9. Mai 2021

"Vom Verschwinden des Malers im Bild": Victor Segalen, "Peintures" (1916)





Tout ce que vous venez de voir, existe, si vous l’avez bien su voir. Mais ne faites point comme cet Empereur peu lettré du temps de SONG, à qui le Peintre vantait cette Peinture et les autres déjà déroulées, et qui se prit à soupirer lourdement.

Devant ces Palais dans les nues, devant ces abîmes accessibles, ces faces hantées, ces palpitations éclatantes, ces supplices pieux, ces lèvres rouges et ces flammes amantes, ces paysages écarquillés mieux que des visages, ces êtres démoniaques ou gesticulants, ces vies incarnées dans la soie, la porcelaine, les laques ou les laines ; le triomphe réglé des quatre saisons dans le ciel, — l’Empereur se prit à soupirer lourdement. Il déplorait que tout cela ne fût pas de son domaine, de sa maison.

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Ayant surpris le désir grossier, le Peintre, sans sourire, frappa trois fois de ses mains. Et voilà qu’une porte dans la Peinture, là, — au bas de ce mur, — voici qu’une petite porte s’ouvre là: regardez bien tout au fond : un chemin s’ouvre tout au fond.

Le Peintre dit, avec politesse : « Qu’on me permette de passer devant. »

Et il passe, franchit la porte, s’engage sur le chemin, s’enfonce et monte comme le vent d’une chute inversée…

Il devient petit ; puis : un point. Il devient esprit et disparaît.

L’Empereur aussitôt veut le suivre et franchir de même la porte… fermée, effacée. Toute la Peinture et les autres déjà déroulées ont disparu. Le mur est de nouveau gris, taché de gris, fait de briques et de gravats.

Le Peintre seul et ceux qui savent voir ont accès dans l’espace magique.

- Victor Segalen, "Ronde des immortels," Peintures (1916)

* * *

Deshalb lade ich euch ein, nur noch zu schauen. Ich möchte, daß ihr alles um euch herum vergeßt, daß ihr an nichts anderes mehr denkt, nichts vermißt.

... Ich verstehe: die Betrachtung allein genügt euch nicht. Euch verlangt auch nach Abenteuern, nach Erleben, nach Freude! Keine Angst: der Zustand, den ich euch empfehle, besteht nicht aus regungsloser Glückseligkeit; ihr werdet erleben, daß hier vieles geschieht - manches, das nicht wirklich ist, aber die Phantasie beflügelt; anderes, deren Weg weit zurückverfolgt wird - und das durch vier Jahrtausende chinesischer Aufzeichnungen bezeugt ist. Wenn ihr so etwas im Vorwort eines Buches lesen würdet (eines Buches mit Seiten, die man umblättert, voller Sätze, die man übergeht, wenn sie einen langweilen): hättet ihr dann nicht den Eindruck, daß euch ein tolles Abenteuer bevorsteht und wäret ihr nicht schon dem Verfasser gewogen, auch wenn es sich noch bedeckt hält? Laßt euch von diesem hier überraschen: dies ist kein Buch, sondern eine Feststellung, ein Aufruf, eine Beschwörung, ein Schauspiel. Dann versteht ihr bald, worin dieses Sehen besteht: darin, an jeder Bewegung des Malers beim Malen teilzunehmen, sich in dem gemalten Raum zu bewegen, an allen gemalten Taten teilzunehmen. Manche davon werden euch vornehm erscheinen (in jenem Sinn, den sogar die Verbecher und das gemeine Volk respektieren). Andere gelten in den Augen derer, die sich für wohlanständig halten, als abscheulich. Da ihr mir bis jetzt zugehört habt, bleibt euch keine andere Wahl, als mir zu folgen; ihr dürft nur so weit zurückbleiben, daß ihr das Schauspiel in Gänze erkennen könnt. Ihr seid jetzt meine Gefährten, meine Mitverschworenen geworden. Von nun an seit ihr soweit, sehen zu können. Schaut gut her: ich entrolle das erste Bild, das erste Magische Gemälde.

* * *

Und schon finden wir uns in die Wolken geschleudert, hoch in den Himmel. Dächer, die in Krallen enden, werfen Paläste in die Wolken. Felswände erheben sich über den Dächern, über den Firsten, berühren die Balken, an denen alle Bilder hängen, sinken hinab bis zu den Bergen des Erde, den Tiefen der Täler, in denen die Menschen leben. Aber zwischen Himmel und Erde erstreckt sich eine Terrasse im Form eines Trapezes, als Ufer, als Landeplatz im Unwirklichen.

Denn im ganzen Geviert des Raumes seht ihr nichts als einen Schwarm unzähliger weißer, magischer Vögel. Das sind wohlbefiederte Pfeile, mit scharfen Schnäbeln, mit roten, schmalen Füßen; sie sind Reittiere: auf jedem von ihnen reitet ein alter Mann mit hoher Stirn, mit rosigen Backen über einem weißen Bart, mit Gewändern, die im Wind flattern, und jeder Alte und sein Reittier sind eins: er, dessen Flügel ihn fliegen lassen, und es, das durch seine Gedanken gelenkt wird. Sie ziehen von Wolkeninsel zu Wolkeninsel, nähern sich der weißen Terrasse und lassen sich dort nieder. Und jetzt sieht man auch die Säulen, die die Terrasse tragen.

Und unten, weit in der Tiefe, erkennt ihr das Meer, dessen Tosen durch diese dünnen Wellen dargestellt ist. Der Blick von hier unten, von der Erde aus, erzeugt Schwindel. Richtet sich der Blick nicht in ganz nach oben? Ja, mitten in den Himmel! Was hier gemalt ist, ist nicht für die Sterblichen bestimmt, mit ihren Gebeten und Fürbitten.. Dies sind die Gefilde der Unsterblichen, die die menschliche Puppenhülle abgeworfen haben. Ein Gemälde des Himmels. Daß ihr euch so leicht mit euren Blicken darin bewegen könnt, verdankt ihr der Magie des Malers, die euch diese Gipfel zeigt. Hier reitet man auf den himmlischen Gänsen, und bereist nur die Wege der Luft. Sucht nicht nach ihren Spuren. Hier gibt es keinen Abschied, nur eine unbeschwerte Ankunft. Nichts Sterbliches! Verklärte Geister! Ein fragiles, unsterbliches Leben. Von diesen Wesen, die mit Greisen nur den Bart und die gewölbte rosige Stirn gemein haben, gibt es tausend und noch mehr.

* * *

Ob diese Szene nun von Dauer ist oder nicht, ob diese Terrasse (ihr seht sie, trapezförmig und weiß, von ihren Säulen getragen) nun aus Alabaster besteht oder aus Jade, oder auf Worten gemeißelt oder aus dem Stoff, aus dem die Träume sind ... findet ihr das wichtig? Macht das einen großen Unterschied? Die Geister wehen und herrschen, wo es ihnen beliebt. Dies ist das Gemälde der Geister, der Genien, der Unsterblichen. Alles, was hier gemalt ist, ist nur sichtbar, weil es gesehen werden will. Nur deshalb erscheint es. Aber eins ist gewiß: jeder Windhauch kann es verschwinden lassen. Nun wird uns klar, wofür diese Alten stehen: sie verherrlichen das Fortbestehen. Sie sind die alten Söhne des Herrschers der Zeit.

Und mit dem Alter, das wißt ihr ja, wächst jede Seele, und hält sich für größer und überschätzt sich selbst. Die Seele einer alten Glocke schaut auf den Baumsprößling herab; die Seele eines alten Baums überstrahlt die verdorrten Äste; die Seelen der alten Tiere sind fast so wunderlich wie die eines Weisen. Die Seele eines alten Mannes, der es vermocht hat, viele Jahre anzuhäufen - so wie andere Kupfermünzen horten - durchschaut die Seelen und die Menschen, erhebt sich und schwebt hier in der wogenden Runde. Wir sollten die wirkliche, die magische Kraft erkennen, die in einem langen Leben liegt.

Und wundert euch nicht über diese vorgeschriebenen Merkmale: der geblähte Hals unter dem Kinn, die prallen Bäuche. Ungter den Zeremoniengewändern sind sie kaum zu sehen. Wozu brauchen sie junge Muskeln? Diese Alten mögen gebückt und einäugig sein: ihr Weg führt durch die Luft: Flügelwagen, das Klatschen der Flaggen im Wind, wo geht es dahin durch das tiefe Blau. Alles fließt, wie ein atmendes Gefäß; alles bewegt sich: der Herzschlag des Himmels!

* * *

Seht noch einmal hin. Nach einiger Zeit möchte man nicht länger hinsehen, möchte sich die Augen reiben (die ein magischer Nebel trübt). Jede dieser Figuren, selbst wenn sie zehntausend Fuß weit im Raum entfernt ist, ist fest umrissen, vollendet. Aber die Unruhe entsteht genau deshalb, wie ihr jetzt erkennt: daß sich alles hier in der größten Gleichgültigkeit und Gelassenheit bewegt und regt. Jeder Unsterbliche schwebt hierhin oder dorthin, ganz nach Belieben. Die Terrasse könnte davonschweben, die Felsen könnten sich auflösen. alles kann sich in sein Gegenteil verwandeln, und nichts würde sich ändern. Diese Unsterblichen könnten zu Kindern werden, und aus dem Neugebornen wieder Unsterbliche werden. Alles ist eins. Zwei ist nicht zwei. Alles tanzt; alles funkelt; alles ist bereit, sich zu drehen (wie der große Wind des Universums). Alles findet so Ausdruck im Geist.

Und denkt daran: dieses Bild, das dem Pinsel eines Malers der Tang-Zeit entsprungen ist, ist selbst schon Geist, dadurch, daß es existiert.

Genug geschaut. Entrollen wir das zweite Bild...

(Ah! Ich habe vergessen, die letzten Schriftzeichen vorzulesen, die das erste der Magischen Gemälde erläutern. Ist das überhaupt nötig?) Sie lauten:

REIGEN DER UNSTERBLICHEN.

* * *

... Was ihr soeben gesehen habt, ist das erste

NEUNMONDFEST DES WINTERS.

Und was ihr gleich sehen werdet, ist das unwiderruflich letzte der Magischen Gemälde.

Und ihr werdet selbst zugeben müssen, daß man sich danach, nach dieser Abfolge, kein weiteres vorstellen könnte - selbst auf den Befehl des Kaisers.

Zunächst ist nichts zu sehen als eine große Mauer von unbestimmter Farbe, aus Ziegeln und Schutt errichtet - mit Flecken, mit feuchten Stellen und Frostschäden, mit schwarzen oder schneeweißen Flechten: einer hat die Form eines Palastdaches (zeichnet den Bogen in der grauen Luft nach), jener da sieht aus die das Nachbild eines Flügels; dieser dort sieht aus wie eine überkragende Felswand, und jener, genau in der Bildmitte, flach wie eine gespreizte Handfläche, von Säulen getragen, mit eingebogenen Fingern, als ob sie eine Opfergabe in Empfang nehmen wollten: das ist die trapezförmige Terrasse, die ihr schon gesehen habt, die ihr schon kennt...

Und die Luft darüber ist erfüllt vom Flattern der riesigen weißen Vögel: gefiederte Pfeile, mit scharfen Schnäbeln und dünnen, roten Füßen; jeder trägt seinen Alten mit der großen, runden Stirn, den rosigen Backen und den Augen, aus denen die Magie blitzt, und dem Bart und dem Gewand, die im Wind wehen.

Und tief unten, im schwindelerregenden Abgrund, das Meer (falls es dort jemand gäbe, der erschrecken und stürzen könnte). Aber hier oben bewegen sich nur die Unsterblichen, die es gewohnt sind, durch die Luft zu reisen. Und dieser magische Ort, diese Mauer: das ist nichts anderes - ihr habt es wiedererkannt - als das erste der Magischen Gemälde, es ist wieder der

REIGEN DER UNSTERBLICHEN.

Strich für Strich, und benahe Wort für Wort. Das Ende ist im Anfang enthalten, die größte Zahl ist in der ersten enthalten und die letzte wiederum im Unendlichen. Eins ist eins. Sogar zwei ist eins, wenn ihr es wollt. Nichts von dem, was ihr Tag für Tag berührt, hat Bestand. Alles, was ihr hier gesehen habt, habt ihr nur erblickt, weil ihr euch auf das richtige Sehen verstanden habt. Aber haltet es nicht so wie jener ahnungslose Kaiser der Song-Zeit, dem der Maler dieses und die bisher entrollten Gemälde beschriebt und der laut zu seufzen anfing.

Angesichts dieser Palästen, die in den Wolken schwebten, angesichts dieser unwegsamen Abgründe, dieser geisterhaften Gesichter, dieser Aufwallungen, dieser frommen Qualen, der roten Lippen und flammenden Leidenschaften, dieser Landschaften wie Gesichtern mit aufgerissenen Augen, des Gesten der dämonischen Wesen, der in Seide, Porzelann, Lack und Stoff dargestellten Leben, angesichts des Verstreichens der vier Jahreszeiten am Himmel, begann der Kaiser an, laut zu seufzen. Er bedauerte, daß all dies nicht zu seinem Herrschaftsbereich, zu seinem Reich gehörte.

Überrascht von diesem plumpen Wunsch, lächelte der Maler nicht, sondern klatschte dreimal in die Hände. Und siehe da: dort auf dem Bild, am Fuß der Mauer, öffnet sich eine kleine Tür. Schaut genau auf den unteren Bildrand: dort führt ein Weg in die Tiefe hinein.

Der Maler sagt höflich: "Erlaubt mir, voranzugehen."

Und er geht voran, durchschreitet die Tür, betritt den Weg, dringt weiter vor und steigt empor, wie vom Wind getragen....

Er wird kleiner, und dann zu einem Punkt. Er verwandelt sich in einen Geist und verschwindet.

Sofort will ihm der Kaiser folgen und auch die Tür durchschreiten ... der Weg ist versperrt, ausgelöscht. Das ganze Bild und all die anderen, die entrollt waren, sind verschwunden. Die Wand ist wieder grau, gemauert aus Ziegeln und Schutt.

Nur der Maler und die, die sich auf das richtige Sehen verstehen, haben Zugang zu diesem magischen Raum.

* * *



Victor Segalen (1878-1919; auch im Französischen wird der Nachname zumeist ohne den ihm nach Taufurkunde zustehenden accent aigu auf dem ersten e geschreiben) ist in diesem Netztagebuch kein Unbekannter: vor zwei Jahren, im Mai 2019, war ihm an dieser Stelle bereits aus Anlaß seines 100. Todestages ein Posting gewidmet. Der dort referierte Inhalt seines zweiten Romans, René Leys, 1922 aus dem Nachlaß erschienen, könnte dem Verdacht nahelegen, daß Segalen, der das Buch während seines zweiten Chinaaufenthaltes 1913 in Beiing schrieb, nähere Kenntnis von den Betrügereien und Erfindungen von Edward Backhouse gehört hatte, über dessen "kreative" Berichterstattung über die Vorgänge am Kaiserhof hinter den Mauern der Verbotenen Stadt hier im Beitrag über Pearl S. Buck nachgelesen werden kann. Segalens Protagonist erfindet wie Backhouse nicht nur seiner Kontakte zum Kaiserhof und die Abenteuer und Intrigen, die die er verwickelt ist, aus reiner Imponiersucht, sondern auch seine vorgeblich intimen Beziehungen zur "Kaiserinwitwe" Cixi. Das letzte findet sich nun nicht in Backhouses 1910 erschienenem "Bericht," sondern nur im Manuskript seiner vorgeblichen "Memoiren," die erst, wie beschrieben, 2011 als "literarisches Kuriosum" veröffentlicht worden sind. Aber natürlich ist es durchaus möglich, daß Backhouse, ein Aufschneider und Exzentriker und nicht zuletzt homosexueller Abenteurer, in Beijing bei Landsleuten, die neu in China waren, mit Münchhausiaden Eindruck erwecken wollte und daß es entsprechende Gerüchte um ihn gab.

1916 erschien in Paris im Verlag im Verlag Georges Crè et Cie ein kleiner Band mit merkwürdigen Prosaminiaturen, "Peintures," aus der Feder von Segalen: ein Nachfolger aus dem Geist der dort zwei Jahre zuvor erschienenen "Stèles" (der Erstdruck war 1912 in Beiing als Privatdruck erschienen). In den "Stelen" gibt Segalen Original und Übersetzung chinesischer Säuleninschriften und Grabschriften, um so eine phantasmagorisch, impressionistisch schillernde Beschwörung eines versunkenen China mit größtmöglicher Exotik zu erzielen (sein dritten Roman, Le fils de ciel, erst 1975 aus dem Nachlaß gedruckt, verwendet die gleiche Technik anhand der skizzenhaften Schilderung des "letzten wirklichen" Kaisers, des Guangxu-Kaisers).

"Peintures" schildert, ebenso impressionistisch, mehrere Dutzend imaginärer chinesischer Tuschgemälde, um dort Facetten von Tradition, Brauchtum, aber Sagenwelt und Folklore aufblitzen zu lassen. Der Effekt gleicht durchaus den Prosagedichten Baudelaires im "Spleen des Paris," allerdings durch die exotische Kulisse und den Mangel an Bezugnahmen auf bekannte Legenden, Orte und Gestalten noch ins Traumhaft-Irrealere gesteigert. Die "Ronde des immortels" rahmt als erster und letzter Eintrag die erste Sektion der 17 "Peintures magiques" ein.

Segalen hat die Legende vom "Maler, der im Bild verschwindet," dem Buch The Flight of the Dragon: An Eessay on the Theory and Practice of Art in China and Japan von 1911 entnommen, das ein Jahr später als Le vol du dragon ins Französische übersetzt worden war.



U.E.

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