12. April 2022

Ein Rücktritt





Heute also, am Tag 124 des Kabinetts von Bundeskanzler Scholz ist die „Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,“ Anne Spiegel (Die Grünen) (um den Usus unserer Hauptstrommedien zu übernehmen, für die die Parteizugehörigkeit ein Teil des Namens ist, so wie ein akademischer Titel) von ihrem Amt zurückgetreten. Oder vielmehr: zurückgetreten worden. Zu desaströs war wohl, selbst für ihre Führungsspitze ihrer eigenen Partei, das Versagen, die Verantwortungslosigkeit, die Uneinsichtigkeit in den politischen Komment – und vor allem der bizarre mediale Auftritt, mit dem sie am Abend zuvor versucht hatte, ihr Verhalten nach der Flutkatastrophe im vergangenen Juli zu rechtfertigen, indem sie familiäre Schwierigkeiten ins Feld führte. Von eigener Einsicht darf man in Frau Spiegels Fall wohl nicht ausgehen – hier wäre ein Rücktritt vom Amt schon vor Wochen fällig geworden, als bekannt wurde, daß sie im Untersuchungssausschuß falsche Angaben zu ihrer Präsenz in den Wochen danach gemacht hatte und statt sich um die Organisation der Bewältigung der Folgen vor Ort zu kümmern, erst einmal vier Wochen Urlaub mit ihrer Familie in Frankreich gemacht hatte.

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Es gehört – oder es gehörte, zu den Zeiten der alten „Bonner Bunzrepublik“ – auch zum medialen Komment, mit einem solchen Amtsverzicht die Causa, die dazu Anlaß gegeben hatte, fürs erste für erledigt zu betrachten und sie nur, wenn es auch von Seiten der Politik zu einer juristischen Aufarbeitung kam, wieder in den Fokus zu heben. So war es mit den „großen Bonner Skandalen“ von Franz Josef Strauß‘ Eklat als Verteidigungsminister (die „Starfighter-Affäre“) bis zu Jörgen Möllemanns „Briefbogen-“ und „Einkaufswagen“-Äffäre. Vom Sachstand bleibt an dieser Stelle nichts Neues hinzuzufügen, was nicht seit Wochen in der medialen Berichterstattung vorkam.

Deshalb möchte ich nur auf zwei Aspekte hinweisen, die über diesen akuten Eintrag in der Chronique scandaleuse der Berliner Republik hinausweisen. Zum einen: Im Rückblick fällt es frappierend auf, wie sehr der Amtsverlust, die Demission, die Aufgabe des politischen Mandats in den letzten 10 Jahren „aus der Mode“ gekommen ist. Im Provisorium der erwähnten Bonner Republik dürfte es schwerfallen, einen längeren Zeitraum zu nennen, an dem es nicht regelmäßig zu solchen Affären kam, sei es auf Landes- sei es auf Bundesebene. Nicht alles endete so spektakulär wie die „Ehrenwort“-Affäre Uwe Barschels im Schweizer Hotel Beau-Rivage im September 1987. Aber dergleichen war Teil des politischen Alltags, zumal die „Leitmedien“ jener Jahrzehnte zwischen 1950 und sagen wir dem Jahr 2000 ihre vornehmste Aufgabe darin sahen, die Politik und ihre Akteure unter Druck zu setzen, zu kritisieren und sich nicht als Sprachrohr der jeweiligen Regierungen zu gerieren, denen es höchstens mit dem progressiv-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft und ihrer Lebensgrundlagen nicht schnell und radikal genug voranging. Manche Ressorts galten geradezu sprichwörtlich als „Schleudersitz“ – so das Verteidigungsministerium und das Verkehrsministerium.

In der Berliner Republik der letzten 20 Jahre muß man schon ein ganzes Jahrzehnt zurückgehen, um auf Ähnliches zu stoßen. Sieht man einmal von Rainer Brüderles „Dirndlgate“ ab, das ihn im September 2013 den Fraktionsvorsitz der Freien Demokraten kostete, sind als letzte Beispiele die Affäre die Plagiate in der Dissertation von Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg zu nennen, nachdem ihm Frau Merkel im März 2011 ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen hatte; und die Ablösung von Bundespräsident Christian Wulff ein Jahr später, der den unentschuldbaren Fauxpas begangen hatte, einem Reporter angelegentlich einer Repräsentationstermins im Ausland ins Mikrophon zu erklären, selbstverständlich sei es für den Staatschef Deutschlands legitim, deutsche Interessen zu vertreten. Seither führen das jahrelange Ruinieren der Armee zum „höchsten Staatsamt der EU“ (so wie Frau von der Leyen dies offenbar sieht, auch wenn sie protokollarisch als Kommissionspräsidentin dem Ratspräsidenten nachgeordnet ist); unverfrorene Plagiate ins Außenamt dieses Staates – und das Versagen angesichts einer Naturkatastrophe mit mehr als 130 Toten zur Berufung in die nächste Bundesregierung. Vor allem fällt in der Rückschau auf, wie nichtig die Anlässe anmuten, die im Bonner Atlantis zum Amtsverlust führten – die nennenswerte Aufnahme, die die Regel bestätigte, war die „Lockheed-Äffäre“ um den Starfighter, bei dem der US-amerikanische Flugzeugbauer den Ankauf von mehr als 900 Maschinen der Baureihe F-104 durch eine diskrete Überreichung von 10 Millionen D-Mark sicherstellte. (Ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik hat es der Umstand, daß die Firma solches Entgegenkommen auch in den Niederlanden, Italien und Japan an den Tag gelegt hatte, nicht geschafft, auch nicht das Detail, daß erst die Überladung der Maschinen mit zusätzlicher Bewaffnung und Bordraketen dazu führte, daß von den angeschafften 916 Exemplaren ein Drittel abstürzten. Ein gängiger politischer Witz der sechziger Jahre lautete: „Wie kann man in Deutschland als Privatmann Besitzer eines Düsenjägers werden? Man kauft sich ein Grundstück. Und wartet.“)

Nun kommt dieser Rücktritt nicht allein. Auf dem gleichen Grund hat vor vier Tagen, am 7. April 2022 Ursula Heinen-Esser auf ihr Amt als Ministerin für (*holt tief Luft*) „Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen“ aufgegeben – auch sie hat vor dem Untersuchungsausschuß falsche Aussagen über ihre Tätigkeit in den Wochen nach der Flut gemacht. Auch hier ging die Familie vor statt des sichtbaren Einsatzes vor Ort und für die Betroffenen. Aber Landespolitik spielt, auch dies Bonner Tradition, im Zodiakus der politmedialen Geschäftigkeit hinter der Bundespolitik eine eminent nachgeordnete Rolle. Aber es leitet zu dem zweiten Aspekt über, der sich hier in greller Beleuchtung zeigt: Wir haben es bei unserem politischen „Spitzenpersonal“ offenkundig mit Leuten zu tun, denen jedwedes Gespür für ihre Aufgabe, für die politische Verantwortung ihres Amtes abhanden gekommen ist. Ein Minister, zumal auf der Ebene des Bundes, steht eben als oberster Chef seiner Behörde für dessen gesamten Erfolg – oder Versagen - ein; selbst wenn er (oder sie) persönlich davon nicht betroffen ist. Das war der Grund, warum Bundeskanzler Willy Brandt nach dem Bekanntwerden der „Giullaume-Äffäre“ im Sommer 1974 sein Amt niedergelegt hat. Solche Politiker sind, um das alte und überkommene Verständnis zu beschwören, Diener dieses Staatswesens, Garanten seiner Behörden und Institutionen. Stattdessen sehen wir seit Jahren, wie sich ein Selbstbild dieser Classe Politique durchsetzt, in dem solche Ämter als Posten verstanden werden, die Wasserträgern und Steigbügelhaltern für treue Dienste zustehen. Ja mehr noch: die ihnen deshalb und nur aus diesem Grund zustehen, weil sie ein Segment repräsentieren, das per Quote darauf Anrecht hat, „repräsentiert“ zu sein: sei es durch die Herkunft (der vielbeschworene „Hintergrund“), sei es durch die eigene Geschlechteridentität („Frauenquote“ genannt) oder sei als Vertreter etwa einer sexuellen Orientierung, die nicht als Akzidenz hingenommen und akzeptiert wird, sondern ausdrücklich als Grund für eine Förderung und Berücksichtigung bei der Vergabe solcher Posten. Und zwar unter Absehung von jeglicher Eignung, jeglicher Qualifikation für das jeweilige Amt.

Frau Spiegel sticht als typische Vertreterin dieser „politischen Nachwuchsriege“ ins Auge. Ihr einziger Kontakt mit der „Lebenswirklichkeit“ (durchaus auch im Sinne von Unternehmertum und „wertschöpfender Tätigkeit“), also jenseits der Trias Kreißsaal - Hörsaal – Plenarsaal, beschränkt sich nach den Angaben ihres Eintrags in der Wikipedia darauf, nach dem Studium „ein gutes Jahr mit dem Rucksack durch die Welt gezogen zu sein“ und drei Semester als Hilfslehrerin an der Berlitz-Sprachschule verbracht zu haben. Daß sie die Grundlagen für ihre politische Karriere als Sprecherin und Mitglied des Bundesverbands der Grünen Jugend verdankt, jedem Verein, der sich seit Jahren nur durch die Propagierung der absurdesten öko-utopischen Forderungen auszeichnet, fügt sich nahtlos in das unschöne Bild. Der kleine Zyniker, die an dieser Stelle ja stets mitschreibt, wirft an dieser Stelle ein, daß ihr Rücktritt auch aus der Binnensicht des „buntgeschmückten Narrenschiffs Utopia“ (Franz-Josef Strauß) nur folgerichtig ist. In ihrem gestrigen grotesken Medienauftritt, mit wirren Haaren und fahrig-unkonzentiertem Gestammel, führte sie ihre hochgradig belastete familiäre Situation als Grund für ihr persönliches Versagen in der Katastrophe an. Abgesehen davon, daß dergleichen (historisch gesehen) zwar ein Grund, aber niemals eine Entschuldigung für ein solches Versagen darstellt, hat sie, augenscheinlich unbeleckt von jeder Selbsteinsicht, folgendes vor einem Millionenpublikum ausgebreitet: daß ihr Mann nach einem Schlaganfall im Januar 2019 schwer gefährdet ist und von jeglicher Aufregung abgeschirmt werden muß; daß ihre vier Kinder durch die COVID-Pandemie seit März 2020 in großem Maß belastet sind. An solchen Tatsachen ist nichts Ehrenrühriges; Millionen von Menschen müssen mit solchen Gefährdungen und Sorgen ihr tägliches Leben fristen. Aber Frau Spiegel nimmt dies zum Anlaß, sich für ein Ministeramt in einer Landesregierung zu bewerben, und nimmt ihr Versagen in der Krise wiederum zum Anlaß, ein Ministeramt auf Bundesebene anzunehmen. Nicht einmal der schlichte politische Selbsterhaltungstrieb hat sie dazu veranlaßt, den eigenen Terminkalender so zu führen, wie man es von jedem kleinen Beamten erwarten würde, der damit rechnen muß, sich bei einer routinemäßigen Buchprüfung für seine Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Daß sie an den Sitzungen des Landestages zur Krisenbewältigung im Juli und August 2021 – vor nicht einmal 9 Monaten also – gar nicht per Telekonferenz teilgenommen hat, sondern ihre Abwesenheit erst gestern aus den Protokollen der Sitzungen erfahren haben will: davor verschlägt es allerdings auch dem Kleinen Zyniker die Sprache. Wer dermaßen mit der Organisation der eigenen Angelegenheiten überfordert ist (oder glaubt, mit solchen Lügen durchzukommen), der ist zurecht sogar nach den lädierten Maßstäben der Berliner Republik untragbar geworden. Von daher hält sich das Bedauern in Grenzen, daß Frau S. sich ab morgen an 24 Stunden am Tag dem Wohl ihrer Familie widmen darf.



(Photostrecke im "Magazin" der "Süddeutschen Zeitung," erschienen am 15. März 2022, dem ersten Tag der Befragung von Frau Spiegel vor dem parlamentarischen Untersucuhungsausschuß zur Flutkatastrophe)

U.E.

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