31. August 2006

Verschwörungstheorien (2): Systematischer Zweifel

Das, was wir über die Welt wissen, ist in großem Umfang Wissen aus zweiter Hand. Wenn wir unserem Wissen trauen wollen, dann müssen wir - das war das Thema des ersten Teils - unseren Lehrern, Pfarrern und Professoren vertrauen. Wir müssen dann dem vertrauen, was in Büchern und Zeitschriften steht, was wir im TV sehen und im Radio hören.

Müssen? Nein, natürlich müssen wir nicht. Wir können dem allen mißtrauen. Grundsätzlich können wir sogar, wie es Augustinus und dann vor allem Descartes durchgespielt haben, unseren Sinnen mißtrauen. Das freilich mündet in einen Solipsismus, den man nur spielerisch durchhalten kann. Oder, besser gesagt, in Gestalt eines Als Ob erproben kann, das dann doch wieder zur Realität zurückführt und zurückführen muß. Bei Augustinus und Descartes mit Gottes Hilfe.



Der cartesianische Zweifel an der Realität unserer Sinneswelt also ist nicht ein Ergebnis des Denkens, sondern nur ein Weg des Denkens. Aber ein Weg - ein met-hodos, ein vermittelnder Weg - der doch etwas in die Welt setzte, was unsere Weltsicht nicht weniger revolutioniert hat als die kopernikanische Revolution: Die Herrschaft der Methode. Zwei der Hauptwerke von Descartes tragen das im Titel: Discours de la méthode, Regulae ad directionem ingenii - Abhandlung über die Methode, Regeln zur Lenkung des Denkvermögens. Und die Grundregel lautete: Prüfe alles kritisch! Nimm nichts ungeprüft hin!

Die Renaissance hatte das vorbereitet, aber erst Descartes machte es zum expliziten Programm: Descartes - er, die Person René Descartes - machte sich zum Richter über das, was er glauben wollte und was nicht. Und er wollte nur das glauben, was er selbst als richtig erkannt hatte.



Nun haben wir nicht alle die Kühnheit, das Selbstvertrauen und den Scharfsinn eines Descartes. Sein Programm konnte sich also nur sozusagen in der Variante Light durchsetzen: Nicht jeder kann sich von der Richtigkeit all dessen überzeugen, was er zu glauben bereit ist. Wir müssen den methodischen Zweifel gewissermaßen delegieren.

Dieser an Institutionen delegierte methodische Zweifel ist die Grundlage der Moderne:
  • Im Bereich der Natur und des Geistes haben wir ihn an die Wissenschaften delegiert. Der ungeheure Fortschritt der modernen Wissenschaft basiert darauf, daß jede Behauptung wieder und wieder kritisch geprüft wird; sei es im Licht von Erfahrungsdaten, sei es im Hinblick auf die formale Schlüssigkeit.

  • Im Bereich der Gesellschaft haben wir diesen methodischen Zweifel an die politischen Institutionen und die Judikative delegiert. Die demokratischen Institutionen sind so beschaffen, daß sie der Schwäche und Bosheit des Menschen, seiner Machtgier, seiner Unwahrhaftigkeit Rechnung tragen. Dazu brauchen wir die Gewaltenteilung, eine Balance of Powers. Also haben wir die Opposition, die die Regierung kontrolliert. Die amerikanische Verfassung ist der in gesellschaftliche Realität umgesetzte methodische Zweifel; in vielleicht weniger gelungener Form ist es jede demokratische Verfassung.

  • Eine immer wichtigere Rolle spielen bei diesem methodischen gesellschaftlichen Zweifel die Medien. Die freie Presse ist oft als die Vierte Gewalt bezeichnet worden. In der Tat - wenn Politiker zu lügen und tricksen versuchen, wenn Unternehmer oder Gewerkschaften die Wirklichkeit im Licht ihrer Interessen darstellen, dann sind die freie Presse, sind zunehmend auch die freien elektronischen Medien unser Sachwalter dabei, das aufzudecken. Und allein ihre Existenz als methodisch Zweifelnde bewirkt, daß die Politik im demokratischen Rechtsstaat in einem Maß anständig und gesetzestreu funktioniert, wie das kein anderes politisches System jemals auch nur annähernd erreicht hat.

  • Und schließlich basiert diese gesamte institutionalisierte Kritik natürlich auf der freien Wirtschaft. Eine Konzentration wirtschaftlicher Macht, wie im Sozialismus, ermöglicht es ja, alle die anderen Mechanismen des institutionalisierten Zweifels auszuhebeln. Alle Formen des real existierenden Sozialismus haben das gezeigt. Die Grundbefindlichkeit "unserer Menschen" im Sozialismus ist das Mißtrauen; die Überzeugung, ständig belogen zu werden.



  • In einem modernen, vom wissenschaftlichen Fortschritt geprägten Staat hingegen, in dem diese gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, juristischen, medialen Mechanismen des institutionalisierten Zweifels funktionieren, sollten wir unserem Wissen trauen können. Also dem, was uns die Wissenschaft sagt, was uns die Medien sagen, was uns die gesellschaftlichen Institutionen sagen, so vertrauen können, wie Descartes dem traute, was er nach strenger Prüfung als wahr erkannt hatte. Sie prüfen das ja für uns; sie können gar nicht anders, weil sie in ihrer Funktionsweise den Zweifel und die Kontrolle eingebaut haben.

    Haben wir dieses Vertrauen? Die meisten von uns haben, scheint mir, nicht den Eindruck, daß der Wissenschaft nicht zu trauen sei, daß die Presse systematisch die Unwahrheit schriebe, daß unsere Politiker und Staatsmänner in ihrem Handeln durch ganz andere Motive bestimmt seien, als sie öffentlich sagen.

    Aber nicht alle pflichten dem bei. Und viele, die grundsätzlich beipflichten, haben dennoch manchmal ihre Zweifel an diesen Einrichtungen des institutionalisierten Zweifels.

    Woher kommt das, daß es am Ende bei diesen Menschen, in diesen Fällen, mit dem Delegieren des cartesianischen Zweifels doch nichts geworden ist? Daß sie diese den Zweifel verkörpernden Institutionen als "Show" wahrnehmen, als "demokratische Fassade", als "Freiheitsmäntelchen"? Wohinter sich - wenn wir hinter die Kulissen gucken, hinter die Fassade treten, das Mäntelchen wegziehen - vollkommen Anderes enthüllt: Die Interessen des Kapitals. Die Entscheidungen überstaatlicher Mächte. Die Drahtzieherei derjenigen, die wirklich das Sagen haben. Verschwörungen.

    Kurzum, es gilt - so sehen sie es -, zu entlarven, zu demaskieren. Wo kommt diese Haltung her? Die Antwort ist trivial: Sie stammt wesentlich von den drei großen Entlarvern im neunzehnten Jahrhundert: Nietzsche, Freud und natürlich vor allem Karl Marx.

    Um diese eigenartige Weltsicht des Schauens hinter die Kulissen, des Aufdeckens und Entlarvens à la Sherlock Holmes, deren Ausdruck die Verschwörungstheorien sind, wird es im nächsten Teil gehen.
    (Fortsetzung folgt)



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.