14. Juni 2022

Москва - второй Билефельд





Daß die staatliche Propaganda totalitärer Systeme in Kriegs- und Krisenzeiten in unschöner Regelmäßigkeit ausgesprochen bizarr anmutende Sumpfblüten hervorbringt, darf nach den Erfahrungen mit solchen Gebilden im Lauf der letzten 100 Jahre als historisches Gesetz gelten – und insofern überrascht es kaum, daß in den russischen Medien im Zusammenhang mit Putins „Спецоперация на Украине,“ der „Spezoperazija na Ukraine“ es in dieser Hinsicht so hoch hergeht wie in den Tagen des georgischen Väterchens. In den vergangenen Wochen habe ich an dieser Stelle ja schon mehrmals über besonders groteske Beispiele dafür berichtet (hier und hier). In der vergangenen Woche ist nun ein weiterer solcher Schnörkel hinzugekommen, als in der laufenden Medienbegleitung zu lesen war, daß die russische Duma einen Antrag beschließen soll, um die 1991 erfolgte Unabhängigkeitserklärung Litauens für ungültig zu erklären und somit zumindest pro forma schon einmal „heim ins Reich“ zu holen, im Zug von Putins erklärtem Ziel des „Einsammelns russischer Erde“ (Cобирал русские земли).

Zwei Reaktionen waren bislang darauf zu verzeichnen: zum einen den Vorschlag des konservativen Abgeordneten Matas Maldeikis, der für die christdemokratische Partei „Vaterlandsbund“ (Tėvynės Sąjunga – Lietuvos krikščionys demokratai) im litauischen Parlament, dem Seimas, sitzt, der vorschlug, für den Fall, daß Präsident Putin einen solchen Beschluß unterzeichnen würde, doch im Gegenzug bitte den „Ewigen Frieden“ von 1634 außer Kraft zu setzen, der ein Ende der fast 30 Jahre lang andauernden Kriegszüge zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen auf der einen Seite und dem Zarenreich auf der anderen Seite beendet hatte, mit der Forderung, daß Herr Putin bitte die Vorherrschaft des polnischen Königs Władysław IV. Wasa (oder seines aktuellen Rechtsnachfolgers) anzuerkennen habe und die damals an Russland gefallenen Gebiete an den Westen zu restituieren habe. Von entsprechenden Forderungen deutscher Politiker nach einer Rückgabe Königbergs ist bislang nichts bekannt geworden.

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(Die Grenzen des Königreichs Polen, mit dem assoziierten Großfürstentum Litauen im Jahr 1635)

Die zweite Reaktion bestand in einem Beschluß des Stadtrats der Stadt Kyiv, der am Wochenende in vielen ukrainischen, aber aus westlichen sozialen Medien zu lesen war. Dieser lautet im Original:

ВУКОНАВЧИЙ ОРГАН КИЇВЬКОЇ МІСЬКОЇ РАДИ
(КИЇВСЬКА МІСЬКА ДЕРЖАВНА АДМІНІСТРАЩЯ)

РОЗПОРЯДЖЕННЯ

07.06.2022 No 367

Про відновлення історичої
справедливості та виправлення
помилок осіб міста Киева

Відповідно до статей 319, 327 Цивільного кодексу України, статті 137 Госопарського кодексу України, частини сьомої статті 53 Закону України "Про місцеве самоврядунняання в Україні“ визнати таким, що вїраїив чинніть Указ Великого князя Київського, правителя Київської Русі Юрія Володимировича Долгорукого "Про заснуваання міста Москва", виданого в 1147 році, як такого, що є історичним непорозумінням.

Голова, В. Кличко

Auf Deutsch:

BESCHLUSS DES STADTRATS VON KYIW
(STAATLICHE VERWALTUNG DER STADT KYIW)

RICHTIGSTELLUNG

07.06.2022 – Nr. 367

Betreff: Zur Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit und Korrektur von früheren Irrtümern der Kyiwer Stadtregierung

In Übereinstimmung mit den Artikeln 319 und 327 der Verfassung der Ukraine sowie Artikel 53, Abschnitt 2 der Verfassung der Ukraine, „Über die lokale Selbstverwaltung in der Ukraine,“ wird hiermit beschlossen, den Erlaß des Großherzogs der Kyiwer Rus‘, Juri Wolodymyrowitsch Dolgoruki, „Über die Gründung der Stadt Moskau“ aus dem Jahr 1147 als historischen Irrtum für null und nichtig zu erklären.

Der Vorsitzende, W. Klitschko.

Hinzuzufügen ist, daß es sich bei dem russischen Vorschlag nicht um die "Duma-als-Ganzes" handelt, sondern um einen Antrag des zurecht als extrem nationalistisch und fanatisch eingeschätzten Abgeordneten Jewgeniy Alexejewitsch Fjodorow, der sich auch in der Vergangenheit mit dergleichen Initiativen hervorgetan hat. Im Mai 2014 "prophezeite" er, daß die USA und die EU "in wenigen Jahren" eine "Farbrevolution" in Moskau anzetteln würden, um danach durch die zwangsweise Einführung einer "LGBTQ+"-Ideologie und die Sterilisierung von russischen Kindern das russische Volk zu vernichten ("so haben sie es mit den amerikanischen Ureinwohnern gehalten, und mit den Schwarzen während der Zeiet der Rassentrennung"). Im August desselben Jahres wollte er dem russischen Rockmusiker Andrej Makarewitsch, der ein Konzert im Donbass gegeben hatte, die Bürgerrechte entziehen lassen, weil "Rockmusik US-amerikanische Sabotage der russischen Kultur" darstellt. Schon im Juni 2015 behauptete er, die Unabhängigkeitserklärungen der drei baltischen Staaten sei 1991 illegal erfolgt und versprach, parlamentarische Schritte zur ihrer Annulierung in die Wege leiten zu wollen. Und im Vorfeld der "Spezialoperation," im Januar 2022, empfahl er der russischen Regierung, zu Beginn des anstehenden Konflikts doch bitte eine Atombombe auf das Nukleartestgelände in Nevada abzuwerfen, um den Westen in Schockstarre zu versetzen und an einem Eingreifen auf ukrainischer Seite zu hindern. Es ist kaum zu befürchten, daß seinem jetzigen Vorschlag mehr Erfolg zuteil werden wird.

Der Kleine Pedant, der mir beim Schreiben stets über die Schulter schaut, kann es natürlich nicht lassen, anzumerken, daß es bei diesem „Internet Hoax“ einige Makulaturen gibt, die diesen kleinen Scherz ein wenig stumpfer leuchten lassen. Zum einen handelt es sich um eine wortgleiche Wiederaufnahme dieser „Meldung,“ die bereits von 6 Jahren, im Sommer 2016, im Weltnetz – zumindest seinem ukrainischen Teil – zirkulierte. Und schon ein beiläufiger Blick auf die russische Geschichte stellt klar, daß es solch einen „Erlaß zur Gründung der Stadt Moskau“ nie gegeben hat. Die Jahreszahl bezeichnet nur das Jahr, in dem zum ersten Mal der Ortsname „Moskow“ in einer Chronik verzeichnet worden ist. Die Hypatiuschronik (Ипатьевская летопись) aus dem 15. Jahrhundert, die eine Kompilation früherer Klosterchroniken darstellt, verzeichnet für dieses Jahr, daß der Großfürst Swiatoslaw Olgowitsch, Prinz von Nowgorod (1106-1164) seinen Amtskollegen aus Kiew, eben den oben erwähnten Juri Dolgoruki (1090-1157), den ersten Herrscher der Kyiwer Rus‘ aus dem Geschlecht der Rurikiden, zu einem Zusammentreffen an diesen Ort eingeladen habe: „Komm zu mir, Bruder, nach Moskau“ (Приди ко мне, брате, в Москов). Die nächste Erwähnung, in der „Chronik von Twer“ (Тверская летопись), einer weiteren Zusammenstellung früherer Chroniken aus dem 16. Jahrhundert, deren Zuverlässigkeit in Teilen unter Historikern allerdings umstritten ist, und die die russische fragmentarisch Geschichte für die Jahre von 6384 bis 6852 umreißt (der Chronist zählt nach byzantinischem Vorbild seit der Schöpfung der Welt), nennt das Jahr 1156 als Datum eines Erlasses von Juri Dolguruki, an diesem Ort eine hölzerne Befestigung zu errichten, aus dem im Lauf der folgenden Jahrhunderte dann der Moskauer Kreml entstanden sein soll.



(Derselbe Ukas mit der Jahreszahl "2016")

Schade eigentlich. Den Kleinen Zyniker (der mir beim Schreiben stets über die andere Schulter blickt) hätte es amüsiert, wenn zumindest symbolisch eine solche kleine kosmetische Korrektur im Ablauf der Geschichte hätte vorgenommen werden können. Mein Titel, „Moskau, das zweite Bielefeld,“ spielt natürlich auf die Wendung von „Moskau, dem dritten Rom“ (Москва - третий Рим) an, die im frühen 16. Jahrhundert vom Staretz des Pskower Eleazarklosters, Filofei, nach der Eroberung von Byzanz geprägt worden ist; die Standardformulierung lautet: „первые два Рима погибли, третий не погибнет, а четвертому не быват“ ("Zwei Rome sind gefallen, das dritte wird nicht untergehen, und ein viertes wird es nicht geben") – das „Zweite Rom“ war natürlich Konstantinopel, aus orthodoxer Sicht nach der Kirchenspaltung von 1054 das geistige Zentrum der Christenheit.



Seis drum. Dem Kleinen Zyniker fallen bei Gelegenheit der Wendung Москвы не бывает („Moskau gibt es nicht“ – ironischerweise trägt eine russische Filmkomödie aus dem Jahr 2021 unter der Regie von Dmitri Fjodorow exakt diesen Titel!) die Verse ein, die der russische Exildichter Georgi Wladimoriwitsch Iwanow, 1894 in Gouverment Kowno – im heutigen Litauen! – geboren und 1958 in Hyères an der Côte d’Aur gestorben, 1937 in seinem in Paris beim Verlag Petropolis/Петрополис verlegten Gedichtband „Отплытие на остров Цитеру“ („Einschiffung nach Kythera“) veröffentlicht hat:

Россия счастие

Россия счастие. Россия свет.
А, может быть, России вовсе нет.

И над Невой закат не догорал,
И Пушкин на снегу не умирал,

И нет ни Петербурга, ни Кремля —
Одни снега, снега, поля, поля…

Снега, снега, снега… А ночь долга,
И не растают никогда снега.

Снега, Снега, снега… А ночь темна,
И никогда не кончится она.

Россия тишина. Россия прах.
А, может быть, Россия — только страх.

Веревка, пуля, ледяная тьма
И музыка, сводящая с ума.

Веревка, пуля, каторжный рассвет
Над тем, чему названья в мире нет.

Russisches Glück

Russland ist Glück. Russland ist Licht.
Vielleicht aber ... gibt es Russland gar nicht.

Kein Sonnenuntergang hat je die Newa gerötet.
Und Puschkin lag niemals im Schnee, getötet.

Sankt Petersburg, den Kreml hat es nie gegeben.
Nur endlose Felder, voll Schnee, ohne Leben.

Nur Schnee, nur Schnee - und die endlose Nacht
Und nie wird der Schnee zum Schmelzen gebracht.

Schnee, Schnee, Schnee - im ewigen Dunkel begraben
Und diese Nacht wird niemals ein Ende haben.

Russland ist Asche. Russland ist Schweigen.
Vielleicht kann sich von Russland nur Todesangst zeigen.

Der Strick. Die Kugel. Nur eisige Finsternis bleibt
Und verrückte Musik, die in den Wahnsinn treibt.

Ein Lagermorgen dämmert über dem Land
Für das die Welt nie einen Namen fand.

(Nachdichtung: U.E.)





U.E.

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