Es gibt Tage, an denen man aufwacht und bei der ersten Kenntnisnahme der internationalen Nachrichtenlage bestürzt feststellen muß, daß die Welt eine neue ist. Daß sich die Gewißheiten, die Konstellation der Weltpolitik, ihre Ziele und Ausrichtungen nicht mehr die sind, die sie am Vortag und während der Jahre und Jahrzehnte zuvor waren. Der 1. September 1939 war solch ein Tag, auch der 11. November 1989 und der 11. September 2001. Zwar ändert sich „im Inneren“ für viele Staaten, die nicht direkt von den Ereignissen betroffen sind, wenig – und doch markieren diese Daten eine weltgeschichtliche Zäsur. Seit der vergangenen Woche darf der 24. Februar 2022 als ein weiteres Datum dieser Art gelten.
Ich bin vor zwei Tagen im Diskussionsforum zu diesem Netztagebuch, dem „Kleinen Zimmer,“ in Hinblick auf meinen letzten, frivol gehaltenen Beitrag „Wippchen’s ukrainischer Krieg“ gemahnt worden: „Ich finde dieser Beitrag in Zettels Raum ist nicht gut gealtert.“ Das ist noch äußerst wohlwollend formuliert. Mit der Entwicklung, die wir seit fünf Tagen sehen, mit der skrupellosen militärischen Gewalt, der Invasion der Ukraine wirkt mein Beitrag nicht nur völlig irrig, sondern nachgerade obszön. Ich kann mich nur dafür entschuldigen. Und darauf hinweisen, daß ich nicht der einzige Beobachter gewesen bin, der diesem Irrtum erlegen ist. Ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, daß Putin mit der militärischen Drohkulisse ernst machen würde, daß er dies nicht als Druckmittel einsetzen würde, um von der internationalen Gemeinschaft eine Hinnahme der von ihm anerkannten „Unabhängigkeit“ der Regionen Luhansk und Donezk zu erpressen. Im „worst case scenario,“ im schlimmsten denkbaren Fall, hatte ich mit dem Aufbau einer russischen Truppenpräsenz in diesen beiden Grenzregionen zu Russland gerechnet, um in der Folge über ein Referendum nach dem Muster der Krim-Annektion von 2014 eine „formelle Legitimation“ für die Aufnahme in die russische Förderation zu erhalten.