5. Juni 2007

Wir Achtundsechziger (2): Wieso eigentlich "Achtundsechziger"?

Das Jahr 1962 war, wie im ersten Teil beschrieben, in Deutschland der Beginn der Bewegung, die - so heißt es jedenfalls - 1968 kulminierte.

Die "Spiegel"- Affäre machte uns, die wir damals um die zwanzig waren, sensibel für die Gefährdung der Demokratie durch den Staat selbst.

Wir hätten freilich aus ihr auch lernen können, wie gefestigt unsere deutsche Demokratie schon damals war. Denn Augstein obsiegte ja.

Keine einzige Nummer des "Spiegel" fiel aus. In Augsteins Auftrag hatte, als dieser im Gefängnis saß und die Bibel studierte, (Claus) Leo Brawand(t) die Redaktions- Leitung übernommen.

Brawandt war der Verhaftung entgangen, weil er zum Zeitpunkt der Razzia im Schrank gewesen war. ("Ich gehe immer in den Schrank, wenn ich nachdenken will").

Am Ende stand Strauß als der Übeltäter da, und sein Traum von der Kanzlerschaft war ausgeträumt. Die Auflage des "Spiegel" dagegen stieg und stieg.

Aber eine Bewegung war entstanden. Staatskritisch, skeptisch. Sich langsam radikalisierend. Natürlich von den DDR- Kommunisten nach Kräften gesteuert.



War es wirklich 1968, als dann diese Bewegung kulminierte? Nein, eigentlich nicht. Ich habe mich oft gefragt, wo eigentlich dieser Begriff der "Achtundsechziger" herkommt.

Ich glaube, er ist nichts als eine historische Anleihe. Es gab im 19. Jahrhundert die "Achtundvierziger", die Rebellen des Jahrs 1848. Diejenigen, über die, sofern sie alles heil überlebt hatten, gereimt wurde (das Heckerlied gibt es in vielen Versionen):
Er hängt an keinem Baume,
er hängt an keinem Strick,
er hängt an seinem Traume
von der deutschen Republik.
Daher kommen vermutlich die "Achtundsechziger".

In Deutschland war dieses Jahr kein in der Geschichte der Bewegung herausragendes.

In Frankreich vielleicht schon eher, der "Mai '68'", als auf dem Boul' Mich' die Studenten demonstrierten, und als zugleich in Nanterre die Renault- Arbeiter streikten.

Ich war damals in Paris; nicht bei den Arbeitern, aber auf dem Boul' Mich'.

Aber in Deutschland war das einschneidende Ereignis viel eher der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.

Nur - "Siebenundsechziger", das klingt eben nicht so toll. Da fehlt halt der Anklang.



Für mich war 1967 ein wichtiges Jahr.

Ich war damals ein hoffnungsvoller Jung- Wissenschaftler, "Wissenschaftlicher Assistent, m.d.V.b."; so hieß das.

Ich ging, selbstverständlich, im Anzug und mit Schlips in die Uni; nein, die Universität. Die Studenten siezten sich untereinander, ich sie natürlich - und sie mich - auch.

Die Prüfungskandidaten erschienen im dunklen Anzug; die Kandidatinnen im Kleinen Schwarzen. Bei den Prüfungsterminen waren die Gänge voll dieser schwarzen Gestalten, die nervös auf- und ab gingen.

Nach der Prüfung erfuhr man nicht das Ergebnis; das wurde erst bei der Überreichung des Zeugnisses feierlich verkündet.

Ich hätte es nie gewagt, von mir aus am Zimmer meines Chefs anzuklopfen. Wenn ich mit ihm reden wollte, dann bat ich um einen Termin. Wenn er mich zu sich bat, dann fürchtete ich, daß es ein Problem gab.



Dann brach sozusagen die Studentenbewegung über mich herein.

Studenten hatten - ungewöhnlich, aber nicht gänzlich abwegig - eine Diskussionsveranstaltung organisiert. Es waren verschiedene Prominente für das Podium eingeladen worden, alles Professoren. Die Studenten fragten mich, ob ich nicht den "Werner Höfer" abgeben wollte, den neutralen Diskussionsleiter.

Das machte ich, schlecht und recht. Die Diskussion verlief ungewöhnlich turbulent, weil sich - ganz unüblich - Redner aus dem Publikum meldeten; teilweise recht rüde. Ich war froh, als ich das halbwegs bewältigt hatte.

Danach luden die Studenten, die das organisiert hatten, die Podiumsteilnehmer zu einer "Nachbesprechung" in ein Studentenwohnheim ein.



Und da saßen wir nun alle auf dem Boden, die Professoren und ich. Auf gleicher - geringer - Höhe wie die Studenten.

Seltsam genug.

Und diese Studenten, diese Studentinnen waren "unheimlich" (ein Wort, das ich in dieser Bedeutung auch gar nicht gekannt hatte) nett zu uns. Ich erinnere mich an eine fast blinde Studentin, die aus den USA gekommen war. Gut möglich, daß sie von dort vieles mitgebracht hatte,

Nett waren sie, diese Studenten. Aber auch in einer Weise "distanzlos", wie man damals sagte, die mich nachgerade fassungslos machte.

Eine Studentin fragte einen Professor, was er sich eigentlich von seiner Forschung erwarte. Ob er überhaupt glücklich sei.

Mich fragte jemand, wie ich denn meine Zukunft sehen würde. Welche Träume ich denn hätte.

Es wurde gefragt, wozu denn Wissenschaft überhaupt gut sei. Ob wir eigentlich "reflektieren" (auch so ein Wort) würden, was mit den Ergebnissen unserer Forschung angerichtet werden könnte.

Es wurde eine lange Nacht. Ich fing an, auf diese Fragen einzugehen, auch Professoren taten es (andere verschwanden sehr schnell).

Es war eindrucksvoll. Es hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.



Ich weiß nicht, wie repräsentativ das ist für die Art, wie man damals mit der "Bewegung" in Kontakt kam. Mich jedenfalls hat es geprägt.

Ich habe danach den Kontakt zu diesen Studenten gesucht, ich bin in die einschlägigen Kneipen gegangen. Ich habe an vielen Diskussionen teilgenommen - über Marx natürlich, über Freud, über Mao dann, über Reich, über Marcuse. Alte Texte wurden als Raubdrucke wieder verfügbar gemacht; das habe ich alles gekauft und gelesen.



Es war befreiend.

Ich habe bald in der Uni keinen Anzug mehr getragen, sondern eine Lederjacke.

Ich habe linke Literatur gelesen; mich durch das "Kapital" hindurch gearbeitet, die vier oder fünf Bände der Werke von Rosa Luxemburg.

Mit den Kommunisten konnte ich mich nie anfreunden; aber ich bin in die SPD eingetreten.

Und damit in eine Welt gekommen, die ich nicht gekannt hatte: Ein Ortsverein in einem Arbeiter- Vorort. Die Genossen waren fast alle Stahlarbeiter oder Gewerkschaftsfunktionäre. Menschen, mit denen ich - außer vielleicht in einer Kneipe - nie Kontakt gehabt hätte.

Sie haben mich beeindruckt; ich habe zum ersten Mal gemerkt, daß ich auf vielen Gebieten dem "einfachen Mann" weit unterlegen war.

Natürlich war ich in gewisser Weise ein besonderer Vogel unter diesen Arbeitern; aber die abgehärteten und trickreichen SPDler, von denen die Älteren ja die Nazi- Zeit überstanden hatten, ließen sich von akademischen Graden nicht sonderlich blenden. Sie wählten mich zum "Bildungsobmann", und das war's denn auch.



Fazit: Diese Aufbruchszeit der späten sechziger Jahre hat mir ein großes Maß an neuen, an interessanten Erfahrungen gebracht, die ich nicht missen möchte.

Niemand hätte damals gedacht, daß am Ende dieser "Bewegung" Kriminelle das Bild bestimmen würden.