18. März 2011

Die "Tagesschau" gestern über Fukushima: Vierzehn sachliche Fehler


Was Sie jetzt lesen, das werden Sie vielleicht nicht glauben wollen, aber es ist die Wahrheit: In ihrer Hauptsendung gestern um 20.00 Uhr berichtete die "Tageschau" mit einer Dauer von 2:30 Minuten über das Unglück im KKW Fukushima Daiichi. In diesen zweieinhalb Minuten waren vierzehn sachliche Fehler enthalten.

Im folgenden dokumentiere ich diesen Text und kommentiere ihn. Meine Kommentare stützen sich im wesentlichen auf das, was ich in vorausgehenden Artikeln mitgeteilt und durch Links belegt habe (Wie groß ist die Gefahr einer Kernschmelze in Fukushima?; ZR vom 13. 3. 2011, Einige Quellen, die Sie zuverlässig über die Lage in den beiden Kernkraftwerken bei Fukushima informieren; ZR vom 15. 3. 2011, Die Lage in Fukushima Daiichi; ZR vom 17. 3. 2011 sowie Die Lage in Fukushima Daiichi (Fortsetzung); ZR vom 17. 3. 2011).

Ich erwähne auch kleinere Ungenauigkeiten, die man als läßliche Fehler ansehen mag. Aber die Haupt-Nachrichtensendung des größten öffentlich-rechtlichen Programms in Deutschland darf auch in den Details nicht falsch sein.

Die Interpunktion bei der Transskription habe ich nach Gehör vorgenommen. Es bleibt da immer ein Spielraum der Interpretation. Meine Kommentare sind kursiv geschrieben. Die Fehler sind durchnumeriert.



Sprecherin Susanne Daubner:

Guten Abend, meine Damen und Herren.

In Fukushima wird mit allen Mitteln versucht, die Reaktorkatastrophe einzudämmen. Das japanische Militär setzt Wasserwerfer und Hubschrauber ein, um die Anlage zu kühlen.
1. Das japanische Militär setzte keine Wasserwerfer ein. Wasserwerfer wurden von der Polizei eingesetzt, erwiesen sich aber als ineffektiv. Das Militär setzt Hubschrauber sowie Löschfahrzeuge ein, die von den Feuerwehren von Militärflughäfen zur Verfügung gestellt wurden.
Dabei riskieren die Helfer ihr Leben, weil die Strahlung im Umkreis des Kraftwerkes stark gestiegen ist.
2. Die Strahlung in dem Kraftwerk ist im Verlauf des gestrigen Tages nicht gestiegen, sondern gesunken, und zwar von 3,8 mSv/h auf 1,6 mSv/h. Diese Messungen werden am Eingang des KKW vorgenommen. Messungen aus seinem "Umkreis" (gemeint ist wohl seine unmittelbare Umgebung) sind bisher meines Wissens überhaupt nicht veröffentlicht worden. Sie wären im jetzigen Kontext auch irrelevant, denn die Helfer bewegen sich ja nicht in der Umgebung des Kraftwerks, sondern auf dessen Gelände.

3. Die Behauptung, daß die Helfer "ihr Leben riskierten", ist nachgerade absurd. Die Bestimmungen zum Strahlenschutz werden strikt eingehalten. Allerdings wurde der Grenzwert auf 250 mSv heraufgesetzt; die "Katastrophendosis", die zum Beispiel auch für die deutsche Feuerwehr gilt.

Jeder Helfer wird nach seinem Einsatz sofort medizinisch untersucht. Von 18 gestern untersuchten Arbeitern zeigten 17 keinen Befund. Bei einem wurde festgestellt, daß er eine erhöhte Strahlendosis erhalten hatte, die aber keine ärztliche Behandlung erforderlich machte.

Auch die Piloten der Hubschrauber sind keiner gesundheitsgefährdenden, geschweige denn einer ihr Leben bedrohenden Strahlenbelastung ausgesetzt. Der letzte in 30 m Höhe gemessene Wert war 4,2 mSv/h; weit unter dem Grenzwert, der für Militärpiloten vorgeschrieben ist. Die Hubschrauber sind darüber hinaus durch eine Bleiverkleidung geschützt, und die Piloten tragen Schutzbekleidung mit Blei.
Bislang konzentriert sich der Einsatz auf den Reaktorblock 3. Dessen Brennstäbe enthalten Plutonium, das besonders gefährlich ist. Aber auch im Abklingbecken von Reaktor 4 erhitzen sich die Brennstäbe, weil die Kühlung ausgefallen ist.

Einspieler mit Stimme aus dem Off:

Das Atomkraftwerk Fukushima in Schutt und Asche. Dieses Video wurde heute im Internet veröffentlicht, aufgenommen aus einem Hubschrauber, der über das Gelände geflogen war.
4. Es handelt sich nicht um ein Video, das im Internet veröffentlicht wurde, sondern um einen Ausschnitt aus dem gestrigen Programm des staatlichen japanischen Senders NHK. Dieser hatte einen Hubschrauber geschickt, der die Aufnahmen machte.

5. Er flog allerdings nicht "über das Gelände", sondern machte die Aufnahmen aus einer sicheren Entfernung von 30 km. - Natürlich gelangen solche Sendungen irgendwann auch als Videos ins Internet.
Noch immer entweicht radioaktive Strahlung aus den Trümmern. Noch immer versucht die Armee, eine Kernschmelze einzudämmen.
6. Die Gefahr einer Kernschmelze - also einer Schmelze innerhalb des Reaktorkerns, der von dem Containment umgeben ist - besteht seit Tagen nicht mehr. Die Reaktoren 1, 2 und 3, die zum Zeitpunkt des Bebens hochgefahren gewesen waren und in denen allein dieser Fall hätte eintreten können, werden seit dem 14. 3. mit Meerwasser gekühlt, das mit Strom aus Generatoren über das Feuerlöschsystem der Reaktoren eingepumpt wird (siehe den detaillierten Statusbericht der Gesellschaft für Reaktorsicherheit). Eine Kernschmelze ist damit inzwischen so gut wie ausgeschlossen.

Die jetzigen Probleme betreffen etwas ganz anderes, nämlich abgebrannte Brennelemente, die in Abklingbecken außerhalb des Containments gelagert werden; und zwar oberhalb des Containments zwischen diesem und dem Dach des Reaktorgebäudes.
Aber die Versuche sind mühsam und riskant. Zunächst hatte die Armee wieder versucht, mit Hubschraubern Wasser aus dem Meer zu holen und über den heißen Reaktoren abzulassen, um sie zu kühlen.

Auch Wasserwerfer sollten direkt an das Atomkraftwerk heranfahren, um die heißen Reaktorgebäude zu besprühen. Die Aktion wurde unterbrochen. Nun vergeht wertvolle Zeit im Kampf gegen die nukleare Katastrophe.
7. Die Aktion mit den Wasserwerfern wurde nicht "unterbrochen", sondern sofort beendet, als sich gestern Abend zeigte, daß der Strahl der Wasserwerfer das Abklingbecken nicht erreichen konnte. Stattdessen werden seitdem die erwähnten Löschfahrzeuge des Militärs eingesetzt.

8. Daß "wertvolle Zeit verlorengeht", ist eine freie Erfindung.
So sah das Kraftwerk Fukushima 1 noch vor einer Woche aus. Nach dem verheerenden Beben und dem Tsunami fiel in Reaktor 1 die Kühlung aus. Dann gab es eine Wasserstoffexplosion am Gebäude, in Block 3 eine Explosion im Gebäude.
9. Die Explosionen fanden nicht einmal "am" und einmal "im" Gebäude statt, sondern bei beiden Blöcken im Reaktorgebäude.
Brennstäbe lagen zeitweise frei. Im Block 2 eine Explosion, die den Reaktorkern beschädigt haben könnte. Block 4 war zwar nicht im Betrieb. Nach einem Feuer liegen nun aber Brennelemente frei und können nicht gekühlt werden.
10. Ein Zusammenhang zwischen dem Feuer (wahrscheinlich brennendes Schmieröl) und dem Freiliegen der Brennelemente ist bisher nicht bekannt. Die Elemente sind nicht mehr hinreichend mit Wasser bedeckt, weil die Pumpen nicht funktionieren und das Wasser in allen Abklingbecken - ob es nun ein Feuer gab oder nicht - allmählich verdunstet.
Und das droht in diesem Reaktorblock: Die freiliegenden Brennstäbe heizen sich irgendwann so stark auf, daß sie schmelzen. Unvorstellbar heißes Plasma durchdringt im schlimmsten Fall die Betonhülle des Reaktors, könnte sogar ins Erdreich dringen und das Trinkwasser radioaktiv verseuchen.
11. Das ist einer der absurdesten Fehler in diesem "Tagesschau"-Bericht.

Zu dieser Textpassage wird nämlich der Ablauf einer Kernschmelze gezeigt. Nicht nur kann diese in Fukushima Daiichi so gut wie nicht mehr stattfinden, weil die drei Reaktoren, die noch Nachzerfallswärme aufweisen, längst gekühlt werden (siehe oben). Sondern der Reaktor 4, für den diese Darstellung gelten soll, war ja heruntergefahren gewesen. Dort gab es folglich von vornherein gar keine Nachzerfallswärme, die zu einer Kernschmelze hätte führen können.

Die Vorstellung, daß in diesem Reaktor 4 die beschriebene und in einer Animation dargestellte Kernschmelze mit einem Durchschmelzen der Bodenwanne eintreten könnte, zeigt, daß der Autor keinen Begriff vom Aufbau und Funktionieren eines Reaktors hat.
Nun arbeiten Experten mit Hochdruck daran, eine Notstromleitung zum Kraftwerk zu legen, um das Kühlsystem wieder einzuschalten.
12. Es handelt sich nicht um eine Notstromversorgung, sondern das KKW wird an das Hochspannungsnetz angeschlossen werden.
Die Leitung wird frühestens am Freitag fertig, und ob die Kühlung tatsächlich wieder anspringt, ist ungewiß.
13. "Frühestens am Freitag" ergibt keinen Sinn; denn als dieser Bericht gesendet wurde, war in Japan bereits Freitag; und zwar Freitag 4.00 Uhr Ortszeit. Wie hätte denn die Leitung da vor Freitag fertig werden sollen? Selbst in Deutschland war es bei der Sendung nur noch vier Stunden bis zum Freitag.

14. Was das "Anspringen der Kühlung" angeht: Natürlich genügt es nicht, den Strom einzuschalten, und dann läuft alles wieder. Die Pumpen müssen einzeln überprüft und ggf. repariert werden. Wie der Autor darauf kommt, daß es "ungewiß" sei, ob das funktioniert, wird sein Geheimnis bleiben. Natürlich lassen sich die Pumpen reparieren und dann wieder einsetzen. Die Vorausetzung ist nur, daß wieder Netzstrom zur Verfügung steht.



Hätten Sie das für möglich gehalten? Ein solcher Pfusch, eine solche Anhäufung von sachlichen Fehlern in der "Tagesschau", der immer noch viele Deutsche als einer besonders zuverlässigen Nachrichtenquelle vertrauen?

Ist das nur Pfusch, Schlamperei und schiere Unkenntnis, oder ist es auch politische Agitation? Was auffällt, ist jedenfalls, daß die Fehler ausnahmslos in die Richtung gehen, die tatsächlichen Schäden und die tatsächliche Gefahr zu übertreiben. Bei reiner Schlamperei würde man erwarten, daß man sich auch das eine oder andere Mal in die umgekehrte Richtung irrt.




Korrektur am 20. 3. 16.00 Uhr:

Bei Punkt 5 ist mir ein Fehler unterlaufen, auf den ich bereits am Freitag aufmerksam gemacht worden bin (siehe die Danksagungen im Fußtext). Ich hatte aber erst jetzt Zeit, die erforderlichen Recherchen anzustellen.

Das Video in der Tagesschau, das Aufnahmen vom KKW Fukushima Daiichi zeigt, ist aus verschiedenen Beiträgen des japanischen Senders NHK zusammengeschnitten.

Die Aussage "Dieses Video wurde heute im Internet veröffentlicht" in dem gesprochenen Text der Sendung, die ich unter Punkt 4 kritisiert hatte, bleibt also falsch.

Allerdings ist in das gezeigte Video oben links die korrekte Herkunftsangabe eingeblendet; insofern wäre es treffender gewesen, wenn ich auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht hätte.

Zu Punkt 5: Dadurch, daß das Video aus verschiedenen Aufnahmen zusammengeschnitten ist, unterscheiden sich auch die Entfernungen, aus denen aufgenommen wurde. Das hatte ich leider übersehen.

Meine Aussage zum Hubschrauber "Er flog allerdings nicht 'über das Gelände', sondern machte die Aufnahmen aus einer sicheren Entfernung von 30 km" ist nur für einen kurzen Abschnitt bei 1:15 richtig. Hier wurde das Bildmaterial aus 30 km Entfernung benutzt, dessen vollständiges Video Sie hier sehen können; dort ist auch die Entfernungsangabe eingeblendet.

Zuvor werden aber längere Ausschnitte aus diesem Video gezeigt. Es wurde ebenfalls von NHK gesendet und stammt also auch nicht "aus dem Internet". Aufgenommen wurde es jedoch nicht von dem NHK-Hubschrauber, sondern von Bediensteten von TEPCO. Das geht aus diesem Bericht der japanischen Zeitung Asahi vom 17. 3. hervor, in dem neben dem Video steht (in der Übersetzung von Google Translate):
TEPCO 17, has released images of the No. 3 and No. 4 Fukushima Daiichi Nuclear Power Station was taken by helicopter from the sky around 4:00 pm 16.

TEPCO hat am 17. [März] Bilder von den Blöcken 3 und 4 des KKW Fukushima Daiichi veröffentlicht. Sie wurden am 16. [März] gegen 16.00 Uhr von oben aus einem Helikopter aufgenommen.
Ich habe das holprige Englisch, mit dem man sich bei Google Translate zufriedengeben muß, in der Übersetzung geglättet.



Was ich der "Tagesschau" als Fehler Nr. 4 angekreidet hatte, bleibt also bestehen: Die Videoaufnahmen stammen nicht "aus dem Internet", sondern von NHK; allerdings nur teils von NHK selbst aufgenommen und teils als Übernahme von TEPCO. Ich hätte allerdings erwähnen sollen, daß diese Angabe im gesprochenen Text bereits durch die Logos in den Aufnahmen widerlegt wird.

Fehler 5 hingegen war keiner; hier hatte sich nicht die Tagesschau geirrt, sondern ich.

Fazit also: Da waren's nur noch 13.
Zettel



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