27. August 2009

Neues aus der Forschung (5): "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?" Gefühle beeinflussen, was wir wahrnehmen

Der Vater, der in Goethes Gedicht "Der Erlkönig" mit seinem Sohn "durch Nacht und Wind" reitet, sieht die Welt nüchtern und realistisch. Dort aber, wo er schnöde nur "einen Nebelstreif" lokalisiert, erblickt das fiebernde Kind den Erlkönig, den König der Elfen.

Man muß nicht fiebern, um derartige verzerrende Wahrnehmungen zu erleben. (Die Psychiatrie nennt sie Illusionen im Unterschied zu Halluzinationen, bei denen es gar keinen auslösenden äußeren Reiz gibt). Eine Verwandte erzählte mir einmal, wie sie als Kind hungrig war, während im Radio das legendäre WM-Finale 1954 aus Bern übertragen wurde. Statt "Rahn" (dem Namen eines deutschen Stürmers) verstand sie immer "Rahm".

Das sind Alltagsbeobachtungen. Lassen sich derartige Illusionen auch wissenschaftlich nachweisen? Und wenn ja - wie kommen sie zustande?

Das Thema hat die Wahrnehmungsforschung schon einmal intensiv beschäftigt, und zwar von den späten vierziger bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Es gab damals allerlei Bemühungen, Begriffe aus der Psychoanalyse wie "Verdrängung" für das Verständnis unserer Wahrnehmung nutzbar zu machen. Die Wahrnehmung wurde von dieser Forschungsrichtung - man nannte sie New Look; nach einer damals aktuellen Damenmode - als eingebettet in die Motivation betrachtet.

Wir nehmen leichter Angenehmes als Unangenehmes wahr, so lautete eine These. Was wir wahrnehmen, verrät etwas über unsere Persönlichkeit, besagte eine andere. Allgemein gesagt: Unsere Wahrnehmung hängt von unseren Werten und Bedürfnissen ab.

So formulierten es Jerome Bruner und Cecile D. Godman in einem klassischen Artikel, durch den 1947 diese Forschung mit begründet wurde; Sie können ihn hier lesen. Einen Überblick über den New Look- Ansatz finden Sie auch im zweiten Teil dieses Artikels in der New York Times von 1987 über das wissenschaftliche Werk von Jerome Bruner.



Die Forschung gab sich viel Mühe, das New Look- Konzept der Wahrnehmung im Experiment zu erhärten; aber man kam damals nicht recht voran.

Das lag zum einen daran, daß man bei der Erforschung der Wahrnehmung noch auf rein psychologische Methoden angewiesen war. Man konnte Reaktionszeiten messen; man konnte messen, wie gut Versuchspersonen eine Aufgabe lösen. Aber man konnte nicht beobachten, was dabei im Gehirn vorgeht. Dadurch blieben die damaligen Daten uneindeutig und wurden immer wieder in Zweifel gezogen.

Zum anderen fanden die Ideen des New Look wenig Unterstützung in den damaligen Vorstellungen von der Funktionsweise des Gehirns. Man stellte sich vor, daß die Verarbeitung innerhalb jeweils geschlossener Teilysteme von einer Stufe zur nächsten voranschreitet. Wie sollten da Gefühle die Wahrnehmung beeinflussen, wo man doch - so dachte man - einen Gegenstand erst einmal wahrgenommen haben muß, damit er Gefühle auslösen kann?

Inzwischen hat sich beides geändert.

Erstens verfügt die heutige Hirnforschung über Methoden, um sichtbar zu machen, was wo im Gehirn vor sich geht, wenn wir - beispielsweise - einen Gegenstand wahrnehmen; siehe Über die gewaltigen Fortschritte der Hirnforschung in einem halben Jahrhundert, Teil 1; ZR vom 10.7. 2009. Man ist also nicht mehr auf psychologische Daten allein angewiesen.

Zweitens haben sich im Zusammenhang mit diesen methodischen Fortschritten die Vorstellungen von der Funktionsweise des Gehirns radikal gewandelt; siehe Über die gewaltigen Fortschritte der Hirnforschung in einem halben Jahrhundert, Teil 2, ZR vom 14. 7. 2009. Die heutige Vorstellung von den Verarbeitungsprozessen im Gehirn ist viel dynamischer als die damalige: Wird Information verarbeitet, dann schließen sich Zellverbände in verschiedenen Arealen und Strukturen zu einem Netzwerk zusammen, in dem die Information interaktiv verarbeitet wird.

Das Ergebnis beider Entwicklungen ist, daß die Ideen des New Look, die damals eher Außenseiter- Status hatten, sich jetzt bestens in den Mainstream der Forschung einfügen; ja geradezu aus ihm hervorgehen. Also macht man in der Forschung jetzt dort weiter, wo man in den siebziger Jahren (weitgehend) aufgehört hatte. Über einige aktuelle Ergebnissen und Erklärungsansätze berichtet Jenny Laureen Lee in der Zeitschrift Science News (Band 176, Nr. 6, 29. August 2009, S. 22).



Sehen Sie sich einmal dieses Bild an:


Was sehen Sie? Es kann sein, daß sie einen Hasen sehen, der nach rechts blickt. Vielleicht sehen Sie aber auch eine Ente, mit dem Schnabel links. Jetzt, wo Sie es wissen, können Sie Ihre Wahrnehmung zwischen beiden Versionen "kippen" lassen. Man nennt solche Abbildungen deshalb Kippfiguren. Die gezeigte wurde erstmals 1899 von dem amerikanischen Psychologen Joseph Jastrow publiziert.

Dies ist ein Beispiel dafür, daß wir beim Sehen nicht einfach das wahrnehmen, was "da ist", sondern daß unser Gehirn zwischen Interpretationen wählt. Wie entscheidet sich, welche Interpretation sich durchsetzt? Es könnte vom Zufall abhängen. Aber viel spricht dafür, daß es Gesetzmäßigkeiten gibt.

Zum einen spielt der Kontext eine Rolle. Im Zweifel sieht man das, was besser in den Kontext paßt. In DIESEM WORT und in 2OO9 kommt dasselbe Zeichen vor, nämlich "O". Einmal sehen wir einen Buchstaben, das andere Mal zwei Ziffern. Der Kontext entscheidet.

Entscheiden vielleicht auch Emotionen?

Die beiden deutschen Psychologen Georg Alpers und Paul Pauli benutzten ein etwas komplizierteres Verfahren, um "Kippen" zu erzeugen: Den Versuchspersonen wurden zwei verschiedene Bilder dargeboten, von denen eins ins linke und eines ins rechte Auge projiziert wurde. Man sieht dann wie bei der obigen Kippfigur immer nur das eine oder das andere; und wie dort wechselt das Gehirn zwischen den beiden Wahrnehmungen.

Ein Teil der Bilder war emotional neutral (zum Beispiel eine Tasse), ein Teil war so ausgesucht, daß Emotionen ausgelöst wurden (zum Beispiel ein Revolver oder eine Schlange). Ergebnis: Im Wettstreit zwischen den beiden Bildern sahen die Versuchspersonen häufiger als erstes das emotionale, und sie sahen dieses in der Folgezeit auch länger als das konkurrierende neutrale Bild.

Wie ist das möglich? Wie kann das Gehirn auswählen, welches Bild "gesehen" wird, solange es noch gar nicht beide "gesehen" hat? Weil, sagt die heutige Forschung, das "Sehen" kein Ereingnis ist, sondern ein Prozeß. Zwischen dem Eintreffen der Information auf der Netzhaut und der bewußten Wahrnehmung vergehen größenordnungsmäßig 200 Millisekunden, also eine fünftel Sekunde. In dieser Zeit kann es zu einer Wechselwirkung zwischen Gefühlen und dem ablaufenden Wahrnehmungsprozeß kommen.

Jenny Laureen Lee zitiert in ihrem Artikel ein Gespräch, das sie mit der Bostoner Emotionsforscherin Lisa Feldman Barrett geführt hat. Barrett weist darauf hin, daß es im visuellen System, eine "schnellen" Verabeitungsstrang gibt, der zunächst einmal die groben Konturen eines Gegenstands analysiert, bevor ein anderer Strang die Einzelheiten mit Verzögerung dazuliefert. Dieser schnelle Verarbeitungsweg mündet u.a. in eine Region des Stirnhirns, den Orbito- Frontal- Cortex (OFC), der starke Verbindung mit denjenigen Gehirnstrukturen hat, die für Emotionen zuständig sind. Hier könnte also eine Schaltstelle sein, die sagt: "Das ist von der Form her vielleicht etwas Wichtiges (ein Revolver; eine Schlange); also erhält diese Interpretation Vorrang".

Man kann diesen Vorrang auch direkt nachweisen. In einer 2008 publizierten Untersuchung zeigten Luiz Pessoa und Srikanth Padmala von der Indiana- Universität in Bloomington ihren Versuchspersonen zunächst eine Serie von Streifenmustern. Beim Ansehen bestimmter Muster wurde zugleich ein leichter (unangenehmer, aber nicht schmerzhafter) elektrischer Reiz gegeben.

Im zweiten Teil des Experiments sollten die Versuchspersonen diese zuvor gezeigten Streifenmuster entdecken; und zwar bei nur ganz kurzer Darbietung, so daß das Entdecken schwer war. Die zuvor mit dem elektrischen Reiz gepaarten Muster wurden häufiger entdeckt. Zugleich zeigte die Kernspin- Tomografie, daß diese Muster auch stärkere Aktivität im visuellen System auslösten.



Die Geschichte vom Erlkönig ist also durchaus glaubhaft. Folgen wir Lisa Feldman Barrett, dann spielte sich dies ab:

Bei dem Kind gab es, bedingt durch sein Fieber, eine verstärkte Einwirkung seitens der für Gefühle zuständigen Strukturen des Gehirns (im limbischen System) auf die Verarbeitung im Orbito- Frontal- Cortex (OFC). Dort liefen auch vorläufige Informationen über die Nebelstreifen ein, z.B. deren grobe Umrisse. Sie wurden aufgrund des Zusammentreffens im OFC emotional interpretiert, was die weitere visuelle Verarbeitung beeinflußte. Am Ende sah das Kind den Erlkönig dort, wo sein Vater nur wabernde Nebelstreifen entdecken konnte.

Und nun, lieber Leser, lesen Sie noch einmal die Verse des damals knapp dreißigjährigen Goethe und lassen Sie sich durch das hier Gesagte nicht daran hindern, sich an ihrer Schönheit zu erfreuen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Die Kippfigur wurde von Joseph Jastrow (1899) publiziert. Sie ist in der Public Domain, weil das Copyright erloschen ist.