fortschreitenden Stand von Wissenschaft und Technik dafür zu sorgen, dass die Sicherheitsvorkehrungen verwirklicht werden, die jeweils entwickelt, geeignet und angemessen sind, um zusätzlich zu den Anforderungen des § 7 Absatz 2 Nummer 3 einen nicht nur geringfügigen Beitrag zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit zu leisten.
In der Tat kann man hier ein argumentatives Bindeglied zwischen der angeblich veränderten Situation auf wissenschaftlichen Gebiet und dem Genehmigungsrecht für Kernkraftwerke erkennen.

Der Pferdefuß bei diesem juristischen Puzzlespiel - Steinmeier sprach in der Debatte zurecht von "Pirouetten auf ganz dünnem Eis" - liegt darin, daß Merkel und Kauch sich um die Nennung auch nur irgendeines konkreten Anhaltspunkts herumdrückten. Was genau ist in Japan geschehen? Das sagen sie nicht, und das weiß auch keiner zur Stunde. Welche wissenschaftliche Einschätzung ist dadurch fraglich geworden? Was genau hat man für unmöglich gehalten und ist jetzt eingetreten? Inwiefern handelt es sich dabei um Sachverhalte, die auf die Situation der deutschen Kraftwerke übertragbar sind? Nichts davon wurde im einzelnen benannt. Eine neue Lage sei eingetreten und daher müsse man jetzt ergebnisoffen prüfen.

Die Formulierung von Gesetzen ist ja oft recht allgemein gehalten, da nicht jede konkrete Situation vorhersehbar ist, doch gerade darum bedarf es bei der Anwendung der Gesetze einer ins Einzelne gehenden Begründung - die aber gerade nicht geliefert wurde. Statt einer sachlich begründeten Maßnahme erleben wir einen willkürlichen Eingriff in Rechte aufgrund allgemeiner Redensarten.



Dabei haben konkrete Überprüfungen im Falle von Neckarwestheim vor zwei und vier Jahren bereits stattgefunden, und zwar von einem Operation Safety Review Team (OSART) der IAEA mit dem Ergebnis:
Das Team betrachtet das Niveau, auf dem im Kernkraftwerk Neckarwestheim mit der betrieblichen Sicherheit umgegangen wird, als eines der höchsten in der Welt. Bei unserem regulärem Nachfolgebesuch im Mai 2009 stellten wir dann fest:
Die Art und Weise, mit der das Kernkraftwerk unsere Hinweise aus dem Jahr 2007 behandelt hat, liegt oberhalb der Erwartungen der international anerkannten Normen für nukleare Sicherheit.
(Siehe dazu auch den Kommentar von Martin im Kleinen Zimmer.)

Dieses Kraftwerk muß also stillgelegt werden wegen der Probleme, die in Fukushima aufgetreten sind und einer unspezifischen "neuen Lage", die dadurch entstanden sei.



Es heißt, die Energieerzeuger erwägen juristische Schritte gegen die Stillegungsverfügungen. (Siehe SZ vom 16.03.2011.)

Sie werden sich das sicher reiflich überlegen. Zu hoffen wäre eine solche Klage schon, denn meistens sind es die Gerichte, die letzlich den allzu laxen Umgang mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit stoppen.



Korrektur (18.3.2010): Nachdem die Bundesregierung ein Video der Regierungserklärung veröffentlicht hat, habe ich die wörtlichen Zitate, die ich zuerst "live" etwas ungenau mitnotiert hatte, richtiggestellt.
Kallias

© Kallias. Mit Dank an Martin.
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