31. August 2006

Verschwörungstheorien (2): Systematischer Zweifel

Das, was wir über die Welt wissen, ist in großem Umfang Wissen aus zweiter Hand. Wenn wir unserem Wissen trauen wollen, dann müssen wir - das war das Thema des ersten Teils - unseren Lehrern, Pfarrern und Professoren vertrauen. Wir müssen dann dem vertrauen, was in Büchern und Zeitschriften steht, was wir im TV sehen und im Radio hören.

Müssen? Nein, natürlich müssen wir nicht. Wir können dem allen mißtrauen. Grundsätzlich können wir sogar, wie es Augustinus und dann vor allem Descartes durchgespielt haben, unseren Sinnen mißtrauen. Das freilich mündet in einen Solipsismus, den man nur spielerisch durchhalten kann. Oder, besser gesagt, in Gestalt eines Als Ob erproben kann, das dann doch wieder zur Realität zurückführt und zurückführen muß. Bei Augustinus und Descartes mit Gottes Hilfe.



Der cartesianische Zweifel an der Realität unserer Sinneswelt also ist nicht ein Ergebnis des Denkens, sondern nur ein Weg des Denkens. Aber ein Weg - ein met-hodos, ein vermittelnder Weg - der doch etwas in die Welt setzte, was unsere Weltsicht nicht weniger revolutioniert hat als die kopernikanische Revolution: Die Herrschaft der Methode. Zwei der Hauptwerke von Descartes tragen das im Titel: Discours de la méthode, Regulae ad directionem ingenii - Abhandlung über die Methode, Regeln zur Lenkung des Denkvermögens. Und die Grundregel lautete: Prüfe alles kritisch! Nimm nichts ungeprüft hin!

Die Renaissance hatte das vorbereitet, aber erst Descartes machte es zum expliziten Programm: Descartes - er, die Person René Descartes - machte sich zum Richter über das, was er glauben wollte und was nicht. Und er wollte nur das glauben, was er selbst als richtig erkannt hatte.



Nun haben wir nicht alle die Kühnheit, das Selbstvertrauen und den Scharfsinn eines Descartes. Sein Programm konnte sich also nur sozusagen in der Variante Light durchsetzen: Nicht jeder kann sich von der Richtigkeit all dessen überzeugen, was er zu glauben bereit ist. Wir müssen den methodischen Zweifel gewissermaßen delegieren.

Dieser an Institutionen delegierte methodische Zweifel ist die Grundlage der Moderne:
  • Im Bereich der Natur und des Geistes haben wir ihn an die Wissenschaften delegiert. Der ungeheure Fortschritt der modernen Wissenschaft basiert darauf, daß jede Behauptung wieder und wieder kritisch geprüft wird; sei es im Licht von Erfahrungsdaten, sei es im Hinblick auf die formale Schlüssigkeit.

  • Im Bereich der Gesellschaft haben wir diesen methodischen Zweifel an die politischen Institutionen und die Judikative delegiert. Die demokratischen Institutionen sind so beschaffen, daß sie der Schwäche und Bosheit des Menschen, seiner Machtgier, seiner Unwahrhaftigkeit Rechnung tragen. Dazu brauchen wir die Gewaltenteilung, eine Balance of Powers. Also haben wir die Opposition, die die Regierung kontrolliert. Die amerikanische Verfassung ist der in gesellschaftliche Realität umgesetzte methodische Zweifel; in vielleicht weniger gelungener Form ist es jede demokratische Verfassung.

  • Eine immer wichtigere Rolle spielen bei diesem methodischen gesellschaftlichen Zweifel die Medien. Die freie Presse ist oft als die Vierte Gewalt bezeichnet worden. In der Tat - wenn Politiker zu lügen und tricksen versuchen, wenn Unternehmer oder Gewerkschaften die Wirklichkeit im Licht ihrer Interessen darstellen, dann sind die freie Presse, sind zunehmend auch die freien elektronischen Medien unser Sachwalter dabei, das aufzudecken. Und allein ihre Existenz als methodisch Zweifelnde bewirkt, daß die Politik im demokratischen Rechtsstaat in einem Maß anständig und gesetzestreu funktioniert, wie das kein anderes politisches System jemals auch nur annähernd erreicht hat.

  • Und schließlich basiert diese gesamte institutionalisierte Kritik natürlich auf der freien Wirtschaft. Eine Konzentration wirtschaftlicher Macht, wie im Sozialismus, ermöglicht es ja, alle die anderen Mechanismen des institutionalisierten Zweifels auszuhebeln. Alle Formen des real existierenden Sozialismus haben das gezeigt. Die Grundbefindlichkeit "unserer Menschen" im Sozialismus ist das Mißtrauen; die Überzeugung, ständig belogen zu werden.



  • In einem modernen, vom wissenschaftlichen Fortschritt geprägten Staat hingegen, in dem diese gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, juristischen, medialen Mechanismen des institutionalisierten Zweifels funktionieren, sollten wir unserem Wissen trauen können. Also dem, was uns die Wissenschaft sagt, was uns die Medien sagen, was uns die gesellschaftlichen Institutionen sagen, so vertrauen können, wie Descartes dem traute, was er nach strenger Prüfung als wahr erkannt hatte. Sie prüfen das ja für uns; sie können gar nicht anders, weil sie in ihrer Funktionsweise den Zweifel und die Kontrolle eingebaut haben.

    Haben wir dieses Vertrauen? Die meisten von uns haben, scheint mir, nicht den Eindruck, daß der Wissenschaft nicht zu trauen sei, daß die Presse systematisch die Unwahrheit schriebe, daß unsere Politiker und Staatsmänner in ihrem Handeln durch ganz andere Motive bestimmt seien, als sie öffentlich sagen.

    Aber nicht alle pflichten dem bei. Und viele, die grundsätzlich beipflichten, haben dennoch manchmal ihre Zweifel an diesen Einrichtungen des institutionalisierten Zweifels.

    Woher kommt das, daß es am Ende bei diesen Menschen, in diesen Fällen, mit dem Delegieren des cartesianischen Zweifels doch nichts geworden ist? Daß sie diese den Zweifel verkörpernden Institutionen als "Show" wahrnehmen, als "demokratische Fassade", als "Freiheitsmäntelchen"? Wohinter sich - wenn wir hinter die Kulissen gucken, hinter die Fassade treten, das Mäntelchen wegziehen - vollkommen Anderes enthüllt: Die Interessen des Kapitals. Die Entscheidungen überstaatlicher Mächte. Die Drahtzieherei derjenigen, die wirklich das Sagen haben. Verschwörungen.

    Kurzum, es gilt - so sehen sie es -, zu entlarven, zu demaskieren. Wo kommt diese Haltung her? Die Antwort ist trivial: Sie stammt wesentlich von den drei großen Entlarvern im neunzehnten Jahrhundert: Nietzsche, Freud und natürlich vor allem Karl Marx.

    Um diese eigenartige Weltsicht des Schauens hinter die Kulissen, des Aufdeckens und Entlarvens à la Sherlock Holmes, deren Ausdruck die Verschwörungstheorien sind, wird es im nächsten Teil gehen.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    30. August 2006

    Randbemerkung: Der größte Tisch der Welt

    Das Internet hat die Zugänglichkeit von Wissen in einem Maß erweitert, das noch vor einigen Jahrzehnten unvorstellbar war. Jeder Nutzer hat Zugang zu einer riesigen Menge an Informationen, die zuvor größtenteils Spezialisten vorbehalten gewesen waren. Jeder kann sich heute in Minuten das auf den Rechner holen, was allenfalls durch aufwendige Recherchen in Bibliotheken und Archiven hatte zutage gefördert werden konnen.

    Dieses Wissen muß freilich, damit es dem Nutzer nutzt, aufbereitet, es muß erschlossen werden. Der große Erfolg von Google und seinen Nachahmern, auch der Erfolg der Wikipedia, beruht darauf, daß sie das besser leisten als die unbeholfenen Suchmaschinen, mit denen wir in den ersten Jahren des WWW hatten vorlieb nehmen müssen.

    Je mehr das im Web zugängliche Wissen wächst, umso mehr freut man sich über neue, pfiffige Arten, es verfügbar zu machen. Je größer das Wegenetz, umso wichtiger wird es, gute Karten zu haben und Routenplaner. Zum Beispiel spezialisierte Suchwerkzeuge für aktuelle Nachrichten.



    An so etwas dachte ich, als ich in der Internet-Ausgabe der SZ diese Überschrift las: Internetaktion zum Weltwissen - Ich frag' ja nur - Das Internet-Forum "Dropping Knowledge" verspricht Aktivität statt Apathie und 11.200 weltbewegende Antworten.

    Wow! Und der Artikel begann in der Tat vielversprechend:
    Es gibt keine dummen Fragen. Auch das Internet lässt seine Nutzer in diesem Glauben: Was immer sie anfragen, sie werden mit Suchergebnissen überschüttet. Nur bedeutet Quantität eben nicht Qualität und nicht jede Frage - ob gut oder schlecht - erhält die Antwort, die sie verdient. Es sei daher an der Zeit, den wirklich wichtigen Fragen eine neue Plattform zu geben, befand der Werbeunternehmer Ralf Schmerberg und gründete vor drei Jahren den Verein "Dropping Knowledge".
    Wunderbar, dachte ich, und machte mich auf zu der in dem Artikel angegebenen WebSite. Die URL enthielt einen Druckfehler (www.droppingkonwledge.org), aber der war schnell gefunden und behoben. Also - auf zu der Homepage von "Dropping Knowledge", die mir Qualität statt Quantität bei der Beantwortung meiner Fragen liefern würde.

    Ich traf auf eine grafisch aufwendige Startseite, die mich allerdings zunächst nur auf ein Ereignis aufmerksam machte, nämlich daß am neunten September "112 of the world's great minds" sich um "the world's largest table" versammeln würden, um Fragen zu beantworten.

    Ich hätte gern meine Frage gestellt - "Ist Pluto ein Planet?" - , aber egal, worauf ich auf der Startseite klickte, es begann der Download einer jedenfalls sehr großen Datei. Vielleicht des "Films", der auf der Startseite genannt wird. Nach einigen Versuchen habe ich das, als Landbewohner nicht DSL-begünstigt, abgebrochen. Ich wollte ja keinen Film sehen, sondern hätte gern meine Frage an 112 der größten Geister der Welt gestellt, oder wenigstens an einen von ihnen.

    Damit wird es nun nichts. Jetzt tröste ich mich damit, aus der SZ zu wissen, wer zu "the world's great minds" gehört: Avi Primor, Hafsat Abiola, Wim Wenders, Roland Berger, Eliot Weinberger, Jonathan Meese und Hans Peter Dürr. Das sind alle, die in der SZ genannt werden.

    Jeder von ihnen - und 105 weitere der großen Geister der Welt - beantwortet hundert Fragen, am neunten September 2006, in Berlin, auf dem Bebelplatz, am größten Tisch der Welt. Elftausendzweihundert Antworten an einem Tag, an einem Ort.

    Eben Qualität statt Quantität.

    28. August 2006

    Randbemerkung: Die Moral eines Mörders

    Knut Folkerts ist ein vierfacher Mörder. Am 7. April ermordete er in Karlsruhe gemeinsam mit drei Komplicen Siegfried Buback, Wolfgang Göbel und Georg Wurster. Am 22. September 1977 ermordete er in Utrecht Arie Kranenburg. Die ersten drei Morde waren kaltblütig geplant gewesen. Seinen vierten Mord beging Folkerts, als Polizisten ihn zu fassen versuchten.

    Für die drei Morde in Karlsruhe und andere schwere Straftaten wurde Folkerts zu zweimal lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt, aber nach 18 Jahren entlassen. Für den vierten Mord wurde er in den Niederlanden zu 20 Jahren verurteilt. Die Niederlande haben jetzt ein Strafvollstreckungsbegehren gestellt, um zu erreichen, daß auch diese Strafe vollstreckt wird. Das Verfahren darüber ist beim Landgericht Hamburg anhängig.

    Soweit die Fakten. Es geht mir bei den folgenden Überlegungen nicht darum, ob es richtig ist, jemanden, der zu zweimal Lebenslänglich verurteilt ist, bereits nach 18 Jahren zu entlassen; ebensowenig darum, ob er seine in den Niederlanden ausgesprochene Strafe verbüßen oder ob man ihm diese erlassen sollte. Das mögen die Juristen und die Rechtsphilosophen entscheiden.

    Was mich interessiert, das ist die Haltung des Mörders zu seinen Taten.



    Knut Folkerts ist kein gewöhnlicher Mörder. Daß jemand innerhalb eines Jahres vier Menschen ermordet, kommt ja nicht sehr häufig vor.

    Er ist auch kein gewöhnlicher Mörder, was seine Motivation angeht. Diese war, so sagt er es jedenfalls, politisch. Ob das verwerflicher oder minder verwerflich ist als eine Tat aus persönlichen Motiven, darüber kann man streiten. Zudem ist unklar, wieweit bei Folkerts und seinen Komplicen das, was sie als "politisch" sahen, zumindest überlagert war vom Haß auf ihre Opfer; ähnlich wie bei vielen NS-Tätern. Wer - wie die Mörder Schleyers - schreibt, man habe des Opfers "klägliche und korrupte Existenz beendet", der läßt eine Mißachtung von dessen Menschenwürde erkennen, die große Nähe zur "Untermenschen"-Ideologie der KZ-Mörder aufweist.



    Nun steht also die Entscheidung des Hamburger Landgerichts darüber an, ob Folkerts die in den Niederlanden verhängte Strafe verbüßen muß. Und in dieser Situation hat Folkerts dem Journalisten Michael Sontheimer vom Berliner Büro des "Spiegel" ein Interview gegeben.

    In dem Interview geht es zunächst um dieses niederländische Ersuchen. Folkerts sagt dazu, was vermutlich viele in seiner Lage sagen würden: Daß dies "politisch motiviert" sei, weil in den Niederlanden der "Rechtspopulismus stark" sei. Daß er "ausreichend gebüßt" habe. Daß er den "Todesschuß" (das Wort "Mord" kommt weder dem Interviewer noch Folkerts über die Lippen) "bedaure". Und er schließt diesen Teil des Interviews mit dem Lamento ab, das die Verlautbarungen der RAF in den siebziger Jahren monoton begleitet hat: Er sei nach seiner Festnahme in Holland von Polizisten(!) "geschlagen, mißhandelt und gedemütigt" worden - und habe deswegen(!) damals nicht sein Bedauern gegenüber den Angehörigen(!) ausgedrückt.

    Er bedauert, sagt Folkerts. Er sagt nicht, daß er bereut. Er spricht nicht von seiner Schuld.



    Im zweiten Teil des Interviews geht es um die RAF allgemein und Folkerts' Rolle. Sontheimer fragt ihn, ob er auch seinen Einstieg in die RAF bedaure. Darauf antwortet Folkerts keineswegs mit "ja". Sondern er schildert langatmig den "langen Weg" zu seiner "Radikalisierung"; daß die RAF "etwas in Richtung Befreiung und soziale Gerechtigkeit" habe bewirken wollen. Er liefert Erklärungsversuche, Rechtfertigungsversuche. Und nochmals ein ausgiebiges Lamento über seine Haftbedingungen. Über das Schicksal seiner drei deutschen Opfer verliert er kein Wort. Kein Bedauern, noch weniger Reue.

    Und ein kritisches Fazit nur insofern, als Folkerts einräumt, die "Theorie und Praxis der RAF" habe sich "als falsch erwiesen", er habe sich für die "Beendigung des bewaffneten Kampfs der RAF" ausgesprochen und er treffe sich mit anderen aus der RAF, um "kritisch unsere Vergangenheit aufzuarbeiten".



    Man lag politisch falsch, das räumt Folkerts ein. Daß er seine Verbrechen bereut, davon findet sich in dem Interview kein Wort. Von den Morden an Buback, Göbel und Wurster ist in dem Interview überhaupt nicht die Rede (was freilich auch dem Interviewer Sontheimer anzulasten ist, der danach gar nicht fragt).

    Also ein uneinsichtiger - früher hätte man gesagt "ein verstockter" - Mörder. Einer, der nicht von Schuld und Reue spricht, sondern von "falsch". Offenbar, so könnte man folgern, einer jener Verbrecher, denen alle moralischen Maßstäbe fehlen. Der zynische, kalte Kriminelle. Auch bei den Nazi-Mördern gab es diesen Typus.

    Spricht er also gar nicht über Moral, dieser Knut Folkerts? Oh doch. Er sagt dazu zwei Sätze:

  • "Was wir als herrschende Moral vorgefunden haben, ließ Ungeheuerliches zu ..." und

  • "... der RAF ist es nicht gelungen, glaubhaft eine andere Moral zu entwickeln und zu praktizieren".

  • Ungeheuerlich, so glaubt der Mörder Folkerts offenbar immer noch, waren nicht seine Taten und die seiner Komplicen - sondern es war die "herrschende Moral".

    Er meint, es sei nicht gelungen, eine andere Moral zu praktizieren. Da allerdings irrt er. Die Moral, die die RAF praktiziert hat, war ja anders, und zwar sehr glaubhaft anders. Sie wurde mit Blut glaubhaft gemacht - glaubhafter kann jemand seine Moral kaum machen.

    Es war die Moral von Menschen, die in ihrer Arroganz und Verstiegenheit glaubten, sich über die Gesetze des Staats, die Regeln der Mitmenschlichkeit hinwegsetzen und für ihre verschrobenen Ziele Menschen verstümmeln und ermorden zu dürfen.



    Mich würde es interessieren, ob es ehemalige Angehörige der RAF gibt, die ihre Schuld akzeptieren; die eingesehen haben, daß kein Bürger das Recht haben kann, anderen Bürgern seine politischen Vorstellungen mit dem Mittel des Mords aufzuzwingen.

    26. August 2006

    Verschwörungstheorien (1): Unsichere Weltkenntnis

    Es war zu erwarten gewesen: Auch die aktuellen Anschläge sind alsbald mit üblen Verschwörungen in Zusammenhang gebracht worden. Spiegel-Online zitiert einen Araber, der glaubt, daß die Täter "vom deutschen Geheimdienst bezahlt" gewesen seien. Ein anderer in dem Artikel erwähnter Moslem nimmt die Aufdeckung der geplanten Flugzeuganschläge in Großbritannien als "Propaganda" wahr, bei der es darum gegangen sei, "vom Libanon-Krieg abzulenken".

    Es gibt kaum ein die Öffentlichkeit beschäftigendes Ereignis, das nicht Verschwörungstheoretiker auf den Plan gerufen hätte. Die Wikipedia liefert mit ihrer Liste der Verschwörungstheorien einen im Wortsinn erschöpfenden Überblick - von modernen Verschwörungstheorien wie dem vorgeblichen Moon Hoax und den Theorien zu 9/11 bis hin zu Klassikern wie den Verschwörungen der Illuminaten und selbstredend von Juden. Und zahllosen sozusagen ad-hoc-Verschwörungstheorien - die Giftgase betreffend, die aus einem See in Kamerun strömten, oder eben ein aktuelles Ereignis wie die versuchten Kofferbomben-Anschläge.

    Ich will in dieser kleinen Serie über Verschwörungstheorien nicht diskutieren, ob die eine oder andere dieser Behauptungen stimmt oder falsch ist. Ich halte keine von ihnen, soweit ich sie kenne, für auch nur im Ansatz bewiesen oder auch nur irgendwie plausibel. Aber das zu begründen würde ins Uferlose führen und wäre auch wenig ergiebig, denn Verschwörungstheorien lassen sich ihrem Wesen nach nicht widerlegen.

    Beschäftigen will ich mich stattdessen mit der Frage, was eigentlich vielen Verschwörungstheorien zu ihrer weiten Verbreitung verhilft. Im jetzigen ersten Teil geht es um die allgemeinste Voraussetzung für Verschwörungstheorien: Die Unsicherheit unserer Kenntnis der Welt.



    Nur sehr wenig von dem, was wir über die Welt wissen, enstammt unserer eigenen, unmittelbaren Erfahrung. Das unterscheidet uns Menschen radikal von allen Tieren, deren Weltkenntnis ganz überwiegend aus ihrer eigenen Sinneserfahrung kommt, sofern es nicht in ihren Genen verankert ist. Nur gelegentlich kommt so etwas wie indirektes Wissen hinzu - wie beispielsweise dann, wenn eine Biene durch ihren Schwänzeltanz den anderen Bienen den Ort eines Futterfunds kundtut oder wenn Murmeltiere auf den Warnpfiff eines Wächters hin im Bau verschwinden.

    Das sind Beispiele dafür, daß soziale Kommunikation bei Tieren gelegentlich sozusagen den Augenschein ergänzt, oder - meist - ihn lediglich vorwegnimmt, ihn akündigt. Wir Menschen aber entnehmen fast alles, was wir wissen, nicht dem Augenschein. Wir haben es aus zweiter, dritter, vierter Hand. Wir haben es erzählt bekommen, gelesen, im TV gesehen. Aus Quellen, die ihrerseits auf andere Quellen vertrauen, die ihrerseits ... usw.



    Was wir aus eigener Erfahrung wissen, das beschränkt sich weitgehend auf das, was "episodisches Wissen" genannt wird - das, was wir im Lauf unseres Lebens erlebt und zu einem Bild unserer sozialen, unserer räumlichen Umgebung zusammengesetzt haben.

    Dieser unmittelbare Erfahrungsraum erweitert sich im Lauf unserer persönlichen Biographie, und er hat im Gefolge der zivilisatorischen Entwicklung gewaltig an Umfang zugenommen; jedenfalls für große Teile der Menschheit. Noch für Kant war dieser gesamte unmittelbare Erfahrungsraum auf die Stadt Königsberg beschränkt und auf diejenigen Personen, die dort wohnten oder die dorthin pilgerten, um ihn aufzusuchen. Zum Erfahrungsraum vieler Deutscher gehören heutzutage dagegen nicht nur viele Länder Europas, sondern gar die Karibik und Thailand.

    Und doch hatte Kant eine Kenntnis der Welt in einem Umfang, wie dies die heutigen Deutschen nicht haben. Er hatte sie aus Büchern, aus Gesprächen mit Besuchern. Er hatte sie aus zweiter, dritter Hand. Und doch vertraute er ihr.

    Sein Bild der Welt enthielt vorwiegend Sachverhalte, von deren Richtigkeit er sich nicht hatte persönlich überzeugen können. An deren Wahrheit er also hätte zweifeln können, und an deren Wahrheit zu zweifeln er als Aufklärer und Skeptiker in der Tradition Humes ja auch bereit gewesen war.

    Aber er hatte eben auch gute Gründe, an sehr Vielem nicht zu zweifeln, das er nicht persönlich nachprüfen konnte. An den Ergebnissen der Astronomie beispielsweise, die ihn als jungen Magister sehr interessierten und die er seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" zugrundegelegt hat. Auch seine Hauptwerke, so gründlich und kritisch sie auch den Voraussetzungend des Erkennens, des moralischen Handelns und des Urteilens nachspürten, basierten natürlich auf dem, was in mehr als zweitausend Jahren zuvor gedacht und entdeckt worden war.



    Vieles, was Menschen über die Welt wußten oder zu wissen vermeinten, hatte vom Beginn der Kultur an diesen Charakter indirekten, vermittelten Wissens. Wissen über Ursprung und Ziel der Geschichte, über Götter und Geister, über Sonne, Mond und Sterne, über die Kraft von Kräutern und den Fluch verrufener Orte.

    Wie kamen Menschen dazu, diesem überlieferten Wissen zu trauen? Sie trauten offensichtlich, weil sie vertrauten. Der cartesianische Zweifel lag ihnen so fern wie nur irgend etwas. Sie hatten das Vertrauen, daß ihre Alten und ihre Schamanen, ihre Weisen und ihre Priester ihnen die Wahrheit sagten.

    So, wie die meisten uns darauf vertrauen, daß Wissenschaftler und Journalisten die Wahrheit schreiben, daß Regierungen uns nicht belügen, - kurz, daß die Institutionen unserer Gesellschaft vertrauenswürdig sind.



    Die meisten von uns, aber eben nicht alle von uns. Die Zahl derjenigen Menschen scheint weltweit zuzunehmen, die an die Stelle des Vertrauens in die Institutionen ein sozusagen systematisches Mißtrauen setzen. Und das ist, so scheint mir, eine der Wurzeln von Verschwörungstheorien, vielleicht die stärkste.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    25. August 2006

    Plutos Degradierung

    Die Meldung schaffte es gestern sogar bis in die Tagesschau. Genaueres erfuhr man beispielsweise aus der FAZ. Genaueres darüber, was sich am 24. August zutrug: Dem Pluto wurde sein Status als Planet aberkannt. Und zwar von denjenigen, die dafür zuständig sind, der International Astronomical Union, die derzeit in Prag ihre Generalversammlung abhält. Ohne Möglichkeit einer Berufung.



    Wenn jemand degradiert wird, und sei es ein Planet, dann weckt das unser Interesse, erregt vielleicht gar ein wenig unser Mitleid. Was hat der arme, kleine Pluto getan, daß er seit gestern kein Planet mehr sein darf? Ist er geschrumpft, ist er aus der Bahn geraten, hat er sich sonstwie schlecht benommen?

    Nein, er hat sich nicht verändert oder danebenbenommen. Es ist auch nichts Nachteiliges über ihn erst jetzt bekanntgeworden, das seine Degradierung nach sich gezogen hätte. Sondern es ist etwas viel Fundamentaleres passiert, etwas, das verwunderlich klingen mag: Nach Jahrtausenden hat man am 24. August 2006 erstmals genau definiert, was eigentlich ein Planet ist. Und siehe, dabei stellte sich heraus, daß - alas, poor Pluto - dieser kein Planet ist. Jedenfalls, nachdem man sich, in diesen Tagen in Prag, ein wenig gestritten und dann eine Einigung über die Definition erzielt hatte.



    Planeten sind, man weiß das, Wandersterne. Planetes, das ist griechisch ein Wanderer; von planasthai, wandern. Meist nennen wir sie Wandelsterne; aber nicht, weil sie sich wandeln würden, sondern weil "wandeln" eine alte Form von "wandern" ist - nimm dein Bett und wandle, wir erinnern uns an das Neue Testament.

    Daß sie wandern, anders als die Myriaden Fixsterne, hat ihnen das besondere Interesse der alten Astronomen eingetragen. Sie wandern, so dachte man es sich, weil sie sich um die Erde drehen. Und da auch Sonne und Mond - so sah man es an, weil man es so sah - sich um die Erde drehen, so waren waren auch Mond und Sonne Planeten.

    Sehen konnte man, mit "unbewaffnetem" Auge, neben Sonne und Mond die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Damit hatte man die "sieben Planeten", die noch heute die Grundlage der Astrologie bilden.



    Die Astrologie blieb, wie sie war; die Astronomie freilich machte seit der Erfindung des Fernrohrs gigantische Fortschritte, dann wieder mit der Erfindung der Radioastronomie und seit ein paar Jahrzehnten ein drittes Mal, seit wir Sonden zu den Planeten schicken können und Hubble im Raum stationiert haben.

    Und so wandelte sich, was man über die Wandelsterne dachte.

    Zuerst setzte sich die Erkenntnis durch, daß die Erde selbst ein Planet ist, statt das Zentrum des planetaren Systems, und daß folglich Sonne und Mond (der einzige von allen, der weiter um die Erde kreisen durfte, und doch kein Planet mehr war) aus dem Kreis der Planeten ausschieden.

    Da waren's also nur noch fünf. Fünf der klassischen Planeten. Plus die Erde, die nun hinzugekommen war.

    Also sechs Planeten. Aber nur vorübergehend, zwischen der Renaissance und der Aufklärung so ungefähr. Denn wie zerronnen, so gewonnen: 1781 entdeckte Herschel den Uranus, den er anfangs für einen Kometen hielt. Und Uranus führte (durch Bahnunregelmäßigkeiten) 1846 auf die Spur von Neptun, bei dem wiederum Bahnabweichungen die Vermutung hervorbrachten, es müsse noch einen weiteren Planeten ganz weit außen geben - der dann auch gefunden und nach dem Höllenhund Pluto benannt wurde.



    Ein Planet noch jenseits des Neptun - jedenfalls meistens. Denn zu seinen Seltsamkeiten gehört es, daß er manchmal die Bahn des Neptun kreuzt, der Sonne also näherkommt als dieser.

    Und auch sonst ist er ein seltsamer Himmelskörper, der Pluto, der noch nie von einer Raumsonde besucht wurde. (Seit Anfang dieses Jahres ist eine unterwegs; sie soll ihn 2015 erreichen). Er ist winzig; kleiner als unser Mond, mit nur einem Fünftel von dessen Masse. Aber begleitet von einem eigenen Mond, passenderweise Charon genannt (wir sind in der Unterwelt!), der im Durchmesser mehr als halb so groß ist wie der Pluto selbst. Also haben wir es eigentlich mehr mit einem System aus zwei Körpern zu tun, die um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisen.

    Ja, und warum ist er nun kein Planet mehr, der Pluto? Nicht wegen dieser seiner eigenen Besonderheiten. Sondern weil immer deutlicher wurde, daß er nur einer unter vielen ist, wenn auch ein primus inter pares. Schon sein Charon hätte Anspruch auf den Planetenstatus. Und dann wurde vor knapp drei Jahren jener 2003 UB313 entdeckt, vorläufig auch Xena genannt (die Fremde). Größer als Pluto! Rund wie er! Also, wenn Pluto ein Planet ist, dann auch Xena.

    Nun gut, warum nicht, dann ist halt eben ein weiterer Planet gefunden? Ja schon. Aber alles spricht dafür, daß er nur einer von Vielen ist, die man nach und nach entdecken wird. In einem Gürtel von Weltraumkörpern am Rand unsers Sonnensystems, dem Kuiper-Gürtel.



    Wo also hätte das hinführen sollen? Planeten über Planeten hätten gerechterweise im Lauf der kommenden Jahrzehnte anerkannt werden müssen. Nicht zuletzt auch noch im Nachheinein Ceres, schon 1801 entdeckt, auch nicht so sehr viel kleiner als Pluto, dem der Planetenstatus immer verweigert worden war. Auch ihm hätte man späte Gerechtigkeit nicht verweigern können.

    Also, eine klare Definition mußte her. Und die haben wir seit dem 24. August 2006. Ein Planet ist ein Himmelskörper, der
  • um die Sonne kreist,
  • soviel Masse hat, daß er aufgrund der Eigengravitation (siehe hier) eine annähernd runde Form hat (genauer: ein hydrostatisches Gleichgewicht erreicht),
  • und der - da zitiere ich die englische Formulierung "has cleared the neighbourhood around its orbit".
  • Mit diesem dritten Kriterium ist gemeint, daß die Massenanziehung des betreffenden Himmelskörpers ausreicht, um alle kleineren Körper (also vor allem Asteroiden) in seiner Umgebung, die auf ähnlichen Bahnen laufen, auf sich stürzen zu lassen, im Lauf der Jahrmilliarden. Nicht primus inter pares, sondern Monarch. Oder, sagen wir, ein absoluter Duodezfürst.

    Und an diesem dritten Kriterium ist er gescheitert, der Pluto.

    Aber wirklich schlimm ist das eigentlich doch wieder nicht. Denn so, wie im Fußball die Zweite Liga strenggenommen doch immer noch eine Bundesliga ist, so ist Pluto in eine Zweite Planetenliga abgestiegen: Die der dwarf planets, der Zwergplaneten.

    Diese Bezeichnung allerdings ist erst ein mal vorläufig. "Plutoiden" hatte man auch erwogen; das wäre für den Pluto natürlich schöner gewesen.

    24. August 2006

    Randbemerkung: Die NPD und der Islamismus

    Anläßlich der versuchten Kofferbomben-Attentate ist eine islamistische Organisation namens Hisb ut-Tahir in die Schlagzeilen geraten. Die Familie eines der mutmaßlichen Täter soll im Libanon Verbindung zu dieser Organisation haben. Daß die Attentäter selbst mit der Hisb ut-Tahir Kontakt haben, ist zwar bisher nicht bestätigt worden. Aber man interessiert sich nun jedenfalls für die Hisb ut-Tahir.

    Dabei ist etwas Interessantes ausgegraben worden: Die NPD scheint der Hisb ut-Tahir durchaus nicht so unfreundlich gesonnen zu sein, wie man das angesichts der Fremdenfeindlichkeit der Rechtsextremen vermuten könnte.

    Die "Tagesschau" der ARD hat dazu recherchiert, und Spiegel-Online hat es berichtet: Der NPD-Chef Voigt habe 2002 an einer Veranstaltung der Hisb ut-Tahir teilgenommen, und die Jugendorganisation der NPD "Junge Nationaldemokraten" habe Anfang 2003 in Duisburg eine Veranstaltung durchgeführt, auf der ein gewisser Shaker Assem als Redner aufgetreten sei.



    Wer ist dieser Shaker Assem? "Shaker Assem, 38 Jahre, verheiratet, ein Sohn, derzeit wohnhaft in Duisburg. Geboren in Kairo; Vater Ägypter, Mutter Österreicherin. (...) Bis zum jüngst ausgesprochenen Verbot Repräsentatives Mitglied von "Hizb ut-Tahrir", einer islamistischen Partei, die weltweit, vor allem in Zentralasien, über bis zu 80.000, in Deutschland aber nur ca. 200 Mitglieder verfügen soll."

    Diese Angaben entnehme ich - nein, nicht einer islamistischen Quelle, sondern der "Deutschen Stimme", herausgegeben vom NPD-Parteivorstand, Chefredakteur Holger Apfel, Stellvertretender Bundsvorsitzender der NPD. Sie stehen im Begleittext zu einem langen Interview, das Apfel mit Shaker Assem Anfang 2003 geführt hat. Überschrift des Interviews: "Palästina von den Zionisten befreien". Und dieses Interview ist nun wirklich lesenswert. Es ist lesenswert wegen der Punkte, in denen sich die beiden augenscheinlich einig waren.

    Der eine liegt auf der Hand: Es ist ihre gemeinsame Haltung gegenüber den "US-Machthaber(n)" und dem "israelischen Staatsterrorismus" (beides Formulierungen von Holger Apfel). Interessanter ist aber die folgende Passage aus dem Interview, die sich mit der moslemischen Einwanderung nach Deutschland befaßt:
    Deutsche Stimme: (...) Nun streben alle Parteien im Bundestag mit ihrer Integrationspolitik quasi die Zwangsgermanisierung der Zuwanderer an. Wie stehen Sie zu dieser Politik, die dazu führt, daß sowohl Deutsche als auch Ausländer ihre nationale Identität verlieren, indem sie ihrer Heimat, Kultur und Tradition systematisch entfremdet werden ? und wie stehen Sie zu der bekanntlich von der NPD propagierten Forderung »Ausländerrückführung statt Integration«?

    Assem: (...) Ich kenne sehr viele Muslime in diesem Land und nur sehr wenige von ihnen fühlen sich wirklich wohl hier. Sobald sich die wirtschaftliche Situation in ihren Heimatländern durch die Gründung des islamischen Staates gebessert hat, werden die meisten von ihnen meiner Meinung nach wieder zurückkehren. (...) Anstatt in Deutschland wegen ihres Kopftuches angepöbelt und vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen zu werden, haben sie in ihren Ursprungsländern dann die Möglichkeit, ihren Glauben in allen Bereichen auszuleben. (...)



    Da haben wir's: Der extremistische Islamist Assem und der extremistische deutsche Nationalist Apfel sind sich nicht nur in ihrer Gegnerschaft zu den USA und zu Israel einig, sondern auch, was die moslemische Einwanderung nach Deutschland angeht.

    Sie sind sich einig in ihrem Kampf dagegen, daß die islamischen Zuwanderer sich integrieren. Die NPD, weil sie diese ja "zurückführen" will. Assem begrüßt es ebenfalls, daß moslemische Einwanderer wieder in moslemische Länder zurückkehren.



    Eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen rechten und islamistischen Extremisten.

    Den Begriff "Zwangsgermanisierung" wiederum benutzt NPD-Apfel gemeinsam mit der extremen Linken; siehe beispielsweise diesen Aufsatz von Ulla Jelpke in der "Jungen Welt".

    "Les extrèmes se touchent", sagt man in Frankreich - die Extreme berühren sich. Nicht nur, wenn es um die Stellung zur Politik Israels geht.

    22. August 2006

    Staatsmacht

    Angenommen, deutsche Demoskopen würden in einer Erhebung fragen: "Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?", und sie würden diese Frage in zwei Kontexten stellen:

    Version A: "Es gab kürzlich einen Störfall in einem schwedischen KKW. Das könnte auch bei uns passieren. Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?"

    Version B: "Kürzlich wurden Terroranschläge auf deutsche Eisenbahnzüge versucht. Weitere derartige Anschläge könnten geplant sein. Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?"

    Es ist zu erwarten, daß die Antworten auf diese beiden Versionen der Frage unterschiedlich ausfallen würden. Das ist nicht verwunderlich, denn der Kontext hat, wie die Sozialforschung weiß, einen starken Einfluß auf das Antwortverhalten.

    Interessanter ist die Frage, was eine Aufschlüsselung der Befragten nach politischer Einstellung ergeben würde. Die Vorhersage ist nicht sehr gewagt, daß Befragte, die den Grünen, der PDS oder dem linken Flügel der SPD nahestehen, auf die Frage in Version A häufiger mit "ja" antworten würden als Befragte, die der CDU oder der CSU zuneigen. Und bei Version B dürfte es genau umgekehrt sein.

    Es würde also - das jedenfalls ist meine Vermutung zu diesem kleinen Gedankenexperiment, die ich den folgenden Überlegungen hypothetisch zugrundelegen möchte - das geben, was die Statistik eine Kreuz-Interaktion nennen: In der einen Bedingung (Version A) liegt Gruppe X höher als Gruppe Y. In der anderen Bedingung (Version B) kehrt sich das um.



    Ein solches unterschiedliches Antwortverhalten wäre unter mindestens zwei Aspekten interessant:
  • Dem der Sicherheit: Für wie gefährlich man Atomkraftwerke hält und als wie gefährlich man andererseits die Bedrohung durch den Terrorismus wahrnimmt, das ist unter anderem abhängig von der politischen Einstellung. Diesem Aspekt, der zu den Eigenarten der Gefahrenwahrnehmung gehört, will ich jetzt nicht nachgehen.

  • Zweitens drückt sich in einer solchen Kreuz-Interaktion aber auch ein unterschiedliches Vertrauen in den Staat aus, was die beiden Arten der Gefährdung angeht. Und verweist damit auf einen eigenartigen Sachverhalt: Das Vertrauen von Linken einerseits und von Konservativen andererseits in den Staat verhält sich sehr unterschiedlich, je nachdem, welcher Bereich staatlicher Tätigkeit berührt ist.
  • Es verhält sich auf eine sehr seltsame, manchmal nachgerade absurde Weise unterschiedlich.



    "LESS BREAD! MORE TAXES!" sind die Parolen eines Volksauflaufs, mit dessen Schilderung Lewis Carroll seine wunderbare Satire "Sylvie and Bruno" beginnen läßt. Mit dem Verquersten also, das man sich denken kann: Daß das Volk weniger Brot fordert, und mehr Steuern. Denn der Ruf nach weniger Steuern gehört ja, ebenso wie der nach mehr Brot, zu zu dem, was das Volk zu allen Zeiten forderte, wenn es sich erhob. Ein Volk, das mehr Steuern fordert - das war, als Lewis Carroll dieses Buch schrieb, so ungefähr das Absurdeste, was er beschreiben konnte.

    Und heute? Heute ist es keine linke Partei, die sich als "Steuersenkungspartei" zu profilieren trachtet, sondern die FDP. Hingegen hat die große linke Volkspartei gerade den Beschluß zu einer Erhöhung derjeniger Steuer durchgesetzt, die das Volk am unmittelbarsten trifft, der Mehrwertsteuer. Und auch ihre noch linkere Konkurrenzpartei tritt für Steuererhöhungen ein, wenn diese auch freilich die "Reichen" treffen sollen. Daß sie Steuersenkungen fordert, ist mir auch von ihr nicht bekannt.



    Daß linke Parteien heute ein ganz anderes Verhältnis zu Steuern haben als die Revolutionäre vergangener Jahrhunderte, liegt natürlich daran, daß sie ein ganz anderes Verhältnis zum Staat haben. Statt auf sein "Absterben" hinzuarbeiten, haben linke Parteien überall dort, wo sie die Möglichkeit dazu hatten, die Macht des Staats zu erweitern getrachtet.

    Und zwar keineswegs nur die linkstotalitären Parteien. Auch die französischen Sozialisten beispielsweise haben, als sie 1981 an die Macht kamen, alsbald mit einem großen Programm zur Verstaatlichung begonnen. Das betreffende Gesetz, das am 13. Februar 1982 in Kraft trat, erweiterte die wirtschaftliche Macht des französischen Staats drastisch. Zahlreiche Banken und große Konzerne wie Thomson und Rhône-Poulenc wurden enteignet. Bereits 1983 wurde jeder vierte französiche Beschäftigte vom Staat bezahlt.

    In kaum einem demokratischen Land durchdringt der Staat so sehr alle Lebensbereiche wie im sozialdemokratischen Musterland Schweden. Und in einem denkwürdigen Interview hat der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering Ende 2002 die etatistische Haltung der deutschen Sozialdemokratie auf die vielzitierte Formel gebracht "Weniger für den privaten Konsum - und dem Staat Geld geben".



    Was unterscheidet diesen linken Etatismus von dem vieler Konservativer? Man könnte es in einem Bild zusammenfassen: Die Konservativen vertrauen dem Vater Staat, die Linken wollen eine Mutter Staat. Viele Konservative wollen den starken Staat, wie er von der Polizei und den Gerichten symbolisiert wird. Viele Linke wollen den starken Staat, wie er vielleicht am besten durch eine der seltsamsten Kreationen der rotgrünen Regierung repräsentiert wird: Ein veritables Bundesinstitut für Risikobewertung.

    Freilich: Wie in der modernen Familie sind die Rollen von Mutter und Vater nicht mehr klar getrennt. Dieselben Linken, die sich noch vor zwei Jahrzehnten vehement gegen eine Volkszählung gewandt hatten, haben, an die Macht gekommen, 2003 ein "Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit" verabschiedet, das das Bankgeheimnis in weitem Umfang aushebelt. Der mütterliche, seine Bürger schützende, ihnen helfende Staat entwickelt sich auch im Verständnis der Linken immer mehr zu einem Staat, der sie gängelt und ihnen die Ohren langzieht, ganz à la strenger Hausvater.



    Wenn sich viele Linke und viele Konservative zunehmend einig werden, was die Hochschätzung des Staats angeht - liegt das dann vielleicht im Wesen der Sache selbst? Ist dieser zunehmende Etatismus vielleicht ein "Sachzwang", sich ergebend aus der Komplexität der modernen Gesellschaft?

    Überhaupt nicht. Gerade komplexe Systeme eignen sich nicht für eine hierarchische Organisation. Gerade sie verlangen das freie Spiel der Kräfte. Es ist just die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften, die den linken ebenso wie den rechten Etatismus so obsolet macht.

    Wir brauchen weder den Vater Staat noch die Mutter Staat. Wir brauchen überhaupt keine Staatsmacht. Was wir brauchen, das ist der Dienstleister Staat - den Anbieter solcher Dienste, die aus unterschiedlichen Gründen für die Konkurrenz des Marktes ungeeignet sind. Polizei, Justiz, Militär beispielsweise. Zentrale Planungsaufgaben, was die Infrastruktur angeht. Die Setzung und Durchsetzung der Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Wirtschaft, der Kultur, der Wissenschaften.

    Viel mehr eigentlich nicht.

    18. August 2006

    Randbemerkung: Eine Bundesrichterin urteilt

    Nachrichtenagenturen arbeiten international. Die meisten Auslandsmeldungen in den deutschen Medien sind infolgedessen aus dem Englischen übersetzt. Dabei kommt es oft zu Ungenauigkeiten. Aber auch wenn richtig übersetzt wird, kann eine Meldung in ihrer deutschen Version einen falschen Eindruck vermitteln, weil in ihr Begriffe vorkommen, mit denen der deutsche Durchschnittsleser nichts anfangen kann. Oder mit denen er und sie, mangels Hintergrundwissen, vielleicht etwas Irriges anfängt.

    Das dürfte bei heutigen Agenturmeldungen der Fall sein, die sich mit einem aktuellen US-amerikanischen Urteil befassen. In der Fassung von dpa, wie man sie zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau lesen kann, heißt es:
    (das) ... Abhörprogramm des Inlandsgeheimdienstes NSA ist von einem Gericht in Detroit für verfassungswidrig erklärt worden. Die zuständige Bundesrichterin forderte die Beendigung der Lauschangriffe, die die US-Regierung mit der Terror-Bekämpfung begründet hatte.
    Eine Bundesrichterin erklärt eine Handlung der Regierung für verfassungswidrig. Bundesrichter kennen wir in Deutschland in Gestalt der Richter in Karlsruhe. Diejenigen, die die Befugnis haben, etwas für verfassungswidrig zu erklären, sind die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. So ähnlich werden sich nicht wenige Leser das vorstellen, was jetzt in den USA entschieden worden ist.

    Und sich vielleicht nur leise darüber wundern, daß das in Detroit geschah. Nun ja, auch das Verfassungsgericht der Bundesrepublik ist ja in der Provinz beheimatet.



    Wäre es nicht schön, wenn die Agenturen in solch einem Fall ein paar erläuternde Zeilen der Meldung hinzufügen würden? Ein paar Informationen, die den Leser von diesen Sachverhalten unterrichten:

  • Die Bundesrichter (Federal Judges) in den USA haben nur den Namen mit den deutschen Bundesrichtern gemeinsam. Diesen Titel tragen alle Richter, die gemäß dem Artikel 3 der amerikanischen Verfassung die judicial Power of the United States ausüben.

    Dazu gehört der Supreme Court, aber auch, sagt die Verfassung, alle inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish; also alle untergeordneten Instanzen, wie sie der Kongreß einrichtet.

    Genaueres legt die Verfassung nicht fest, außer daß die Richter an allen diesen Gerichten shall hold their Offices during good Behavior (also auf Lebenszeit, sofern sie sich nichts zuschulden kommen lassen), und daß sie shall (...) receive for their Services a Compensation which shall not be diminished during their Continuance in Office. Kein Richter sollte, so die weisen Verfassungsväter, fürchten müssen, daß man ihm bei mißliebigen Urteilen, wenn er schon nicht entlassen werden konnte, etwa eine Gehaltskürzung androhen würde.

  • Zu den Obliegenheiten der Bundesgerichte (Federal Courts), an denen diese Bundesrichter amtieren, gehört überwiegend die Entscheidung ganz normaler Rechtsfälle, nämlich:
    * cases in which the United States is a party;
    * cases involving violations of the U.S. Constitution or federal laws (under federal-question jurisdiction);
    * cases between citizens of different states if the amount in controversy exceeds $75,000 (under diversity jurisdiction); and
    * bankruptcy, copyright, patent, and maritime law cases.
    Also - und das ist charakteristisch für das Rechtssystem der USA - : Zu den vielen Streitfällen, in denen die Federal Courts tätig werden, gehören auch Verletzungen der Verfassung. Jeder Bürger soll sich, und zwar bereits bei der untersten Instanz, auf die Verfassung berufen können, wenn er sich in seinen Rechten beschränkt sieht.

  • Im jetzigen Fall handelt es sich also um ein erstinstanzliches Urteil, gefällt von einer Einzelrichterin. Diese Richterin, Anna Diggs Taylor, ist eines der 20 Mitglieder des Bundes-Bezirksgerichts für den östlichen Teil des Bundesstaats Michigan. Eine von vielen Federal Judges, die überall in den USA tätig werden, wenn ein Rechtsstreit ansteht, der in die die Jurisdiktion des Bundes fällt.
  • Gewiß ist das jetzige Urteil ärgerlich für die Bush-Administration; aber es ist zumindest vorerst folgenlos. Der Justizminister hat bereits angekündigt, daß er Berufung einlegen wird. Eine Anhörung wird am 7. September stattfinden. Mindestens bis dahin ist der Vollzug des Urteils ausgesetzt.



    So detailliert hätten das die Agenturen ja nicht melden müssen. Aber es wäre doch hilfreich gewesen, wenn die oben zitierte Meldung, sagen wir, so fortgesetzt worden wäre:
    ... Die zuständige Bundesrichterin des Distrikts östliches Michigan forderte die Beendigung der Lauschangriffe, die die US-Regierung mit der Terror-Bekämpfung begründet hatte. Bundesgerichte (Federal Courts) sind in den USA für alle Streitfälle zuständig, die Bundesgesetze betreffen. Es handelt sich um ein erstinstanzliches, nicht rechtskräftiges Urteil, gegen das das US-Justizministerium Berufung angekündigt hat.

    17. August 2006

    Eine deutsche Diskussion

    Günter Grass ist ein deutscher Schriftsteller. Vielleicht kann man sagen, ein deutscher Dichter. Er ist ein deutscher Träger des Nobelpreises für Literatur, nach Theodor Mommsen, Rudolf Christian Eucken, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hermann Hesse (damals, 1946, Schweizer Staatsbürger), Nelly Sachs (damals, 1966, schwedische Staatsbürgerin) und Heinrich Böll.

    Eine illustre Liste. Daß sie die bedeutendsten Schriftsteller deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts umfaßt, wird man nicht sagen können. Kafka, Musil, Döblin, Benn, Brecht, Max Frisch, Paul Celan, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Adolf Muschg, W.G. Sebald und Martin Walser beispielsweise haben diesen Preis nicht bekommen.

    Wie auch immer - Grass ist durch den Nobelpreis als bedeutender Schriftsteller sozusagen zertifiziert.

    Dieser bedeutende deutsche Schriftsteller hat sich - so haben wir nun erfahren - im Alter von 15 Jahren freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet, die aber, so sagt er es im Interview mit der FAZ, damals niemanden mehr genommen habe. Doch war er dadurch, so kann man vermuten, auf die Liste potentieller Freiwilliger geraten; und als 17jähriger wurde er, so sagt er, zur Waffen-SS einberufen, in der er als Angehöriger der zehnten SS-Panzerdivision "Frundsberg" diente.



    Also? Zehn Prozent aller deutscher Soldaten gehörten, so war es gestern zu erfahren, bei Kriegsende der Waffen-SS an. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Grass sich als Soldat irgend etwas hat zuschuldenkommen lassen. Er hatte das Schicksal eines Deutschen seiner Generation, das ist alles.

    Nun hat aber dieses "Geständnis" (so die NZZ vom 14. August) einen Wirbel ausgelöst, der auf dem besten Weg ist, zum Hurrikan zu werden. Es wurde ja schon allen Ernstes gefordert, Grass nunmehr den Nobelpreis abzuerkennen, und die Ehrenbürgerschaft von Danzig. Das hat Walesa allerdings heute abend dementiert.



    Mich interessiert nicht im Geringsten, wie Grass' Verhalten zu bewerten ist - weder seine jugendliche Begeisterung, die ihn in die Waffen-SS gebracht hat; noch seine persönliche Entscheidung, über diesen Aspekt seiner Biographie lange zu schweigen und ihn jetzt mitzuteilen.

    Das war und ist seine Sache. Es geht mich nichts an; es geht niemanden außer ihm (und allenfalls seine engsten Freunde) etwas an.

    Ich kann das Verhalten von Grass weder besonders löblich noch besonders vorwerfbar finden. Ich habe ihn nie für einen auffällig moralischen Menschen gehalten und nie für einen ungewöhnlichen Heuchler. Was jetzt zutage getreten ist, entspricht meinem Bild von ihm: Einer, der mit dem Wort umgehen kann. Ansonsten ein Durchschnittsmensch, wie die meisten von uns. Ungewöhnlich allenfalls durch seine Doppelbegabung als schreibender und bildender Künstler.



    Die gegenwärtige Aufregung läßt mich also kalt. Genauer: Sie läßt mich kalt, was Grass und sein Handeln angeht. Sie interessiert mich aber schon, was die deutsche Gesellschaft und ihre Reaktion angeht.

    Was motiviert diese öffentliche Aufgeregtheit? Wie kommt es, daß eine Episode im Leben eines Mannes, der ja nicht wegen seiner Biographie, sondern wegen seiner litarischen Texte bekannt ist, zu einer so lebhaften, so affektgeladenen Diskussion führt?

    Was veranlaßt quer durch das Kulturleben Diese und Jene, uns mitzuteilen, was sie von Grass' Biographie halten, von seinem Umgang mit dieser Biographie?

    Und wie kommen eigentlich nahezu alle, die sich "zu Wort melden", dazu, sich eine klare Meinung pro oder contra zu bilden?

    Mit welchem Recht, auf welche Weise? Wie Mitglieder einer Jury, die zwischen "schuldig" und "nicht schuldig" zu entscheiden hat, so teilen sich die Literaturkritiker, die Historiker, die Literaten, die Journalisten usw., die ihre Meinung zu Papier oder zu Gehör bringen, in eine Fraktion, die Grass sein Schweigen ankreidet, und in eine Gegenfraktion, die dafür Verständnis äußert.

    Ist das nicht seltsam? Jedenfalls finde ich es erklärungsbedürftig.



    Erklärungsversuch eins: Die schärfsten Kritiker der Elche.

    Grass versteht sich als écrivain engagé. Wieweit das auf Eindrücke aus seiner Pariser Zeit zurückgeht, weiß ich nicht; vielleicht erfährt man etwas darüber in seiner Autobiographie. Jedenfalls gehört er zu denjenigen Schriftstellern, die sich nicht darauf beschränken wollen, gute Literatur zu produzieren, sondern die sich - warum auch immer - berufen, berechtigt und auch befähigt fühlten, ihre moralische Position und ihre politische Meinung öffentlich mitzuteilen.

    Nun erweist er sich selbst als moralisch anfechtbar. Und nun trifft ihn die Häme, die klammheimliche Freude von vielen, denen seine Moralisiererei immer auf die Nerven gegangen ist. Es ist eine ähnliche Reaktion wie die auf die Entlarvung Michel Friedmans, auch er ein unermüdlicher Moralist, als Liebhaber von Nutten und Rauschgift. (Es ist, denke ich, eine psychologisch ähnliche Reaktion; ansonsten liegen die beiden "Fälle" natürlich ganz verschieden).



    Erklärungsversuch zwei: Die Fallhöhe.

    Grass hat sich zunehmend in eine Rolle hinein entwickelt, die vor ihm in Deutschland eigentlich nur Gerhart Hauptmann innegehabt hatte (falls man nicht gleich bis zu Wieland und Goethe zurückgehen will): Die des Dichterfürsten, des Primus inter Pares. Er ist der Poeta Doctus. Er ist derjenige, der sich Fontane so nah fühlt, daß er ihm mit dem seltsam überkonstruierten Roman "Ein weites Feld" sozusagen auf den Leib zu rücken versuchte. Derjenige, der den Nobelpreis entgegennahm wie ein mittelalterlicher Fürst die Salbung durch den Papst, nachdem er von den Kurfürsten schon längst zum Kaiser bestimmt worden war.

    Und dieser über allen Schwebende fällt nun auf die Schnauze. Das ist tragisch, und es ist komisch. Jedenfalls regt es unsere Phantasie an. Und erklärt insofern, denke ich, dieses große öffentliche Interesse.



    Aber ich fürchte, mit diesen beiden einander ergänzenden psychologischen Erklärungen kommen wir nicht aus. Die Diskussion hat ja einen unüberhörbar politischen Unterton.

    Also, Erklärungsversuch drei: Diese Diskussion ist so etwas wie eine Ausfüllung des Schemas: Ihr Älteren seid alle Faschisten gewesen.

    Das war das Schema, das zu den Verbrechen der RAF geführt hatte (und das, fürchte ich, erhebliche Teile der Generation der um 1945 Geborenen zu mehr oder weniger klammheimlichen Sympathisanten dieser Verbrecher gemacht hat, wenn auch nur anfangs).

    Es ist das Schema, das die absurden Vorwürfe gegen Martin Walser, er sei ein Antisemit, hervorgebracht hat. Es ist das Schema, aufgrund dessen der große Journalist Werner Höfer zum Paria gestempelt wurde; unter kräftiger Mithilfe ausgerechnet des Senders, der ihm so viel zu verdanken gehabt hatte. Es ist ein Schema, von dem ich eigentlich gehofft hatte, daß es mit dem Generationswechsel allmählich verblaßt.

    Vielleicht tut es das ja. Vielleicht ist dieses Theater um nichts, dieses beaucoup de bruit pour une omelette, so etwas wie das Satyrspiel nach der Tragödie. Die Travestie der schlimmen und notwendigen Auseinandersetzungen, die es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mit denjenigen gegeben hat, die tatsächlich biographisch verstrickt gewesen sind in das verbrecherische Nazi-System.



    Das könnte nun mit dieser letzten, unfreiwillig komischen Variante "Grass war mit 17 Jahren in der Waffen-SS und hat es nicht gesagt" zu Ende gehen. Mit der Anwendung des Schemas auf einen harmlosen Fall - so offensichtlich harmlos, daß daran vielleicht evident wird, wie wenig brauchbar das Schema heute noch ist, mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

    Eine gleich intensive, gleich hartnäckige Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Kommunisten in der DDR steht uns allerdings noch bevor.

    Hoffentlich.

    15. August 2006

    Bilder aus Cuba

    Gestern Nacht habe ich im cubanischen Fernsehen (in Europa als Cubavision zu empfangen) die Abendnachrichten von 20 Uhr gesehen.

    Vorausgegangen war ein Bericht über das Leben Castros, der offensichtlich für den Fall seines Ablebens vorbereitet worden war; untermalt mit getragener Klaviermusik.

    In den Hauptnachrichten dann sah man Castro auf dem Krankenbett. Er lag und versuchte auch nicht, sich aufzurichten. Er sprach fast nicht oder konnte nicht sprechen. Es war das Bild eines Schwerkranken. Einmal schien er etwas zu schreiben.

    Die Kamera richtete sich kaum auf ihn; wenn, dann zeigte sie immer wieder seine gefalteten Hände in Großaufnahme.


    Es agierte sein Besuch: Bruder Raúl, der aber auch kaum etwas sagte, und Hugo Chávez.

    Auf diesen richtete sich die Kamera die meiste Zeit; er führte das Wort, erzählte, lachte, präsentierte Geschenke, darunter ein sehr eigenartiges Porträt von Castro. Es war ein Bericht über einen vitalen Chávez; mit einem nicht mehr zur Aktion fähigen Fidel Castro als sozusagen Teil der Staffage der Bühne, auf der Chávez agierte.

    Castro wurde so aufgenommen, als läge er schon auf dem Totenbett. Ich habe versucht, einige charakteristische Szenen zu fotografieren; leider ist die Bildqualität schlecht.






    14. August 2006

    Randbemerkung: Hormonstau

    Mal wieder die TAZ, mal wieder das, was sie unter Satire versteht. In der Ausgabe vom 12. August lesen wir:
    Bombe aus Beirut platzt am Bodensee
    Martin Walser wird neuer Hisbollah-Chef. Der Schriftsteller plant einen Karrieresprung von Überlingen in den Libanon

    BEIRUT/BERLIN taz Es war nur eine dürre Meldung, die der Nachrichtensprecher des Hisbollah-Senders al-Manar gestern um zwölf Uhr mittags verlas, aber sie schlug ein wie eine Bombe in Beirut und der übrigen Welt: "Und hier eine Nachricht von unserem geliebten Führer Scheich Sajjed Hassan Nasrallah: (...) soll der deutsche Schriftsteller Martin Walser meine Nachfolge antreten und neuer Führer unserer geliebten Hisbollah werden.'"
    Und so weiter. Nachdem der Autor, ein gewisser Michael Ringel (irgendwer hat ihn gar für wert befunden, in der deutschen Wikipedia einen längeren Artikel gewidmet zu bekommen), nachdem also Ringel die LeserIn mit diesem Fake geködert hat, geht es los mit dem, was die TAZ unter Satire versteht: Geschimpfe, Beleidigungen, dünne Witzchen unter der Generalabsolution, Satire dürfe ja alles. Die meisten Bierzeitungen von Abiturienten sind freilich witziger und intelligenter.

    Hier also dient die "Satire" dazu, Walser als "mittelmäßigen Romancier und Halbdenker" zu bezeichnen, Gerüchte über das zu streuen, was man angeblich im Rowohlt-Verlag über ihn denkt (aber nein, ist doch alles nur Satire, nicht wahr?) und dergleichen mehr unterzubringen, was der linke Spießer immer schon über Martin Walser gedacht hat. "Das Buch läuft nicht, die Hormone stauen sich" - hoho, wer schlägt sich nicht wiehernd auf die Schenkel bei solcher Meisterleistung der Satire?



    Dürftig also, miese Häme, nicht besser als die "Satire" gegen den polnischen Staatspräsidenten, mit der sich der oben verlinkte Blog befaßt hatte. Eigentlich keinen Kommentar wert.

    Doch, das ist schon einen Kommentar wert. Denn diese TAZ, die es richtig findet, so etwas zu publizieren, hat ja immer noch einen gewissen Ruf. Manche vergleichen sie gar mit der "Libération" oder dem "Independent".

    Ach nein. "Linke Bildzeitung" - zumindest was das Niveau angeht, trifft das viel besser. Freilich hätte ein "Bild"-Ressortleiter solch eine "Satire" an den Autor zurückgereicht; vielleicht mit der Frage, wo denn darin - oder auch was denn daran - der Witz sei.

    Der zuständige Ressortleiter bei der TAZ hatte da weniger hohe Ansprüche. Wer ist das eigentlich? Der Wikipedia-Artikel gibt Auskunft: Michael Ringel, der Autor des Artikels.
    Zettels Meckerecke

    Vom armen B.B.

    Gerade ging die Brecht-Nacht in der ARD zu Ende; die Aufzeichnung einer Veranstaltung im Theater am Schiffbauerdamm.



    Mein Haupteindruck: Rührend, entsetzlich. Wie eine Veranstaltung von Wagnerianern, die darauf beharren, den "Ring des Nibelungen" genauso zu spielen, wie es dem Meister vorgeschwebt hatte.

    Wie er sich räuspert und wie er spuckt, so haben sie ihm das abgeguckt. Bis hinein in die Aussprache - alles streng brechtianisch. Gespenstisch kam mir das vor, wie eine Sekte, die ihre Rituale zelebriert.

    Alles xfach gehört, und nun wieder mit gespielter Frische dargeboten; wie eine Versammlung ergrauter Berufsjugendlicher, die ihr "Im Frühtau zu Berge wir ziehn, Fallera ..." schmettern.



    Lichtblicke in dieser Grufti-Veranstaltung? Ja! Milva! Die hat Brecht so gesungen, als hätte sie sich nie von Brecht instruieren lassen, wie man Brecht singen muß.

    Angela Winkler, auch sie kein Gemeindemitglied, konnte halt nicht verbergen, daß sie eine gute Schauspielerin ist.

    Und noch weniger konnte das Klaus Wowereit, der die Knallcharge so gab, wie man das kurz vor den Landtagswahlen von jemandem erwarten kann, der keine Schamschwelle kennt.

    Sogar ein Brecht-Hemdlein hatte er angetan, der Klaus Wowereit.

    ZX 81

    Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert habe ich meinen ersten Computer gekauft. Er kostete 498 Mark und wurde in einer, wenn ich mich recht erinnere, blauen Schachtel mit einer futuristischen Abbildung darauf geliefert, in der sich außer dem Rechner das Handbuch, ein Netzteil und ein Kabel befanden.

    Ich kann mich noch gut an den Augenblick erinnern, als ich ihn klopfenden Herzens auspackte. Ich hatte noch nie an einem Computer gearbeitet, allerdings schon viel mit Taschenrechnern; auch eifrig die universitäre "EDV" benutzt, also Daten "abgelocht" und im Rechenzentrum verarbeiten lassen.

    Nun stand er also vor mir, mein eigener Computer! Ein Sinclair ZX81. Oder vielmehr: Er lag vor mir auf dem Tisch, ein kleines, schwarzes Kerlchen, ungefähr vom Format und Gewicht eines Paperbacks; die Tastatur eine kleine Fläche mit auf der Folie aufgedruckten Tasten, beschriftet in Rot und Weiß. Ich hatte ihn mir ungleich größer, gewichtiger, auch solider vorgestellt.

    Das Handbuch verlangte, das Netzteil anzuschließen und den ZX81 mit dem Antenneneingang des Fernsehers zu verbinden. Das war die Installation und Einrichtung meines ersten Computers.

    Darauf zeigte der Fernseher einen hellflimmernden Bildschirm, sonst nichts. Das Handbuch schlug vor, was der Anfänger nun tun sollte: Die Taste PRINT AT drücken, dann die Koordinaten 1,1 und dann in Anführungszeichen eine Ziffer.

    Das tat ich, und siehe, da stand es, links oben auf dem Bildschirm: 4.

    So begann meine Computerei.



    Hier einige Daten des ZX81:
  • CPU: Zilog Z80 A
  • Taktfrequenz: 3,5 MHz
  • RAM: 1 KB
  • ROM: 8 KB (enthielt das Sinclair-Basic)
  • Festplatte: keine
  • Diskettenlaufwerk: keines
  • Ja, wie um Himmels Willen habe ich denn die Programme geladen? Nun, sehr einfach: Ich habe das Programm geschrieben, dabei schrittweise ausprobiert und in ein Notizbuch eingetragen. Wenn ich es wieder brauchte, habe ich es eben neu eingetippt.


    Was, das ganze Programm immer neu eingetippt? Ja, das ging gut. Denn lang konnte ein Programm für ein RAM von einem KB ja nicht sein. 30, 40 Zeilen, das war schon eine Menge. Und man versuchte ja mit allerlei Tricks, das Programm so knapp wie möglich hinzukriegen, um Speicherkapazität zu sparen. Zum Beispiel so kurze Zeilen schreiben, daß nur die linke Hälfte des Bildschirms genutzt wurde. Der Video-Speicher war nämlich dynamisch und brauchte weniger Speicherkapazität, wenn die rechte Bildschirmhälfte ungenutzt blieb. Auch durch geschickten Einsatz von GO TO-Schleifen konnte man manche Programmzeile einsparen.

    Solche Tricks lernte man aus den einschlägigen Zeitschriften, in denen auch Programme abgedruckt waren, die man abtippte. Später habe ich mir dann eine Speichererweiterung mit 32 KB gekauft und einen Cassettenrekorder, auf dem Programme gespeichert werden konnten. Mit einem lustigen Mickeymaus-Piepsen während der Datenübertragung.

    So richtig funktioniert hat das nie, und es kam dann auch bald die Zeit, wo ich den ZX81 beseitegelegt habe. Benutzt habe ich ihn nur zwischen 1981 und 1985. Und irgendwann, ein paar Jahre später, an einen jungen Mann verschenkt, mit allen Handbüchern und Programmen. Einer der großen Fehler meines Lebens.



    Der ZX81 war ungefähr tausendmal langsamer als ein heutiger PC mittlerer Preisklasse. Sein Arbeitsspeicher umfaßte ungefähr ein Millionstel dessen, was heute guter Mittelklassenstandard ist. Er hatte keinen Massenspeicher, einen winzigen Zeichensatz, nur allereinfachste Grafik (im Grunde nur weiße Blöcklein, die man unterschiedliche aneinanderreihen konnte), eine vereinfachte Version der Einfach-Programmiersprache BASIC.

    Aber er war ein vollwertiger Rechner. Wie er funktioniert auch heute noch jeder PC. Und das ist, finde ich, das Interessante an der Evolution des PC, die mit dem ZX81 begann: Er hat sich gewaltig gewandelt, und er ist auf erstaunliche Weise gleich geblieben.

    Die Leistungsexplosion der PCs in diesem Vierteljahrhundert ist nicht dadurch erreicht worden, daß man neue Funktionsprinzipien entdeckt und eingeführt hätte; der "massiv parallele" Rechner zum Beispiel ist weiterhin Zukunftsmusik. Nein, wie der ZX81 sind auch noch die heutigen PCs Realisationen der Prinzipien, die John von Neumann und Alan Turing formuliert haben. Es sind, trotz Coprozessoren und Dual Core, ihrem Wesen nach immer noch serielle Rechner mit der klassischen Architektur. Sie machen noch genau dasselbe wie mein ZX81 - nur ungleich schneller, nur mit ungleich mehr Speicherkapazität.

    Und sie bringen dadurch das zustande, was wie eine Kaskade von qualitativen Neuerungen aussieht: Der Benutzer schreibt nicht mehr Programmzeilen, sondern er klickt Icons an und bewegt, sagen wir, mit seinem Joystick Gestalten durch fiktive Welten, läßt sie agieren und kämpfen. Er produziert Powerpoint-Präsentationen, chattet in Realzeit und schreibt Blogs.

    "An der Oberfläche" etwas völlig anderes als das, was ich getan habe, wenn ich Zeile für Zeile ein BASIC-Programm in den ZX81 getippt habe. "Im Kern" aber dasselbe, just more of the same. Nur eben viel, viel mehr.



    Die Evolution der Computer zeigt damit ein ähnliches Bild wie die biologische Evolution.

    In der Evolution ist es sozusagen gang und gäbe, daß dieselben Funktionsprinzipien, erweitert und verbessert, zu ganz neuen Leistungen führen, zu "evolutionären Sprüngen".

    Das Gehirn des Menschen unterscheidet sich im Aufbau nicht grundsätzlich von dem anderer höherer Säuger. Vom ZNS anderer Primaten überhaupt nur noch quantitativ, nämlich durch eine größere Gesamthirnmasse und durch einen höheren Anteil des Neokortex und vor allem des Frontalhirns an dieser Gesamtmasse. Aber diese quantitativen Erweiterungen haben so etwas qualitativ Neues hervorgebracht wie die menschliche Kultur. Kleine Veränderungen im Genom, die sich im Phänotyp als sprunghafte Neuerungen darstellen.



    Die Metapher des Sprungs hat auch Sir Clive Sinclair verwendet, der geniale und genialische Erfinder des ZX81, drei Jahre nach der Markteinführung des ZX81. Inzwischen war es mit den "Heimcomputern" mit Riesenschritten vorangegangen, und Sinclair wollte mit seinem "Sinclair QL" (QL für Quantum Leap) einen nunmehr qualitativen Sprung tun.

    Aber ach, es wurde nur ein Hüpferlein. Gewiß war auch der QL sehr innovativ; er hatte zB ein seltsames neues Speichermedium namens "Microdrive" und einen für damalige Verhältnisse gigantischen Arbeitsspeicher von 128 KB. Doch er wurde ein kompletter Mißerfolg.

    Ich habe damals, wie viele, gierig auf die immer wieder verschobene Markteinführung gewartet und war fast entschlossen gewesen, den QL für ungefähr 2000 Mark zu erwerben. Aber während ich, Anfang 1985, noch die Testberichte studierte, kam der Amstrad PCW 8256 auf den Markt, in Deutschland als "Schneider Joyce" verkauft. Das war genau das, was ich brauchte - ein Computer und zugleich eine Schreibmaschine, das ideale System für den Textproduzenten, der es auch mit Zahlen und statistischen Tests zu tun hatte.

    Ein schönes Gerät, diese Joyce, das ich noch lange nach Auftreten der ersten "PC nach Industriestandard" benutzt und aufgerüstet habe. Ein ganzes Buch habe ich darauf geschrieben. Zwar gab es noch immer keine Festplatte (die damals "Winchester-Laufwerk" hieß, tausende von Mark kostet und immer vom "Headcrash" bedroht war). Aber immerhin besaß die Joyce ein Diskettenlaufwerk; jedes Unterkapitel paßte auf eine Diskettenseite. (Man konnte die Disketten umdrehen und auch auf der anderen Seite beschreiben).

    Das Scrollen durch eine Textdatei war so schön langsam, daß man sich dabei in Ruhe überlegen konnte, wie es weiter im Text gehen sollte. Und wenn man mal Pause machte, dann konnte man eine andere Diskette einlegen und LOGO laden (eine von dem genialen Seymour Papert erfundene, LISP-ähnliche Programmiersprache für Kinder) und damit allerlei Allotria treiben.



    Aber den Charme des ZX81, meines ersten Computers, hatte die Joyce trotz alledem nicht. Ganz zu schweigen von den Rechnern, die ich seither gekauft und, beim Kauf eines neuen, leichten Herzens entsorgt habe.

    12. August 2006

    En permanence

    In französischen Großstadt-Kinos war es früher üblich, daß die Filme "en permanence" gezeigt wurden. Das Programm wurde ohne Unterbrechung den ganzen Tag über wiederholt, und man konnte jederzeit eine Karte lösen und sich (gegen Trinkgeld) von der Platzanweiserin an einen Platz führen lassen.

    Man kam also zB in einen Film, wenn Eddie Constantine gerade im Sportcoupé die Corniche entlangpreschte, oder wenn er sich aus einem Keller zu befreien versuchte, indem er an den Fenstergittern arbeitete.

    Ungefähr zwei Stunden später war das Programm wieder bei derselben Szene angekommen.

    Derselben? Nein. Derjenige Teil des Films, den man zum zweiten Mal sah, war nun ein ganz anderer geworden. Er stand ja jetzt im Kontext. Da jagten nicht einfach zwei Autos über die Corniche, sondern Eddie versuchte, eine von den Gangstern entführte Geisel zu retten. Da rüttelte er nicht mehr nur am Kellergitter, sondern es ging darum, ob er sich würde befreien können, bevor der von Gangstern eingestellte Zeitzünder ihn samt Keller und Haus in die Luft sprengte.

    Da bekamen Dialoge erst ihren Sinn, die beim ersten Mal wie aneinandergereihte Klischees geklungen hatten. Da fügte sich das, was wie wild zusammengeschnittene Einstellungen erschienen war, zu Aspekten desselben Geschehens zusammen.

    Was isolierte Szenen gewesen waren, das war jetzt Teil einer Handlung. Es hatte Bedeutung, es war nun mit Sinn und Zusammenhang ausgestattet. Und erst im Kontext der Gesamt-Dramaturgie eines solchen Films war es überhaupt spannend, fesselnd, interessant, diese Szenen anzuschauen.



    Daran habe ich mich erinnert, als ich heute erstmals eine Fußball-Konferenzschaltung im Fernsehen gesehen habe (in SAT1 - als Appetithäppchen, das uns anregen sollte, Arena zu abonnieren, wo das künftig allwöchentlich zu sehen ist).

    Die einzelnen Szenen eines Fußballspiels sind, für sich genommen, langweilig. Sie sind genau das, was jemand, der von Fußball keine Ahnung hat, sieht: Da laufen Männer übers Feld, streiten sich um einen Ball und kicken ihn in der Gegend herum.

    Interessant wird jede dieser Spielszenen erst dadurch, daß sie - wie eben die Szenen in einem Film oder Theaterstück - ihren Stellenwert hat. Daß sie sich aus einem bestimmten Spielverlauf entwickelt hat, daß sie eine bestimmte Bedeutung für den Ausgang des Spiels hat.

    Ein ganzer Fußball-Nachmittag, in dem ständig zwischen fünf oder sechs Spielen hin- und hergeschaltet wird, mit jeweils ein paar Häppchen aus dem betreffenden Spiel - vielleicht einem "Höhepunkt" wie einem Elfmeter - erscheint mir deshalb nicht vergnüglicher, als wenn, sagen wir, der ZDF-Theaterkanal zwischen sechs Theatern hin- und herschalten und die Szenen aus den laufenden Inszenierungen zeigen würde, die man jeweils gerade erwischt.

    Und wenn man dabei die Umschaltungen so zu gestalten versuchte, daß der Zuschauer im "Faust" den Osterspaziergang nicht verpaßt, nicht Tells Schuß und nicht Hamlets Monolog, dann würde das die Sache ja nicht besser machen.

    Also, ich fürchte, eine solche, noch dazu vom Sender sehr teuer bezahlte, Bundesliga-Schalterei am Samstag Nachmittag, ist nichts; jedenfalls nichts für mich. Vergeudetes Geld, vertaner Aufwand.



    Warum ist eine solche "Bundesliga-Konferenz" aber spannend, wenn sie der Hörfunk überträgt? Weil es da eben viel mehr um Information geht als beim TV-Fußball, und weniger um den Spielgenuß. Über die Spiele wird berichtet, sie werden nicht gezeigt. Und beim Bericht wird der Kontext durch den Reporter hergestellt, der uns über den Verlauf, über die Qualitäten und Schwächen eines Spiels informiert.

    Gewiß, er beschreibt auch jeweils ein Stücklein Spielgeschehen - aber das geschieht eigentlich mehr der Atmosphäre wegen; niemand käme auf den Gedanken, daß die gesprochene Reportage das Anschauen des Spiels ersetzen könnte.



    Anders gesagt: Man kann solch einen Fußball- Nachmittag auf zwei Weisen genießen. Entweder auf dem Platz, wo man einen geschlossenen Ablauf erlebt und wo das Optische im Vordergrund steht. Oder als eine Berichterstattung über alle Spiele, deren Spannung sich daraus ergibt, welche Mannschaften gerade vorn liegen, wie sich die Spielstände ändern, wie am Ende die Punkte verteilt werden.

    Für diese Art von Spannung ist es völlig gleichgültig, ob ein Spiel gut oder schlecht ist. Der Reporter kommentiert das zwar oft, aber eine Rolle für das Vergnügen an der Sendung spielt es nicht. Das ist nur wichtig, wenn man das Spiel sieht.



    Die TV-Schalterei, wie heute bei SAT1 und demnächst bei Arena, scheint mir eine Mischung aus beidem zu sein; und zwar eine Mischung, die nicht ihre Vorzüge vereint. Man bekommt keinen einzelnen Spielablauf zu sehen und wird dennoch ständig mit Bildern beliefert. Die optischen Häppchen stören aber eher dabei, das Gesamtgeschehen der Bundesliga zu überblicken, als daß sie dies befördern würden.

    So nehme jedenfalls ich es wahr. Mag sein, daß andere, die mehr vom Fußball verstehen, einen anderen Eindruck haben.

    Vielleicht genügt ihnen das optische Häppchen, um sich einen Kontext dazuzukonstruieren; so, wie dem Kunstliebhaber ein Stück gemalter Himmel genügt, um ein Bild als einen Renoir oder einen van Gogh zu erkennen.

    Das ästhetische Vergnügen freilich wird auch für den Kenner beim Anblick eines solchen Bildausschnitts eher bescheiden ausfallen.

    8. August 2006

    Gedanken über die Monarchie

    Was spricht eigentlich gegen die Monarchie? Auf den ersten Blick mag die Frage abwegig erscheinen: Die deutschen Monarchisten, nicht wahr, die sind doch ein kleines Häuflein von versponnenen, offenbar irgendwie in der Vergangenheit hängengebliebenen Sonderlingen, wenn nicht Reaktionären? Und die deutsche Monarchie - hat sie nicht soviel Unheil angerichtet, daß sich schon deswegen der Gedanke an ihre Wiedereinführung verbietet?

    Nun, Gedanken sollte man nicht verbieten; und es gibt nur wenige Gedanken, die sich verbieten. Daß es nicht realistisch ist, in Deutschland wieder eine Monarchie zu etablieren, gar das Haus Hohenzollern zurück auf einen wiedererrichteten deutschen Kaiserthron zu holen, liegt auf der Hand. Aber Gedanken kann man sich ja trotzdem machen.

    Nicht mit dem Ziel, daß sie sich in Realität verwandeln. Das tun ja Gedanken ohnehin selten. Und wenn sie es tun - wie die Traumgedanken des Karl Marx über eine freie und gerechte Gesellschaft - , dann erweist sich der aus ihnen hervorgehende manifeste Trauminhalt nicht selten als der eines Alptraums.



    Wo gibt es eigentlich noch Monarchien? Drehen wir - in Gedanken! - die Weltkugel.

    In Amerika? Da gab es einmal den einen oder anderen Monarchen in Lateinamerika; in Brasilien einmal einen König Pedro, später den unglücklichen Kaiser Maximilian in Mexiko. Ephemere Versuche, vorbei. In Afrika? Der letzte durch eine alte Tradition legitimierte Monarch, Haile Selassie von Äthiopien, wurde 1974 gestürzt. König Faruk von Ägypten und König Idris von Libyen hatten schon früher ihren Thron verloren. Im südlichen Afrika gibt es Königreiche von Gnaden der Republik Südafrika; und es gab jenen bizarren Bokassa, Kaiser des "Zentralafrikanischen Kaiserreichs". Und dann gibt es noch den König von Marokko.

    Den man aber vielleicht eher der arabischen Welt zurechnen sollte. Dort finden wir des weiteren den König von Jordanien, den saudischen König und diverse Emire und Sultane am Golf. Sodann - wir sind jetzt in Asien angekommen - einige Könige in Ostasien - den König von Thailand, von Kambodscha, den von Nepal, den von Bhutan. Und natürlich den japanischen Kaiser. Auch in Ozeanien gibt es wohl Monarchien; jedenfalls gab es sie. An die Königin von Tonga, von massiver Ehrwürdigkeit, erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit.



    Einige habe ich sicher vergessen bei diesem tour d'horizon. (Wer die vollständige Liste ansehen will, findet sie zum Beispiel hier). Die kleine Aufzählung zeigt jedenfalls: Es sind verstreute Monarchien, Überbleibsel, sozusagen einzelne Inseln in einem Meer von Republiken.

    Anders Europa. Europa ist die letzte Hochburg der Monarchie. Norwegen, Schweden, Dänemark, das Vereinigte Königreich. Die Niederlande, Belgien, Luxemburg. Spanien und die Klein- und Halbstaaten Liechtenstein, Andorra und Monaco.

    Seltsam, nicht wahr? Gerade dieser, was Demokratie und Rechtstaatlichkeit angeht, so weit fortgeschrittene Kontinent Europa hat noch derart viele Monarchien.



    Mehr noch: Sie sind nicht nur zahlreich, die europäischen Monarchien, sondern sie sind auch ausnehmend erfolgreich. Ich habe mir einmal ein paar der heute so beliebten Rankings angesehen - und durchweg schnitten die europäischen Monarchien glänzend ab:
  • Nehmen wir die Freiheit. Da gibt es den Annual Worldwide Press Freedom Index, der die Länder der Welt danach anordnet, wie frei dort die Presse ist. An der Spitze liegen (alle mit jeweils demselben nahezu optimalen Indexwert von 0,5) Dänemark, Finnland, Island, Irland, die Niederlande, Norwegen, die Schweiz. Drei der sieben freiesten Länder der Welt sind Monarchien.

  • Nehmen wir die Wissenschaften. Auch bei den Universitäten gibt es natürlich Welt-Ranking, zum Beispiel das von Webometrics. Von den zehn weltbesten Universitäten liegen hiernach sieben in einer Monarchie, nämlich in Großbritannien oder Schweden. (Die meisten in Großbritannien).

  • Oder betrachten wir den ökonomischen Erfolg. Die Wikipedia bietet uns ein Financial and Social Ranking of European Countries. In der Kaufkraft pro Kopf der Bevölkerung sind unter den ersten Zehn fünf Monarchien (Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Belgien und Großbritannien). Die Liste der europäischen Staaten mit der geringsten Arbeitslosigkeit enthält sogar sieben Monarchien unter den ersten Zehn (Andorra, die zur dänischen Krone gehörenden Faröerinseln, Liechtenstein, die britische Kronkolonie Gibraltar, die Niederlande und Monaco). Gut, darunter sind arg viele Kleinstaaten und -territorien. Lassen wir sie aus; dann sind unter den ersten Zehn immer noch vier Monarchien (die Niederlande, Norwegen, Schweden und Luxemburg).

  • Und nehmen wir schließlich das Ranking aller Rankings, den Human Development Index der Vereinten Nationen. Hier sind unter den besten zehn Staaten der Welt - den am meisten entwickelten, den mit der höchsten Lebensqualität - sieben europäische Staaten. Von diesen sieben sind vier (Norwegen, Luxemburg, Schweden und Belgien) Monarchien. Und von den drei nichteuropäischen - Australien, Kanada und die USA - sind zwei ebenfalls formal Monarchien; mit der britischen Königin als Staatsoberhaupt.


  • Geneigter Leser, ich danke Ihnen, daß Sie bis hierher gelesen und Ihren Zorn zurückgehalten hast. Den Zorn darüber, daß ich nicht längst auf einen trivialen Sachverhalt eingegangen bin: Der Erfolg eines Landes hängt selbstverständlich von so vielen, so komplexen, so vielfach interagierenden Faktoren ab, daß man ihn nicht einfach mit einem - noch dazu so äußerlichen - Faktor in Verbindung bringen kann, wie daß er die Staatsform einer Monarchie hat.

    Gewiß ist das so. Nur allzu wahr ist es! Es liegt mir folglich fern, etwa zu behaupten, Staaten wie Norwegen, die Niederlande und das Vereinigte Königreich stünden deshalb in diesen Rankings so gut da, weil sie Monarchien sind. Das wäre wahrlich eine abenteuerliche Behauptung.

    Nein, das nicht. Aber zwei weniger gewagte Vermutungen lassen sich aus diesen Rankings doch ableiten:
  • Erstens, eine Monarchie zu sein scheint eine Nation zumindest nicht daran zu hindern, ein freies, prosperierendes Land mit einer hohen Lebensqualität zu sein

  • Zweitens: Die auffällige Häufung von Monarchien in diesen Listen läßt vermuten, daß es irgendwelche indirekten Zusammenhänge zwischen der Fortschrittlichkeit dieser Länder und ihrer, sagen wir, Toleranz gegenüber der überkommenen Staatsform der Monarchie gibt. Vielleicht kann man sagen: Es sind Länder, die soviel soziale Stabilität, soviel nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, eine so weitgehend ohne radikale Brüche verlaufene nationale Geschichte haben, daß sich dort nie revolutionäre Umstände ergaben, die zum Sturz der Monarchie geführt hätten.


  • Wenn man mit Historikern spricht, dann macht man die Erfahrung, daß die meisten es als unwissenschaftlich von sich weisen, die Frage "Was wäre gewesen, wenn ..." - zu stellen. Und daß viele von ihnen zweitens, ein wenig herausgefordert und/oder zu später Stunde, nur allzu gern auf diese Frage eingehen. Spielerisch natürlich, off the record, erst nachdem sie den Hut des Wissenschaftlers ab- und den des Teilnehmers an lockerer Runde aufgesetzt haben.

    Als jemand, der mehr in den Naturwissenschaften zu Hause ist, empfinde ich diese Frage allerdings als keineswegs unwissenschaftlich. Das Gedankenexperiment ist dort ein ehrwürdiges und gar nicht fragwürdiges Verfahren. Viele Modelle sind nichts anderes als auf dem Rechner implementierte Gedankenexperimente. Also, ich erlaube mir die Frage: Was wäre geworden, wenn Wilhelm II nicht im November 1918 zur Abdankung gezwungen gewesen wäre?

    Und ich erlaube mir - nein, keine Antwort, aber ein paar Überlegungen zu den, sagen wir, Optionen, die der Weltgeist dann gehabt hätte:
  • Es wäre alles nicht anders verlaufen, als es tatsächlich verlaufen ist. Der Kaiser hätte genau die Rolle übernehmen müssen, die Hindenburg spielte. Mit, nach der "Machtergreifung", einer Stellung gegenüber Hitler ungefähr wie der von Vittorio Emanuele gegenüber Mussolini.

  • Die Entwicklung wäre ähnlich verlaufen wie in der Realität, aber doch sozusagen gedämpft. In einer weiterbestehenden Monarchie hätten die Versuche der Kommunisten, nach 1919 Deutschland zur Sowjetrepublik zu machen, schneller und weniger blutig vereitelt werden können. Und andererseits hätte sich Hitler, solange der Kaiser noch lebte, nicht zu einem absoluten Diktator aufschwingen können.

  • Die optimistischste Variante: In einer weiterbestehenden Monarchie hätte der Prozeß des Übergangs zu einer konstitutionellen Monarchie erfolgreich fortgesetzt werden können, der ja schon längst vor 1914 begonnen hatte. Die Beamtenschaft, das Militär, hätten nicht in großen Teilen gegen den Staat gestanden, und die Kommunisten hätten nach 1919 so wenig eine Chance gehabt, wie die Nazis nach 1930.
  • Ja, gewiß, ein Traum. Gedanken, in Vorstellungen umgesetzt: Aber was hätte Europa erspart werden können, wenn Hitler keine Chance gehabt hätte, und wenn Europa aus dem Ersten Weltkrieg schon die Lehren gezogen hätte, die es, nach furchtbaren Leiden, endlich aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hat!



    Nein, ich bin nicht für die Wiedereinführung einer deutschen Monarchie; das würde jetzt ja nichts mehr verbessern und ist außerhalb jeder vernünftigen Erfolgsaussicht.

    Ja, ich halte es für wahrscheinlich, daß unsere Geschichte im 20. Jahrhundert weniger katastrophal verlaufen wäre, wenn die Monarchie nach 1918 Bestand gehabt hätte.