16. November 2022

Eine wirkliche Mondrakete: "Knock on Wood!"





(Artemis 1 am Morgen des 15. November 2022; Photo: John Kraus)

Wenn alles gutgeht … wenn alles nach Plan abläuft … wenn die launischen Bewohner des Olymp ein Einsehen haben … - dann wird in wenigen Stunden tatsächlich, nach all den endlosen Verschiebungen und Zwischenfall, die Mondmission Artemis 1 von der Startrampe 39B in Cape Canaveral abheben – um wie vor mehr als einem halben Jahrhundert ihre Vorläufermission Apollo 4 und Apollo 6 einen Probelauf für die nachfolgenden bemannten Flüge zu absolvieren.

Das Startfenster öffnet sich, je nach der Zeitzone des Betrachters, um kurz nach dem Ende der Geisterstunde in dieser Nacht, um 1 Uhr und 4 Minuten nach Eastern Standard Time (EST) in Florida; oder pünktlich zum Morgenkaffee um 7:04 Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) und bleibt für zwei Stunden geöffnet. Während dieser Zeit muß das SLS, das Space Launch System, die stärkste jemals gefertigte Rakete, die Orion-Kapsel an ihrer Spitze in die niedrige Erdumlaufbahn befördern, um sie gut zwei Stunden nach Beginn des Fluges durch eine weitere Zündung auf den Weg zum Erdtrabanten zu bringen. Die Knallgasreaktionen zwischen gut 530.000 Gallonen flüssigem Wasserstoff und 196.000 flüssigem Sauerstoff sorgen zusammen mit den beiden seitlich montierten Feststoff-Boostern für einen Gesamtschub von 8.8 Millionen Pfund (oder 14,6 Meganewton, MN) – 15 Prozent mehr als bei der Saturn V. - Zum Vergleich: die Startstufe der Falcon Heavy, die vor drei Tagen, ebenfalls von Cape Canaveral aus (allerdings auf der benachbarten Startrampe 40) zwei Kommunikationsatelliten mit einem Gewicht von fast 7 Tonnen in die geostationäre Umlaufbahn gebracht hat, entwickelt mit ihren beiden Feststoffraketen einen Gesamtschub von gut 5,5 Millionen Pfund; und die chinesische Schwerlastrakete vom Typ Langer Marsch 5B, die vor zwei Wochen, am 31. Oktober, das dritte und letzte Modul zur chinesischen Raumstation Tiangong gestartet hat, entwickelt auf Meereshöhe einen Schub von 2,4 Meganewton.

Jetzt, da ich diese Zeilen tippe, läuft die Uhr, die den Countdown bis zum Abheben anzeigt, wieder; drei Stunden lang war sie bei der Zeitmarke 6 Stunden und 40 Minuten planmäßig angehalten worden; eine weitere Pause von einer halben Stunde steht noch an.. Die NASA hat mit dem Vorgang des Betankens der Startstufe mit flüssigem Wasser- und Sauerstoff diesmal dreieinhalb Stunden vor den Fahrplänen der bisherigen Probebetankungen im April und Juni begonnen, um die Probleme mit austretendem Wasserstoff an den Zuleitungen zu minimieren; außerdem darf der Wasserstoffgehalt der Luft in der Nähe der Verbindungsstutzen, die unmittelbar vor dem Abheben die Zuleitungen von der Rakete trennen, kurzfristig den bislang geltenden Richtwert von 4 Prozent überschreiten.



­

Ich muß zugeben: mittlerweile stellt sich beim Gedanken daran, daß es „heute wirklich ernst wird,“ ein leichtes Gefühl der Unwirklichkeit ein. Zu sehr ist diese Mission im Lauf vom Unglück verfolgt worden seit sie Ende März, vor nunmehr 285 Tagen, zum ersten Mal von dem monströsen Raupenschlepper des Crawler-Transporter-2 auf dem 6400 Meter langen Schotterweg vom VAB, dem Vehicle Assembly Building, zur Startrampe gebracht wurde – die erste von nunmehr sieben Fahrten. Die beiden Betankungsversuche Mitte April verliefen nicht zufriedenstellend; und die beiden ersten Startversuche am 29. August und 3. September standen ebenfalls unter einem Unstern; beim ersten Versuch sah es so aus, daß einer der vier Raketenmotoren der Startstufe vom Typ RS-25 nicht durch den daran vorbeigeleiteten Wasserstoff auf die nötige „Betriebstemperatur“ heruntergekühlt wurde - eine solche Kühlung ist wie bei anderen Verbrennungsmotoren notwendig, damit das Metall den hohen Temperaturen standhält. Nach der Auswertung des Meßdaten kam die NASA zu dem Schluß, daß das Problem am Meßsensor lag, nicht an dem Kühlvorgang. Der zweite Startversuch vier Tage später fand noch während der Betankungsvorgangs sein Ende. (Eine kleine technikgeschichtliche Anmerkung: erfunden hat diese Kühlung der Brennkammern der deutsche Ingenieur Rudolf Nebel, der später zusammen mit Wernher von Braun der Hauptkonstrukteur der A4, besser als V-2 bekannt, war, nachdem der Raketenpionier Max Valier Anfang 1930 das erste Opfer der Raketenentwicklung geworden war, als bei einer Probezündung die ungekühlte Brennkammer einer Flüssigkeitsrakete explodierte und ein glühender Metallsplitter ihm die Halsschlagader durchtrennte.)

Ende September sorgte dann der tropische Wirbelsturm Ian für einen Rücktransport in den Schutz des VAB; und drei Tage, nachdem Rakete und Kapsel am 4. November wieder auf der Startrampe standen, braute sich ein weiteres Tiefdruckgebiet weit im Süden der Karibik zum Hurrikan Nicole zusammen; die NASA entschied sich, „auf Risiko“ zu spielen und beließ das SLS in Position. Die Rakete ist auf Orkanböen mit einer Stärke von 74,4 Knoten ausgelegt; als durchschnittliche Windgeschwindigkeit zeigten die Sensoren auf dem Höhepunkt des Sturms 74 Knoten (137 Stundenkilometern) an. Auch ein abergläubische Anwandlungen gefeiter Materialist darf sich an dieser Stelle fragen, ob „der Griff nach den Sternen“ nicht irgendwelche hypothetischen Bewohner höherer Sphären verärgert hat, so wie der Bau des babylonischen Turms vor einigen Jahrtausenden. Nicole brachte auch eine erneute Verschiebung des Starttermins vom Montag, den 14. November, auf den heutigen Mittwoch mit sich.

Ich übergehe an dieser Stelle einmal, daß das gesamte neue Mondlandeprogramm mittlerweile einige Jahre hinter seinem ursprünglich avisierten Zeitplan zurück ist: Vor gut 10 Jahren, in der Anfangsphase, ist der 50. Jahrestag der ersten Mondlandung, 2019, als Richtschnur für eine Neuauflage, ins Auge gefaßt worden – zumindest aber der Erststart der Rakete; mittlerweile sieht es so aus, als ob der bislang noch genannte Termin für die Mission Artemis 3 mit der tatsächlichen Landung auf dem Mond, nicht eingehalten werden könnte – aber wenn es in ein paar Stunden tatsächlich zum Start kommt, ist zumindest der erste wichtige Schritt auf dem Weg dahin zurückgelegt.



Sollte sich die Rakete tatsächlich in einigen Stunden auf ihre 26 Tage dauernde Fahrt machen, dann werden nach dem Abheben folgende Ereignisse stattfinden: nach 210 Sekunden wird die Rettungsrakete an der Spitze des Kapsel abgesprengt; nach 8 Minuten und 4 Sekunden erfolgt der Brennschluß der Startstufe; zwischen der 18 und der 30. Minute erfolgt die Ausfaltung der Sonnenpaneele, die die Kapsel während ihres Fluges mit Energie versorgen, und nach 53 Minuten und 46 Sekunden erfolgt eine weitere Zündung der zweiten Stufe für 22 Sekunden, um die Parameter der niedrigen Erdumlaufbahn so zu verändern, daß bei Minute 93 und 21 Sekunden die Zweitstufe noch einmal für exakt 18 Minuten und 0 Sekunden feuert, um die Kapsel auf den Kurs zum Mond zu bringen. Nach 2 Stunden und 1 Minute erfolgt die Trennung von Zweitstufe und Kapsel, und nach 7 Stunden, 51 Minuten und 21 Sekunden führt die Orionkapsel mit ihrem Bordtriebwerk ihre erste Bahnkorrektur durch. Am 6 Tag erfolgt die größte Annährung an den Mond, bis auf eine Distanz von 97 Kilometern; dessen Schwerkraft wird dazu dienen, die Kapsel in ihre lunare Umlaufbahn zu bringen, die sie bis auf 70.000 hinter den Erdtrabanten bringen wird – den DRO („distant retrograde orbit“), den sie bis sechs Tage vor dem Abschluß der Mission durchlaufen wird. Am 11. Dezember soll die Wasserung der Kapsel im Pazifik, nicht weit von der kalifornischen Küstenmetropole San Diego, erfolgen.

Sollte es heute morgen/heute nicht zu einem Start kommen, so steht für den November als zweiter Termin noch der kommende Samstag, der 19., zur Verfügung, um 01:45 a.m. (EST), beziehungsweise 19:45 MEZ.



(Photo: Matt Haskell)

Nicole hat der Einsatzleitung auch die größte Sorge, den größten Unsicherheitsfaktor, hinterlassen: während der gut 30 Stunden, die die Rakete auf der Startrampe den Orkanböen ausgesetzt war, hat sich ein Stück einer dicken Schutzfolie gelöst, die den Bodenbereich der Versorgungseinheit der Orionkapsel bis zum oberen Teil der Zweitstufe abdichtet: ein gut drei Meter langer und gut 50 Zentimeter breiter Abschnitt hat sich gelöst und ist nach unten geklappt. Die Einsatzleitung hat am Montag nach Begutachtung des Schadens entschlossen, das (geringe) Risiko einzugehen, daß sich dieser Abschnitt während des Starts löst und im ungünstigsten Fall an der Wand der Rakete entlangschrammt. DASS hier NASA für eine solche Eventualität Bedenken hat, ist verständlich – genau solch ein Zwischenfall hat vor fast 20 Jahren, am 1. Februar 2003, zum Verlust des Space Shuttles Columbia geführt. Dort hatte sich beim Start 16 Tage vorher ein Stück der Hartschaumverkleidung des großen Treibstofftanks des Shuttle gelöst und hatte den vorderen Holm einer der Tragflächen des Raumgleiters durchschlagen. Beim Wiedereintritt im 70 Kilometern Höhe führte das dazu, daß die auf mehr als 2500 Grad erhitzte Luft in den ungeschützten Innenbereich des Flügels eindringen konnte, die Leitungen und Steuerelemente zerstörte und so dafür sorgte, daß der Shuttle in ein nicht zu kontrollierendes Trudeln geriet und zerbrach, wobei die sieben Astronauten den Tod fanden. (Eine gewisse Ironie des Schicksals will es, daß die 84.000 Trümmerteile des Shuttles, anhand derer der Hergang der Katastrophe rekonstruiert worden ist, heute im einem abgeriegelten Bereich im 16. Stockwerk des VAB aufbewahrt werden.





***

Immerhin haben die oben erwähnten Terminverschiebungen, ungeplant, dafür gesorgt, daß sich einige terminliche „Echos“ ergeben haben, die das Versäumnis des „goldenen Jubiläums“ wettmachen. Heute vor genau einem halben Jahrhundert, am 15. November 1972, absolvierte Apollo 17 sein „Wet Dress Rehearsal“, also seine Probetankung mit vollständigem Countdown für den Start zur vorerst letzten Mondmission, die am 7. Dezember 1972 startete – allerdings von der benachbarten Startrampe 36A. Und in diesem Jahr jähren sich zum 60. Mal die ersten richtigen“ Raumflug des USA, bei denen nicht nur eine Viertelstunde eine Parabelbahn beschrieben wurde, wie bei dem ersten Flügen von Alan Shepard und Gus Grissom im Jahr zuvor, sondern die Erde mehrere Male umkreist wurde; angefangen mit John Glenn Mission „Friendship 7“ am 20. Februar 1962, Scott Carpenter mit „Aurora 7“ am 24. Mai, und, zeitnah zum Jubiläum, Walter Schirra am 3. Oktober. Schirra war dann 5 Jahre später, im Dezember 1967, der erste Kommandant eines Apollo-Fluges

Es fällt, wie oben erwähnt, fast exakt ein halbes Jahrhundert, nachdem das letzte Mal ein Raumfahrer seine Spuren im Staub unseres kosmischen Begleiters hinterlassen hat. Und es fällt 70 Jahre, nachdem zuerst das Programm einer solchen Unternehmung mit genauen Daten, Bildern und Berechnungen einem breiten Publikum vorgestellt worden war und aus abstrakten Konzepten und überbordenden SF-Phantasien ein handfestes Konzept geworden war.



Die wöchentlich erscheinende Illustrierte „Collier’s Magazine,“ eines der auflagenstärksten Magazine der fünfziger Jahre in den USA, hatte Anfang 1952 damit begonnen, ihren Lesern unter dem Serientitel „Man Will Conquer Space Soon!“ die Entwürfe und Pläne zu präsentieren, die Wernher von Braun, Willy Ley und einige amerikanische und deutsche Ingenieure aus dem Umfeld des ehemaligen „Vereins für Raumschiffahrt“ für die Durchführung eines Satellitenprogramms, und Flüge zu Mond und Mars entwickelt hatten. Diese Konzepte waren ab dem Herbst 1951 bei mehreren Tagungen und Hayden Planetarium im Museum of Natural History in New York präsentiert worden, und Cornelius Ryan, Feuilletonredakteur bei „Collier’s“, hatte den visionären Planern vorgeschlagen, diese Konzepte für eine Magazinveröffentlichung zu überarbeiten und Illustratoren beauftragt, die sie in klare bildliche Darstellungen umsetzen sollten – unter anderem den seinerzeit berühmtesten Gestalten astronomischer Motive, Chesley Bonestell (1888-1986). Vor allem die Explosionszeichnungen von Fred Freeman (1906-1988) vermittelten eine klare Vorstellung, wie man sich als Laie „Raumschiffe“ vorzustellen hatte – nicht in Gestalt von „fliegenden Untertassen“ oder den Behemoths auf den Titelbildern der Science-Fiction-Magazine, die an Ozeanriesen im Weltraum gemahnten, sondern an Technik, die tatsächlich in wenigen Jahren in der Lage sein würde, zum Mond und zum Mars zu fliegen. Die erste Folge dieser Serie erschien am 22. März 1952 in „Collier’s Magazine“ (die Frage „Können wir im Weltraum überleben?“ behandelte der in diesem Zusammenhang später bei uns legendär gewordene Heinz Haber); am 18. Oktober folgte der zweite Teil, „Man on the Moon“, und eine Woche später eine Nachreichung „More About Men on the Moon,“ in der Willy Ley die unter dem Mondgestein vor der harten Sonnenstrahlung geschützte Basis vorstellte, die den Besuchern von der Erde für einen Monat als Heimstatt diesen sollte. Die beiden Mondschiffe, in der Ausführung als Fracht- und Passagiertransporter, sind der Ausgabe vom 18. 10. 1952 entnommen.





***

Was aber empfiehlt sich, um zumindest den in jetzt 4 Stunden anstehenden Starttermin mit „gutem Karma aufzuladen“? Es sei daran erinnert, daß russische Kosmonauten seit Jahrzehnten das Ritual pflegen, die Reifen des Busses, der sie zur Startrampe bringt, vor Flugbeginn "zu wässern." Nun: man klopft auf Holz, oder, auf Englisch gesagt: You knock on wood. Und zwar ganz nach dem Motto, das in der ersten Szene eines nicht ganz unbekannten Films erklingt, der vor fast genau ACHTZIG Jahren, im November 1942, seine Uraufführung hatte – nämlich „Casablanca.“ Während Rick Blaine, nach der Einführung der Erzählstimme, die die Situation erläutert, in Gestalt von Humphrey Bogart „Rick’s Café“ betritt, schwenkt die Kamera durch das Lokal und endet mit einer Totalen auf Dooley Wilson, der am Klavier sitzt und „Knock on Wood!“ anstimmt, während die versammelte Gästeschar (sans Captaine Renault, der erst später eintrifft) als Chor den Refrain aufnimmt:

Say, who's got trouble? (We got trouble)
How much trouble? (Too much trouble)
Well, now don't you frown
Just knuckle down and knock on wood

Who's unlucky? (We're unlucky)
How unlucky? (Too unlucky)
But your luck will change
If you arrange to knock on wood

Die Uraufführung von “Casablanca“ fan am 26. November 1942 im Hollywood Theatre in Manhattan statt. (Der reguläre amerikanische Kinostart erfolgte allerdings erst am 23. Januar 1943.)

Hoffen wir, daß das Klopfen auf Holz auch die „too unlucky“-Pechsträhne von Artemis 1 zum Besseren wenden wird.





U.E.

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.