22. November 2022

Eine wirkliche Mondrakete - "...und endlich noch Erduntergang"





(Orion - Erde - Mond; 21.11.2022; MEZ 11:55)

„Start now on that farthest Western way which does not pause at the Mississippi or the Pacific, not conduct toward a wornout China or Japan, but leads on direct, a tangent to this sphere, summer and winter, day and night, sun down, moon down, and at last earth down too.”
(Henry David Thoreau, “Walden, or Life in the Woods,” 1854, “Conclusion”)



Offensichtlich hilft es, auf Holz zu klopfen – wie ich es an dieser Stelle vor fünf Tagen stellvertretend Dooley Wilson in seinem ersten Auftritt als Pianist San in „Casablanca“ vor 80 Jahren machen ließ. (Wilson, der von Profession Schlagzeuger war, spielt im Film nicht Klavier, sondern tut nur so.) Um 07 Uhr 47 Mitteleuropäischer Zeit, 43 Minuten nach der Öffnung des Startfensters, hat vor 5 Tagen das zweite Mondfahrtzeitalter tatsächlich begonnen, als die vier Haupttriebwerke des Space Launch System zusammen mit den beiden seitlich montierten Feststoffraketen die Raumkapsel Orion der Mission Artemis 1 erst in die niedrige Erdumlaufbahn und 75 Minuten später auf den Weg zum Erdtrabanten beförderten.

Heute Mittag, fast auf die Sekunde genau 126 Stunden nach Missionsbeginn, hat das Haupttriebwerk der Raumkapsel während der nächsten Annäherung an den Mond, in einer Entfernung von gut 80 Meilen (also gut 130 Kilometern) für zweieinhalb Minuten gezündet und das Raumschiff damit auf jenen Kurs gebracht, in dem es während der nächsten zwei Wochen den „Near Rectilinear Halo Orbit“ beschreiben wird, den auch die weiteren Missionen des Artemis-Programms in den nächsten Jahren durchlaufen werden – sowie die Raumstation Gateway, die in 5 oder 6 Jahren als Ausgangsbasis für die Abstiege der Astronauten zur Mondoberfläche dienen soll. Am Freitag, dem 25. November, wird mit einer weiteren Zündung die letzte Bahnkorrektur durchgeführt. Ebenfalls am Freitag, um 22 Uhr 53 Mitteleuropäischer Zeit, wird die Kapsel die größte Entfernung von der uns abgewandten Mondseite erreichen, mit 92.130 Kilometern – die weiteteste Entfernung, die je zwischen einem für eine menschliche Besatzung ausgelegten Raumfahrzeug und seinem Mutterplaneten gelegen hat. (Obwohl es sich bei Artemis 1 „nur“ um einen Testflug handelt, bei dem das Funktionieren der Systeme, des Flugablaufs und der Datenübertragungen geprobt wird, sollte nicht vergessen werden, daß es sich vom Ablauf her um einen „richtigen“ Raumflug handelt, der genauso verlaufen würden, wenn statt der drei „Mannequins,“ der mit Sensoren versehenen Raumanzüge, tatsächliche Astronauten an Bord wären. Vor der Zündung des Haupttriebwerks beschrieb die Umlaufbahn, in die die Schwerkraft des Mondes die Kapsel bei diesem „Swingby“-Manöver gezwungen hatte, eine Ellipse mit den Halbachsen von 143 km mal 16.075 Kilometern, deren Ebene um 74 Grad gegen den Mondäquator gekippt war; nach Brennschluß die ist „große Halbachse“ auf 134.175 Kilometer angewachsen; die Umlaufzeit beträgt jetzt 18,4 Tage.

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Heute nacht war die Geschwindigkeit, mit der sich das Raumschiff dem Mond näherte, auf gut 215 Meilen pro Stunde gesunken; nach dem Eintreten in die „Sphere of Influence,“ die Einflußsphäre, in der die Schwerkraft eines Himmelskörpers den entscheidenden Beitrag auf seine Bahnparameter leistet, war auf den Telemetriedaten diese Beschleunigung deutlich auszumachen: um 12:25 eine Entfernung von 4168 Meilen bei einer Geschwindigkeit von 818 Meilen pro Stunde; um 12:35 eine Entfernung von 3716 (bei 921 Meilen pro Stunde/m.p.h.), um 12:53 eine Entfernung von 3029 Meilen (1107 m.p.h.) und um 13:00, in einer Distanz von 2516 Meilen, eine Geschwindigkeit von 1290 m.p.h. Eine Minute vor Zündung, um 13:45, war die Geschwindigkeit bereits auf 3010 m.p.h. gestiegen; der Impuls des Antriebs veränderte die Geschwindigkeit um einen Betrag von 400 Meilen bzw. 643 km/h. Ein kleines Beiseit: viele der Systeme, die beim Artemis-Programm Verwendung finden, sind keineswegs „nietundnagelneue Entwicklungen“: Die vier Raketenmotoren der Bauart RS-25, die das Space Launch System am Dienstag in die Umlaufbahn gebracht haben, haben sämtlich schon zum Antrieb von Space Shuttles gedient; und der Hauptantrieb der Orion-Kapsel ist ein Raketenantrieb des Typs AJ-10 der Firma Aerojet; dieses Modell wird seit 1957 gefertigt und diente während des ersten Mondlandeprogramm vor mehr als einem halben Jahrhundert bereits zum Antrieb des Kapseln und der Versorgungsmodule der Apollo-Missionen.



(5 Sekunden nach dem Abheben)

Allerdings war der Vorlauf zum Start am Dienstagmorgen (oder um 10 Uhr nachts nach der Ortszeit im Florida) nicht ganz so reibungslos verlaufen, wie das beim bisherigen bilderbuchmäßigen Verlauf der Mission der Fall war. Angesichts der Tatsachen, daß bei den bisherigen Betankungs-Probeläufen und den beiden ernsthaften Startversuchen im September immer wieder Probleme mit austretendem Wasserstoff aufgetreten sind, war es eigentlich keine Überraschung, als gut drei Stunden vor der Öffnung des ersten Startfensters um 07:04 MEZ wieder einmal der Countdown anhielt, weil an einer der Zuleitungen für flüssigen Wasserstoff im mobilen Starttisch Wert gemessen wurden, die den zulässigen Höchstwert von 1% überschritten (bei den vorhergehenden „Wet Dress Rehearsals“ betrug der Abbruchwert 4 Prozent; bei der Betankung am Montag wurde der Wert nicht an den freiliegenden Verbindungsstutzen am Sockel der Startstufe festgestellt, sondern innerhalb der geschlossenen Leitungsgehäuse der mobilen Startplattform. Den drei Männern des Noteinsatzkommandos, des „Red Team,“ die von der Einsatzleitung nach einer halben Stunde zur Startrampe geschickt wurden, gelang es in 40 Minuten Arbeit, mit Dichtungsklemmen die gut 8 Zoll (20 Zentimeter) Durchmesser messende Leitung soweit abzudichten, daß der Start nicht gefährdet war. Die Verzögerung des Starts um 43 Minuten erklärt sich aus diesem Zwischenfall: nach dem Auftreten des Lecks ist die Betankung beider Stufen aus Sicherheitsgründen eingestellt worden; und es brauchte nach dem Freigabekommando diese Zeit, um den mittlerweile verdunsteten Anteil zu ersetzen.

Den beiden Technikern des Red Team und ihrem Sicherheitsoffizier, Trent Annis, Billy Cairns und Chad Garrett, gebührt eine dicke Verdienstmedaille für ihren Einsatz, eine zu 90% betankte, fast 100 m hohe Rakete in einem Noteinsatz zu warten, der sich zu diesem Zeit niemand auf mehr als 5 Kilometer nähern darf; auch wenn sie bei ihren ersten Interviews post festum dies als „ganz normalen Routineeinsatz“ bezeichnet haben. Was mir, als eifrigem Chronisten der Raumfahrt, bislang nicht bekannt war, war, daß es bei der Betankung von Apollo 11, wenige Stunden vor dem Start zur ersten Mondlandung, am 16. Juli 1969, zu genau derselben Situation gekommen ist: auch damals wurde an einer Wasserstoffleitung ein Wert an austretendem Gas festgestellt, der bei Nichtbehebung einen Startabbruch nötig gemacht hätte – und wie am Montag trat er nicht in einer Hauptzuleitung auf, sondern in einer Leitung, die den verdunsteteten Treibstoff auffüllen sollte. Der Ingenieur Stephen Coester hat des Problem im Juli 1969 behoben, indem der das undicht gewordene Ventil mit Wasser übergossen hat, daß durch den minus 250 Grad kalten Flüssigwasserstoff sofort betonhart gefror; die Regelung des Zuflusses hat er anschließend „händisch“ durch das Hauptsteuerventil der Wasserstoffzuleitung geregelt.



(Der Startturm von Flammen umhüllt)

Eine bislang noch nicht von der NASA geklärte Frage ist die, ob der Startturm des „Mobile Launcher“ beim Abheben der bislang stärksten je gestarteten Rakete Schaden genommen hat. Gerüchte in dieser Hinsicht machen in den entsprechenden Foren des Weltnetzes die Runde, seit die NASA am Donnerstag untersagt hat, Bilder des Startturms nach dem erfolgten Start zu veröffentlichen. Im Lifefeed der NASA war noch 40 Minuten nach dem Liftoff zu sehen, wie die rund 120 m hohe Stahlkonstruktion von gewaltigen Wasserfontänen gekühlt wurde. Bislang hat sich die NASA zu dieser Frage noch nicht offiziell geäußert; im Lauf der heutigen Nacht ist eine Pressekonferenz angekündigt; auf der Fragen zu dem Thema gestellt werden sollen.



(Absprengen der Feststoffbooster)



(Aufnahme der Erde am 17. 11.; aus 90.000 km Entfernung)

Auf jeden Fall konnte man als Zaungast im Weltnetz heute mittag live verfolgen, wie sich ein „richtiges“ Raumschiff - und nicht nur ein Roboter – dem Erdtrabanten näherte, und wie sich im Rückblick auf die kleine blaue Scheibe unseres Heimatplaneten dem Mondhorizont näherte und schließlich dahinter verschwand - wodurch die Orionkapsel in den Funkschatten des Mondes eintauchte – und nach 18 Minuten wieder auftauchte.













(Flugbahn von Artemis 1 über die Landeplätze der Apollo-Missionen)



(Artemis 1 und die Erde nach dem Auftauchen aus dem Funkschatten)



(Unsere kosmische Heimstatt - aus der Sicht von jenseits des Mondes)



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(Die Rückseite des Mondes, aufgenommen am 21.11. von Artemis 1; Norden ist oben im Bild.)

Henry David Thoreau, heute wohl der einzige aus der Gruppe der New England Transcendentalists oder „Boston Brahmins,“ dessen Werke noch eine weite Leserschaft finden, hat es mit Sicherheit nicht so gemeint, als er 1854 seine Tagebuchnotizen über seinen 22 Monate dauernden„Rückzug in die Wildnis“ von Juli 1945 bis zum September 1847 zu seinem bekanntesten Werk „Walden, or Life in the Woods“ umschrieb, aus dessen Schlußkapitel die eingangs zitierten Sätze stammen. Schon deshalb nicht, weil Thoreau von einem unüberwindlichen Abscheu vor allem neumodischen technologischen Teufelszeug beseelt war, von dem er sich in seiner quietistischen Weltversenkung nachgerade persönlich bedroht fühlte und dem er so keinerlei praktischen Nutzwert abgewinnen konnte. An anderer Stelle in „Walden" heißt es“: „Wir haben große Eile, einen magnetische Telegraphenlinie von Maine nach Texas zu verlegen, aber wahrscheinlich haben sich Texas und Maine nichts Wichtiges mitzuteilen. Wir wollen den Atlantik überbrücken und für die Nachrichten aus der Alten Welt ein paar Wochen einsparen; aber die ersten Neuigkeiten, die das Ohr Amerikas erreichen werden, werden lauten: Kronprinzessin Adelaide hat Keuchhusten!“ (Der Kleine Zyniker sieht die Neuigkeiten der letzten drei Jahre um Kronprinzessin Meghan als Erfüllung dieser Prophetie.)

Aber es liegt eine, ja doch: poetische Gerechtigkeit darin, daß die „direkte Tangente, die von der Erde weg verläuft“ und die nicht über die Westküste und den Pazifik hinüber nach Ostasien verläuft – hier spielt Thoreau auf die „Monroe-Doktrin“ aus dem Jahr 1822 an, die eine strikte Abkehr der USA von den Mißhelligkeiten der Alten Welt proklamierte und stattdessen neben der Landnahme des neuen Kontinents auch die Erschließung des pazifischen Raums und die „Öffnung“ von Japan und China für den westlichen Handel vorsah – eben jene Tangentenbahn ist, die jetzt die Orion-Sonde beschrieben hat – und die nach fünf Tagen zu einem „Earth down“ geführt hat. Was für Thoreau nichts als eine poetische Metapher war, wie sie sich in unterschiedlich surrealistischer Form zu Hunderten in „Walden“ finden, hat hier und heute eine ganz handfeste Umsetzung gefunden.

In der ersten Übersetzung von „Walden“ ins Deutsche durch Emma Emmerich, 1903 im Münchner Verlag Concord erschienen, lautet Thoreaus Passage:

"Ziehe jetzt fort auf jener längsten, westlichen Straße, welche nicht am Mississippi oder am Stillen Ozean ihr Ende findet, und auch nicht nach einem abgebrauchten China oder Japan führt, sondern zu einer direkten Tangente dieser Sphäre, im Sommer oder Winter, bei Tag und Nacht, wenn die Sonne und der Mond und zuletzt auch die Erde untergeht."


Während Wilhelm Robbe, der den Text zwei Jahre später für den Eugen Diederichs erneut übertragen hat, sie so formuliert:

"Brich auf, sofort, auf den längsten Straße gen Westen, die nicht am Mississippi ihr Ende erreicht, die nicht nach dem fadenscheinigen China oder Japan führt, sondern die auf der direkten Tangente dieser Erdkugel verläuft. Dort ziehe deines Wegs Sommer und Winter, Tag und Nacht, beim Untergang der Sonne und des Mondes – ja selbst beim Untergang der Erde.“




(Die Erstausgabe von 1854)

(Kleine historische Fußnote: "Japan" - die vier „schwarzen Schiffe“ unter dem Kommando von Commodore William Parry, die die „Öffnung Japans“ nach mehr als 220 Jahren Abschottung erzwangen, waren am 14. Juli 1853 vor dem Hafen von Uraga, heute Teil der Metropole Yokosuka in der Präfektur Kanagawa, vor Anker gegangen. Nach einem Monat Diplomatie erzwang Parry, daß seine Flotte im Hafen anlegen durfte; der Harris-Vertrag über die Öffnung der japanischen Häfen für westlichen Handel wurde im Juli 1858 unterzeichnet. Die Erstausgabe von "Walden, or Life in the Woods" ist im August 1854 beim Bostoner Verlag Ticknor & Fields erschienen, in einer Auflage von 2000 Exemplaren.)

(Kleine historische Fußnote II: Thoreaus „Rückzug in die Wälder“, um sich ganz der kontemplativen Nabelschau zu widmen und sich im Einklang mit der Natur zu fühlen, wirkt etwas weniger aufopfernd, wenn man sich vor Augen führt, daß der Walden Pond, an dessen Ufer er seine kleine, 3 mal 4,5 m messende Blockhütte gezimmert hat, gute 2,5 Kilometer Fußmarsch vom Wohnhaus Ralph Waldo Emersons entfernt liegt, wo Thoreau bis dahin als Untermieter gewohnt hatte und wo er auch weiterhin mehrmals in der Woche warme Mahlzeiten einnahm. Bei dieser Gelegenheit sei auch daran erinnert, daß Thoreaus flammendes Aufruf zum „zivilen Ungehorsam“ gegen den Staat, den er aus Protest gegen den Krieg des USA gegen Mexiko 1849 verfaßte und der zu einem Gründungsmanifest solch prinzipieller Verweigerung geworden ist, eine wesentlich prosaische Ursache hatte: Thoreau hatte es zwei Jahre lang, von 1847 bis 1849, geschafft, an die Ortsverwaltung im Dorf Concord keine Steuern zu zahlen; die beiden Jahressätze summierten sich auf die Summe von 40 Dollar (zum Vergleich: für das Baumaterial seiner Hütte hatte er 28 Dollar bezahlt; auf heutige Kaufkraft umgerechnet gut 820 Dollar). Nach einem unausweichlich gewordenen Behördengang ließ ihn der Bürgermeister des Dorfs zunächst verhaften, um ihn zur Zahlung zu bewegen; sein Freund Emerson hinterlegte am nächsten Tag die Kaution für ihn. Erst dieses Erlebnis brachte Thoreau auf die Idee, daß er schon immer gegen den Krieg, der von diesen Steuermitteln finanziert wurde, gewesen war. Wie man sieht, hat sich die bei näherem Hinsehen etwas zweifelhafte Motivierung, die Grüne und ihre ideologischen frühen Vorfahren – zu denen man Thoreau unzweifelhaft rechnen darf - antreibt, in den letzten 170 Jahren nicht wesentlich geändert.



(Der Weg von Emerson House zum Walden Pond. Die untere Kantenlänge des Bildes beträgt 500 m.)

U.E.

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